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Die Rolle der Seestädte
ОглавлениеZwischen den Regierungszeiten von Balduin I. (1100–1118) und Balduin IV. (1174–1185) nahmen die »franko-syrischen« Fürstentümer – die Grafschaft Edessa, die allerdings 1146 fiel, das Fürstentum Antiochia, das 1108 von Bohemund an Tankred abgetreten wurde, und die Grafschaft Tripolis, die sich in den Händen der Provenzalen befand – die Form großer Signorien an, die formal der Krone von Jerusalem unterstanden. In Antiochia war allerdings der Einfluss des Kaisers von Konstantinopel merklich spürbar, der die Stadt nie aufgegeben hatte und ihre Aneignung durch Bohemund als Usurpation betrachtete. Natürlich hatte jeder Fürst seine eigenen Vasallen, und die des Königs – insbesondere die Feudalherren in Transjordanien – waren besonders kampflustig und schwer zu kontrollieren. Auf dynastischer Ebene kam es innerhalb dieser Herrschaftsgebilde zu häufigen Wechseln – so etwa im Fürstentum Antiochia, das seit 1136 in den Händen von Raimund von Poitiers lag, nachdem die männliche Linie der Hautevilles erloschen war. Balduin I. heiratete dreimal, konnte sich aber keine Nachkommenschaft sichern. Nach seinem Tod am 2. April 1118 wurde sein Vetter Balduin von Bourcq zu seinem Nachfolger bestimmt, den man eigens aus Edessa herbeirief. Er konnte jedoch erst nach dem Tod seines Widersachers, des betagten Patriarchen Arnulf von Chocques, 1119 gekrönt werden, weil es diesem gelungen war, das ihm von Dagobert von Pisa entrissene Amt zurückzuerobern. Es herrschte auch kein Mangel an sozialen Problemen. Von denen, die das Kreuz genommen hatten, waren nur wenige nach der Eroberung Jerusalems im Heiligen Land geblieben. Die meisten von ihnen kehrten nach Europa zurück, nachdem sie ihr Gelübde am Grabfelsen eingelöst hatten. Die »fränkische« Minderheit sah sich mit einem feindlichen Land konfrontiert. Darüber hinaus hatten die wahllosen Massaker, die an den Einwohnern in den frühen Phasen der Eroberungen verübt worden waren, das wirtschaftliche Leben in den reichen Küstenstädten wie Akkon, Tyros, Tripolis, Beirut und Sidon beeinträchtigt, deren Wohlstand gerade auf der Arbeit tüchtiger Händler und Handwerker beruhte. Wohl gab es noch die einheimischen Christen: Libanesen, Syrer, im Norden auch Griechen und Armenier. Aber sie wurden von den neuen Herren oft mit Misstrauen betrachtet, da sie ihnen als Ketzer galten und den Sarazenen allzu ähnlich erschienen. Außerdem büßten auch die eigenen Aktivitäten der Kreuzfahrer an Wirtschaftlichkeit ein, wenn sie von den großen Märkten in der Region wie Aleppo, Damaskus und Mossul abgeschnitten waren. Besser sah es auf dem Land aus, wo die Bauern, zumeist Muslime, nicht unter den Massakern zu leiden gehabt hatten, die innerhalb der Mauern der eroberten Städte stattgefunden hatten, und wo die neuen »fränkischen« domini sich beeilten, die Produktionsprozesse zumindest auf niedrigem Niveau wieder in Gang zu bringen.
Édouard Alexandre Odier, Balduin II., König von Jerusalem, um 1843, Schloss Versailles, Salles des Croisades.
Einen wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung leisteten die italienischen Seestädte. Nachdem sie sich von den politischen Strukturen der nachkarolingischen Zeit befreit hatten, nutzten sie jede Gelegenheit, um ihre Selbstverwaltung auszubauen und das Netz ihrer wirtschaftlichen Interessen zu erweitern. Die Stadteliten bemühten sich um Privilegien, Steuerbefreiungen, Handelsniederlassungen oder ganze Quartiere in den wichtigsten Küstenhäfen und sorgten so für eine engmaschige Präsenz in diesen Gebieten. Die innere Ordnung der neuen Staatengebilde in der Levante sollte das tiefgreifend beeinflussen. Außerdem erkannten die Barone in Outremer schnell, dass sie, um den Kontakt zu Europa nicht zu verlieren und den Handel in der Region wiederzubeleben, die Schiffe der Lateiner in den Osten rufen mussten. Zunutze machten sich dies vor allem Genuesen und Pisaner. Venedig dagegen blieb lange Zeit misstrauisch gegenüber der neuen Situation, die ihr eigenes Monopol auf den Osthandel bedrohte und bei ihrem wichtigen Verbündeten, dem Hof von Byzanz, zunehmend auf Ablehnung stieß. 1082 hatte Alexios Komnenos ihnen einen kaiserlichen Chrysobullos (bulla aurea, eine Urkunde mit goldenem Siegel) gewährt als Belohnung für die Byzanz gewährte Unterstützung während der Offensive von Robert Guiscard in Epirus. Damit besaßen die Venezianer die Erlaubnis, im gesamten Kaiserreich zollfrei Handel zu treiben und in der Hauptstadt und anderen Städten florierende Kolonien mit eigenen Handelsniederlassungen zu unterhalten. Darüber hinaus liefen die venezianischen Kaufleute häufig auch Städte wie Antiochia, Laodicea und Alexandria an, weshalb ihre Befürchtung groß gewesen sein muss, dass das Kreuzfahrtsunternehmen eine Belastung für die bewährten Verkehrswege bedeuten könnte. Da die Eroberung aber nun einmal unumkehrbar war, lohnte es sich, daran teilzunehmen. Ohne aus den Augen zu verlieren, dass Byzanz das Zentrum ihrer Handelsaktivitäten war und blieb, und ohne die Beziehungen zu den ägyptischen Märkten zu vernachlässigen, kamen auch die Venezianer ins Heilige Land, und zwar mit der Absicht zu bleiben. Nach einem Appell von König Balduin II., dem sich Papst Calixt II. anschloss, stach Venedig 1122 mit 120 Schiffen und einer Gesamtbesatzung von etwa 15 000 Mann unter dem Kommando des Dogen Domenico Michiel höchstselbst in See. Im folgenden Jahr besiegte die Flotte einen Schiffsverband der Fatimiden und nahm anschließend an der Belagerung von Tyros teil, einem der wichtigsten Häfen an der syrisch-palästinensischen Küste. Noch vor der Eroberung der Stadt, die am 7. Juli 1124 fiel, schlossen die Venezianer einen Pakt mit Garmond, dem Patriarchen von Jerusalem, den sogenannten pactum Warmundi, der ihnen weitreichende Privilegien einräumte.
