Читать книгу Die große Geschichte der Kreuzzüge - Franco Cardini - Страница 26
Die Einnahme der Heiligen Stadt, 15. Juli 1099
ОглавлениеDer Weg nach Jerusalem schien geebnet. Feindseligkeiten und Eifersüchteleien unter den Fürsten, die sich nicht auf einen Regenten für Antiochia einigen konnten, drohten allerdings die Früchte der Eroberung zu gefährden. Mit ihrem geistlichen Oberhaupt Adhémar verlor die Expedition, die keinen wirklichen militärischen Anführer besaß, am 1. August auch noch die einzige mäßigende Stimme, die von allen geschätzt und respektiert worden war. Eine Seuche – Typhus vielleicht – wütete indessen unter den bereits reichlich dezimierten Truppen. Im September informierten die Anführer Papst Urban II. über die errungenen Erfolge und den Tod seines Legaten und rieten ihm zugleich dringend davon ab, sich selbst auf den Weg zu ihnen zu machen, um die heilige Unternehmung höchstpersönlich nach Syrien zu führen. Zwei Monate später setzte sich der Zug erneut in Bewegung. Nicht darunter war Bohemund mit seinen Truppen, dem es gelang, sich in Antiochia zu halten. Unmöglich hätte man die Stadt unbewacht zurücklassen können, da ihre Rückeroberung die christlichen Streitkräfte vor ein ernsthaftes Problem gestellt hätte. Der Zug kam nur langsam voran. Einen weiteren Monat verlor man damit, Ma‘arrat al-Nu’mān zu erobern. Traurige Berühmtheit erlangte diese Militäroperation durch Akte des Kannibalismus, die durch die tafur verübt wurden, eine wüste Bande, die dem Verhungern nahe war. Sowohl Raimund als auch Bohemund nahmen an der Eroberung teil, obwohl die Divergenzen zwischen den beiden unübersehbar waren. Am 4. Januar 1099 fand auf Initiative des Grafen von Toulouse in Ruj ein Treffen statt, bei dem die Frage der Regentschaft über Antiochia geklärt werden sollte. Im Vorfeld der Begegnung hatte Raimund den anderen Fürsten Geld geboten, sollten sie sich in seinen Dienst stellen, doch nur Tankred und Robert, Herzog der Normandie, willigten ein. Die anderen Barone lehnten das Angebot ab und überließen dem Normannen die Kontrolle über die Stadt. Der Marsch wurde wieder aufgenommen, diesmal ohne nennenswerte Zwischenfälle. Beihilfe kam vonseiten der lokalen Emire, die sich nichts dringender wünschten, als alle diese Leute – circa 25 000 Menschen – so schnell wie möglich durch ihre kleinen Herrschaftsgebiete zu schleusen. Endlich, am 7. