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»Denn wir, die wir Abendländer waren, sind nun Orientalen geworden«
ОглавлениеDie neu entstandenen Staatsgebilde in Outremer sahen sich in der gesamten Zeit ihres Bestehens mit dem Problem ihrer Verteidigung konfrontiert. Wer sich das Gebiet des neuen Königreichs und seiner Vasallenfürstentümer auf einer Landkarte als einen Streifen vorstellt, der sich vom Gebiet südlich des Golfs von Alexandretta bis zum Toten Meer erstreckt, begeht einen schwerwiegenden Fehler. Denn man hat sich die Sache nicht wie einen Streifen, sondern eher wie eine Art Spinnennetz vorzustellen. Die eroberten Städte waren nichts weiter als lateinisch-christliche Inseln in einer Umgebung, die im Süden zutiefst islamisiert und im armenischen Norden gräzisiert war. Das weite Land zwischen diesen Städten war die Domäne sarazenischer Räuberbanden und die Straße, die vom Hafen von Jaffa in die Heilige Stadt führte, war für Reisende äußerst gefährlich. Kaum hatte man die Stadtmauern der eroberten Städte hinter sich gelassen, fiel man der Anarchie anheim, war man im Niemandsland. Wie also ließ sich das eroberte Territorium verteidigen? Die Zahl der im Heiligen Land zurückgebliebenen fränkischen Ritter war gering und der einheimischen Bevölkerung konnte man nicht trauen. Den frisch eingetroffenen Kreuzfahrern erschienen die franko-syrischen Herren, die sich auf orientalische Art kleideten und gaben, die die arabische Sprache beherrschten, die sich ihrer Freundschaften mit Emiren und sarazenischen Kaufleuten rühmten und sich oft mit einheimischen Familien verschwägerten, bei wiederholten Gelegenheiten als eine korrupte Spezies, wenn nicht gar als Verräter am Christentum. Fulcher von Chartres hat diesen Eindruck in einer berühmten Stelle zum Ausdruck gebracht:
Ritter des Johanniterordens, später bekannt als Malteserritter; gegenüber: Tempelritter; folgende Seite: Ritter des Deutschen Ordens und des Schwertbrüderordens.
Denn wir, die wir Abendländer waren, sind nun Orientalen geworden. Einer, der Römer oder ein Franke war, wurde in diesem Land zu einem Galiläer oder Palästinenser. Einer, der aus Reims oder Chartres stammte, ist nun ein Bürger von Tyros oder Antiochia geworden. Wir haben unseren Geburtsort bereits vergessen; schon kennen ihn viele von uns nicht mehr oder er wird nicht mehr erwähnt.
Einige besitzen bereits ein Heim oder einen Hausstand aufgrund einer Erbschaft. Einige haben Frauen nicht nur aus ihrem eigenen Volk genommen, sondern Syrerinnen oder Armenierinnen oder gar Sarazeninnen, welche das Sakrament der Taufe empfangen haben. Bei dem einen lebt nicht nur sein Schwiegervater, sondern auch die Schwiegertochter oder sein eigen Fleisch und Blut, wenn nicht gar sein Stiefsohn oder Stiefvater. Hieraus leiten sich Enkel und Urenkel ab. Die einen kultivieren Weinberge, andere bestellen Felder.
Die Leute gebrauchen die Wortwahl und Ausdrucksweise verschiedener Sprachen, wenn sie sich über dies und jenes unterhalten. Worte unterschiedlicher Sprachen sind Gemeingut geworden, das jeder Volkszugehörigkeit geläufig ist, und gegenseitiges Vertrauen vereint jene, denen ihre Herkunft nicht bekannt ist. Es steht in der Tat geschrieben: »Der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind« (Jes 65,25). Wer als ein Fremder geboren wurde, gleicht nun einem hier Geborenen; wer als Ausländer auf die Welt kam, ist zu einem Einheimischen geworden.
Unsere Verwandten und Eltern opfern gemeinsam mit uns von Zeit zu Zeit, wenn auch zögernd, alles auf, was sie einst besaßen. Jene, die im Abendland arm waren, macht Gott in diesem Lande reich. Jene, die dort wenig Geld hatten, nennen hier unzählige Bézants [byzantinische Goldmünzen] ihr eigen, und jene, die kein stattliches Eigenheim hatten, besitzen hier durch das Geschenk Gottes eine ganze Stadt. Warum also sollte einer ins Abendland zurückkehren, der einen Orient wie diesen vorgefunden hat?
Es scheint, dass Balduin von Beginn an offen im Umgang mit den Einheimischen war. Er gestand den Muslimen freie Ausübung ihrer Religion zu, heiratete eine armenisch-christliche Prinzessin und ermutigte seine Vasallen, dasselbe zu tun. Eine Politik der Toleranz, nicht frei von gewaltsamen Auseinandersetzungen, die aber doch viele Muslime veranlasste, sich wieder in jenen Städten niederzulassen, die als Anlaufstationen der Karawanenrouten dienten, die über Syrien und Mesopotamien Waren aus dem Orient ans Mittelmeer brachten. Kurz, man fand ein Gleichgewicht, eine Form der Koexistenz, vergleichbar mit anachronistischen Formen der Apartheid. Zwischen den vielen ethnischen Gruppen im Heiligen Land entwickelte sich eine Beziehung der gegenseitigen Akkulturation.
Je mehr sich jedoch die Beziehungen zwischen Franken und Muslimen auf politischer Ebene stabilisierten, desto notwendiger wurde es, über wirksame militärische Kräfte und eine gute Kenntnis der Umgebung, in der sie operieren sollten, zu verfügen. Die italienischen Siedler waren zwar durchaus an den Gebrauch von Waffen gewöhnt, aber sie führten ein von der Feudalmacht unabhängiges Leben, stets darum bemüht, ihre Handelsfreiheit zu wahren. Vor allem zu Ostern, wenn die Schifffahrts- und Handelssaison im Frühjahr begann, kamen Pilgergruppen ins Heilige Land, von denen ein Teil an den Militärexpeditionen der jeweiligen Saison teilnahm, doch beinahe umgehend mit der Palme von Jericho als Erinnerung des eingelösten Gelübdes wieder abreiste. Die muslimische Welt hatte sich ihrerseits von der ersten Überraschung erholt und, die atavistischen inneren Konflikte hinter sich lassend, begonnen, sich neu zu organisieren. Als Reaktion darauf geschah etwas, das als neue Erfahrung innerhalb der mittelalterlichen Religiosität bezeichnet wurde: die Gründung von Ritterorden, die sich eine monastische Regel gaben. Die wichtigsten von ihnen waren die Templer und die Johanniter – später folgten die Deutschordensritter und viele andere –, die mit ihrer ursprünglichen Berufung im medizinisch-karitativen Bereich eine militärisch-defensive verbanden. Die Tempelritter waren milites, die sich zur Verteidigung der Pilgerwege verpflichteten, die Ritter vom Johanniterorden fratres, die sich vor allem der Pflege der Kranken widmeten.