Im Vorgehen der italienischen Seefahrer gilt es zwei Aspekte zu unterscheiden. Erstens war das Angreifen und Erobern muslimischer Städte in ihren Augen ein gutes Geschäft, bot Gelegenheit zu rücksichtslosem Plündern und Morden und ließ sie mit Beute und gar Reliquien zurückkehren. Zweitens konnte man den fränkischen Feudalherren Handelsprivilegien abringen, die späterhin geltend gemacht werden konnten, als man die Lage mit größerer Klarsicht für die eigenen Zwecke zu nutzen begann. Erst dann wurden echte Handelskolonien gegründet, kleine Siedlungen innerhalb der wirtschaftlich bedeutendsten Städte, die speziellen Regeln unterlagen. Im Allgemeinen sahen die ihnen eingeräumten Zugeständnisse die Nutzung eines Quartiers oder zumindest einer Straße und eines Platzes samt aller notwendigen Strukturen für ein unabhängiges Gemeinschaftsleben vor: Kirche, Brunnen, Bäcker, Geschäfte, Handelshäuser, Säulengänge und Wohnhäuser. In den wichtigsten Städten entlang der Küste entstanden so jeweils ein kleines Genua, ein kleines Pisa und ein kleines Venedig, verwaltet von eigenen Magistraten (consoli oder baiuli), die aus dem Mutterland entsandt oder von den Kolonisten selbst ausgewählt wurden. Aus den ursprünglichen Herbergen für durchreisende Händler waren rasch organisierte Viertel geworden, die groß genug waren, eine vielköpfige Einwohnerschaft aufzunehmen. Die Wohnhäuser, Geschäfte und Lager reihten sich entlang einer Hauptstraße, die ruga genannt wurde und bisweilen von einem Portikus gesäumt war. Von ihr zweigten einige kleinere Gassen ab, die zu den Handelsniederlassungen am Hafen führten, die als Zollhäuser, Lager oder auch zur vorübergehenden Unterbringung dienten. In den größeren Ansiedlungen, die in der Regel von befestigten Mauern und Toren umgeben waren, mündete die ruga in einen Platz, an dem die öffentlichen Gebäude standen: der Kommunalpalast als Sitz für Zivil- und Justizverwaltung, die einem Schutzpatron geweihte Kirche, seltener eine Münze. In den nahen Gassen pulsierte das geschäftige Treiben des bürgerlichen Lebens: Handwerker, Bankiers, Kleriker, Bauern, Gemüsehändler, Metzger, Seemänner, Kaufleute, Notare, Schankwirte, Weberinnen, Mägde … Die italienische Präsenz war zweifellos eine raumgreifende, weshalb sich die lokalen Behörden immer wieder zu Maßnahmen gezwungen sahen, die ihre wachsende Autonomie eindämmten. Dennoch war der Beitrag dieser Enklaven lateinischer Kaufleute zur Entwicklung der christlichen Gebiete in Übersee, zur Erneuerung der Beziehungen zum asiatischen Hinterland und für den wirtschaftlichen Aufschwung des Westens enorm. Enorm waren auch die Unannehmlichkeiten, bedenkt man die Kämpfe zwischen den einzelnen Gemeinschaften im Verlauf des 13. Jahrhunderts. Die ständige Anwesenheit großer Gruppen von Kaufleuten erwies sich angesichts ihrer Neigung, separate Vereinbarungen mit den muslimischen Machthabern zu treffen, in Kriegszeiten als tückisch. Nicht vergessen darf man außerdem, dass es christliche Kaufleute waren, die trotz wiederholter päpstlicher Verbote die Sarazenen mit kriegswichtigen Gütern wie Holz, Pech, Eisen und Waffen versorgten.