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Ein Reich errichten

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Wer sollte die Stadt regieren? Das galt es am Tag nach der Eroberung von Jerusalem zu entscheiden. Die Edelleute, die einen möglichen Angriff der Fatimiden fürchteten, entschieden sich für Gottfried von Bouillon, zumal Hugo von Vermandois und ebenso Stephan von Chartres und Blois das Heer noch während der Belagerung von Antiochia verlassen hatten. Bohemund war weit weg, Robert von Flandern und Robert von der Normandie trugen sich mit der Absicht, in die Heimat zurückzukehren, und Tankred fehlte es schlicht an Autorität, um als glaubwürdiger Kandidat zu gelten. Der Einzige, der es mit Gottfried aufnehmen konnte, war Raimund von Saint-Gilles. Anscheinend lehnte dieser jedoch ab – aus Demut vor Christus, dem einzigen rechtmäßigen Herrscher über die Heilige Stadt. Erst jetzt trat Gottfried vor und übernahm am 22. Juli 1099 unter dem Titel advocatus sancti sepulcri als Vogt und Verteidiger des Heiligen Grabes die Macht. Ein offizieller Titel war dies wohl nicht, und in jedem Fall trug er nicht den Königstitel. In streng juristischem Sinn war Vogt die Bezeichnung für einen Laien, dem die Wahrung eines kirchlichen Besitzes oblag, den er mit Waffen verteidigen würde. Der Gedanke, dass niemand »eine goldene Krone tragen kann, wo Christus mit Dornen gekrönt wurde«, war mit Sicherheit im kirchlichen Kontext entstanden, und allein schon der Titel advocatus zeugt davon, dass der lateinische Klerus das neue christliche Fürstentum als unter der Oberhoheit der Nachfolger Petri stehend betrachtete. Außerdem war es gängige Praxis, neu getätigte Eroberungen unter das Lehnsrecht der Kirche zu stellen, um sie dann als deren Vasall zurückzuerhalten, wodurch sich ein rechtsgültiger Herrschaftsanspruch schaffen ließ. So war Roger von Hauteville auf Sizilien verfahren, Wilhelm der Eroberer in England, die christlichen Könige Spaniens mit den Gebieten, die sie den Mauren abgerungen hatten. Während jedoch in England und Süditalien auf diese Weise solide zentralisierte Königreiche entstanden, weil der normannische Adel im Umfeld des jeweiligen Herrschers aus barones minores bestand, war in Jerusalem das Gegenteil der Fall: Die Anführer der Expedition, darunter viele Herren von einigem Rang, wollten möglichst frei sein von Verpflichtungen gegenüber einem Souverän.


Die christlichen Ritter Friedrichs II. ziehen unter den Augen von Jesus Christus in Jerusalem ein. Miniatur aus dem 14. Jh., aus der Descriptio terrae sanctae des Burchardus de Monte Sion, Padua, Biblioteca del Seminario Vescovile.


Einnahme von Jerusalem, 1099, Miniatur aus einem Manuskript des 13. Jhs. der Historia des Wilhelm von Tyrus (12. Jh.). Prominent dargestellt sind die Glasfenster der Kirche, die Episoden aus dem Leben Christi zeigen.

Die Wahl des Titels spricht somit für sich. Im Gegensatz zu den epischromanhaften Zügen der Legende, auf die auch Torquato Tasso sich beruft, war der »fromme Bouillon« niemals das absolute und unangefochtene Oberhaupt der Kreuzfahrer. Der iter hierosolymitanum hat nie ein Oberhaupt gekannt. Der einzige, der unter ihnen eine allgemein anerkannte Autorität genoss, war der vorzeitig verstorbene päpstliche Legat Adhémar gewesen. Und wenn einer Herrscherattitüden gezeigt hatte, war es nicht Gottfried, sondern Raimund von Saint-Gilles. Brüskiert durch die Ernennung des Lothringers, verbarrikadierte er sich im Davidsturm, der Zitadelle der Stadt, die bald zur Residenz der Könige von Jerusalem werden sollte, musste sich aber rasch eines Besseren besinnen. Da er alle Reichtümer und Hoffnungen in das Unternehmen gesetzt hatte, waren für den provenzalischen Fürsten die Brücken zu Europa abgebrochen. In entscheidenden Momenten hatte er sich gar mit messianischer Geste als Verteidiger der pauperes stilisiert. Vielleicht war es gerade seine starke Persönlichkeit, sein unbeugsamer und gewalttätiger Charakter, der dazu führte, dass ein Mann von seinem Prestige abgelehnt wurde; wahrscheinlich fürchtete man auch seine engen Beziehungen zum Kaiser von Byzanz, mit dem er den Hass auf die Normannen teilte. Ihm vorgezogen wurde ein ausgebrannter, bereits schwer kranker Mann, den die Quellen – mit Ausnahme des Lothringers Albert von Aachen, der das verklärende Gottfriedbild entscheidend geprägt hat – als guten Soldaten, aber schwachen und unentschlossenen Fürsten beschreiben. Man stellte ihm am 1. August einen Prälaten normannischer Herkunft an die Seite, Arnulf von Chocques, Kaplan Roberts von der Normandie. In Erwartung der päpstlichen Bestätigung ernannte man den Kaplan zum lateinischen Patriarchen von Jerusalem. Die Bestätigung blieb jedoch aus, was das Feld freigab für Dagobert, den Erzbischof von Pisa und Vertrauten Urbans II., der gegen Ende des Jahres im Heiligen Land eintraf. Dieser bestätigte Gottfrieds Rechte in Jerusalem und die von Bohemund in Antiochia. Eine schwerwiegende, bedeutsame Geste: Die lateinische Kirche erklärte sich nicht nur zur Herrscherin über die Heilige Stadt, sondern beanspruchte auch Antiochia für sich. Das war ein heftiger Affront gegen den Basileus, der Bohemund als Usurpator und Rebellen betrachtete – ein weiterer Schritt auf dem Weg zu Unverständnis und Schisma. Während Raimund nun versuchte, die Stadt Tripolis als Lehen zu erobern, organisierte Gottfried gemäß den Befugnissen, die ihm der Titel des advocatus verlieh, die militärische Verteidigung des Heiligen Grabes und überließ es faktisch dem Patriarchen, die Stadt zu regieren. Doch als Gottfried am 18. Juli 1100 starb, waren seine Anhänger unmöglich daran zu hindern, seinen Bruder Balduin als seinen Nachfolger zu fordern.


Federico de Madrazo y Kuntz, Gottfried von Bouillon wird zum König von Jerusalem ernannt, 1838, Schloss Versailles, Salles des Croisades.

Sicher war es notwendig, die Eroberungen in ein stabiles System einzubetten, das gewährleisten würde, die lateinische Präsenz im Heiligen Land aufrechtzuerhalten. Die »Franken« hatten ein großes Gebiet in Nordsyrien, südöstlich des Antitaurusgebirges und rings um das obere Euphratbecken sowie den schmalen syrisch-libanesischen Küstenstreifen erobert, obgleich viele Städte in sarazenischer Hand blieben und das Jordanbecken zu sichern suchten. Den Norden besetzten zwei unabhängige Herrschaften: die von Balduin von Boulogne gegründete Grafschaft Edessa und das Fürstentum Antiochia, das fest in der Hand von Bohemund war. Hier berief man umgehend einen lateinischen Patriarchen, Bernhard von Valence, der anstelle des griechischen Patriarchen Johannes Oxites ernannt wurde und damit den ersten Sitz Petri einnahm. Sowohl Balduin als auch Bohemund beeilten sich, ihre Besitztümer zu sichern, schließlich waren sie dafür nach Outremer gekommen. Weiter südlich bildete die Grafschaft von Tripolis, das Raimund von Saint-Gilles ab 1103 belagerte, aber erst sein Sohn Bertrand 1109 einnehmen konnte, die Brücke zu dem, was das Herz des christlichen Heiligen Landes werden sollte: das Königreich Jerusalem.


Merry-Joseph Blondel, Balduin I. von Jerusalem, 1844, Schloss Versailles, Salles des Croisades.

Nicht überraschend also, dass Balduin ohne Zögern akzeptierte, als ihm das Amt seines Bruders angeboten wurde. Die Grafschaft Edessa hinterließ er seinem Vetter Balduin von Bourcq und eilte mit einer kleineren Streitmacht, einem exercitulum, in die Heilige Stadt, wo es ihm gelang, den schwachen Widerstand des Patriarchen Dagobert zu brechen, der die Stadt gerne kirchlicher Rechtsprechung unterworfen gesehen hätte.

In der Weihnachtsnacht des Jahres 1100 wurde Balduin, gleichsam wie ein neuer Karl der Große, unter »Akklamation des Klerus, der Fürsten und des Volkes« in der Geburtskirche zu Betlehem gesalbt. In dem Bewusstsein, dass er die Grundlagen für das Herrschaftsgebilde erst legen musste, das er regieren sollte, wollte der neue Herrscher zur Neubelebung der Wirtschaft die Eroberung der syrisch-palästinensischen Küste zu Ende bringen und die Sicherheit entlang der Pilger- und Karawanenstraßen wiederherstellen. Gefördert wurde das Vorhaben durch eine Reihe von Expeditionen, die hauptsächlich von Genuesen durchgeführt wurden. Der neue Papst Paschalis II. hatte sie schon vor Balduins Krönung in das Unternehmen einbezogen. Am 1. August 1100 legte eine Flotte von 26 Galeeren und vier (oder sechs) weiteren Schiffen aus Genua ab, angeführt unter anderem von Guglielmo Embriaco. Mit an Bord war auch der päpstliche Legat Kardinalbischof Moritz von Porto. Die Neuankömmlinge, die im September in Laodicea an Land gingen, wurden zunächst einmal über den Tod Gottfrieds und die Gefangenschaft Bohemunds informiert, der einen Monat vorher auf der Straße nach Melitene in einen Hinterhalt der Danischmendiden geraten war. Mit Balduin vereinbarten die Genuesen, im folgenden Sommer eine Expedition entlang der Küste durchzuführen.

Im März 1101 nahm die Flotte von Laodicea Kurs auf Jaffa. Bei Haifa wurden die Genuesen von einem Sturm überrascht und mussten ihre Galeeren an Land ziehen. In der Nacht gelang es einem Verbund aus vierzig ägyptischen Schiffen, die aus Askalon kamen und auf dem Weg zum Hafen von Akkon waren, ungestört an ihnen vorbeizuziehen, wobei ein ungeschickter Verfolgungsversuch von einem weiteren Unwetter vereitelt wurde. Man fasste nun den Entschluss, nach Jaffa weiterzusegeln, denn die heilige Osterwoche stand kurz bevor. In Sichtweite des Hafens nahmen zwei saettì, kleine, wendige Segler, die genuesischen Galeeren in Empfang. Auf einem von ihnen befand sich Balduin, der die Neuankömmlinge nach Jerusalem geleitete, wo sie gerade rechtzeitig eintrafen, um am Karsamstag am bekannten »Feuerwunder« in der Grabeskirche teilzunehmen. Von vielen Chronisten geschildert, ist das Ereignis – in Wahrheit ein Ritus äthiopisch-koptischen Ursprungs, der im geheimnisvollen Entzünden des neuen, österlichen Feuers bestand – bezeichnend für das Klima religiöser Gärung zur Zeit der Eroberung Jerusalems. Nach den Osterfeierlichkeiten und nach Absolvierung der Bußriten im Jordan kehrten die genuesischen Seeleute nach Jaffa zurück. Balduin versprachen sie, ihm bei der Belagerung von Arsuf zu helfen, die Anfang Mai innerhalb von nur drei Tagen mit Erfolg gekrönt wurde. Wenig später zog man gegen Cäsarea, mit dessen Fall am 17. desselben Monats die gesamte syrisch-palästinensische Küste von Haifa bis Jaffa unter der Kontrolle des neu entstandenen lateinischen Königreichs Jerusalem stand. Dies erwies sich als entscheidender Faktor, um die »fränkische« Vorherrschaft in der Region zu festigen, die Versorgung sicherzustellen und die eroberten Gebiete besser verteidigen zu können. Im Februar 1102 brach eine weitere genuesische Flotte, bestehend aus acht Galeeren, acht Golabi – kleineren Kriegs- und Transportschiffen – und einem großen Segler, mit Rittern und Pilgern an Bord ins Heilige Land auf. Gemäß dem Ansinnen von Raimund von Saint-Gilles wurde die Stadt Tortosa kurz darauf erobert.

Eine weitere, noch beeindruckendere Expedition – bestehend aus vierzig oder sechzig Galeeren – lief gegen Ende 1103 Laodicea an und blieb den Winter über dort. Im darauffolgenden Frühling segelten die Genuesen entlang der Küste nach Süden. Das geschah möglicherweise in der Absicht, in Jaffa anzulegen und nach Jerusalem zu reisen, um dort an den Riten der Karwoche teilzunehmen. Nahe Tripolis verständigten sie sich mit Raimund von Saint-Gilles darauf, die zwischen Tripolis und Beirut gelegene Küstenstadt Jebail (Gibelet) anzugreifen, die zwischen März und April fiel. Die Flotte segelte in südlicher Richtung weiter und traf am 5. oder 6. Mai in Akkon ein. Die Belagerung der Stadt begann: Sie wurde von Land- und Meerseite her eingeschlossen, sodass keine Hilfe von außen mehr durchdringen konnte. Die Kapitulation erfolgte nach etwa zwanzig Tagen, anscheinend ohne Blut zu vergießen. Darauf verzichtete man auf direktes Geheiß von Balduin, der mit einer leeren Stadt in Trümmern nichts habe anfangen können. Der Chronist Albert von Aachen berichtet jedoch, dass Genuesen und Pisaner, als sie sahen, wie die Bewohner der Stadt mit ihrer kostbaren Habe die Flucht ergriffen, von ihrer Gier verblendet ein Blutbad unter den Unglückseligen anrichteten. Was auch immer tatsächlich geschah: Balduin selbst war es, der den kriegerischen Heldenmut der Genuesen in feierlichen Tönen pries und ihnen äußerst umfangreiche Privilegien zugestand. Der Text dieser Urkunde wurde offenbar an keinem geringeren Ort als im Inneren der Rotunde des Heiligen Grabes in Stein gemeißelt, wo er zusammen mit der Inschrift praepotens Genuensium praesidium dem von den Genuesen geleisteten Beistand ein Denkmal setzte. Damit war der lange Kreuzzug der Genuesen jedoch längst nicht beendet. Eine neue große Expedition sollte 1109 zur erfolgreichen Eroberung von Tripolis beitragen. Wenig später kämpften die ligurischen Seeleute an der Seite von Tankred um die Einnahme von Gabala, das eine wichtige Verbindung zwischen dem Fürstentum Antiochia und der Herrschaft von Tripolis darstellte. Im Februar 1110 wiederum begann die Belagerung des byzantinischen Mamistra, nördlich von Alexandretta, das innerhalb weniger Monate fiel. Kurz zuvor, 1107/08, war der von Bohemund, der in der Zwischenzeit nach Europa zurückgekehrt war, lancierte Feldzug gegen Epirus vor den Mauern von Durrës kläglich gescheitert. Zur gleichen Zeit fielen Beirut und Sidon in die Hände der Lothringer, die dabei Unterstützung von einer norwegischen Flotte erhielten, die unter dem Kommando von König Sigurd Magnusson stand. Der König, hinfort mit Beinamen »Jórsalafari«, Jerusalemfahrer, genannt, wurde in unzähligen Sagen verewigt.

Wie steht es aber um die Legitimität solcher Eroberungen? Bevor wir fortfahren, bedarf es einer kurzen »institutionellen« Vorbemerkung. Das »fränkische Königreich Jerusalem« ist die erste Feudalmonarchie des Mittelalters, die keine übergeordneten Rechte anerkannte, von denen sie ihre eigene Legitimität im Namen einer universalistischen Autorität ableitete. Bis dahin wurden die Könige im Westen auf die eine oder andere Weise durch den Kaiser oder den Papst legitimiert. Für eine Versammlung von Adligen war es grundsätzlich undenkbar, einen König zu wählen (und ein Königreich zu gründen) ohne eine solche Legitimation. Doch hatten die fürstlichen Kreuzfahrer (der Markgraf der Provence, der Herzog der Normandie, der Graf von Flandern) nun einmal trotz ihres hohen Einflusses keine universalistische Autorität zur Hand, die ihre Entscheidungen legitimiert hätte. Bereits auf dem Weg ins Heilige Land hatten sie sich an Urban II. gewandt, doch der Papst verspürte nicht die geringste Lust, in einen Konflikt mit dem byzantinischen Basileus verwickelt zu werden. Schließlich war er gerade damit beschäftigt, das Schisma zu heilen, zu dem es 1054 zwischen der lateinischen und der griechischen Kirche gekommen war. Sie konnten sich natürlich an den Herrscher in Konstantinopel wenden: Sein Rechtsanspruch auf die nahöstlichen Gebiete, die dem Kaiserreich im 7. Jahrhundert durch den aufkommenden Islam entrissen worden waren, hätte ihn zweifellos dazu prädestiniert und er hätte sich auch bereit erklärt, den Neuankömmlingen mit seiner Autorität den Rücken zu stärken – allerdings um den Preis ihrer Unterwerfung, gerade die zu akzeptieren sie nicht bereit waren. An den römisch-deutschen Kaiser Heinrich IV., der inzwischen der Partei der Kirchenreformer und ihrer Anhänger unterlegen war, war nicht zu denken. Aus diesen Gründen wurde die neue Krone von Jerusalem ohne Zustimmung einer universalistischen Macht geboren. Jerusalem war das erste Königreich superiorem non recognoscens und eilte damit dem Königreich Frankreich, das sich erst mit Philipp IV. als solches proklamieren würde, zwei Jahrhunderte voraus.

Da haben wir unser Paradox: Das erste »weltliche« und »moderne« Königreich des Westens entstand gewaltsam durch eine für heilig erachtete Unternehmung wie den ersten Kreuzzug.

Die große Geschichte der Kreuzzüge

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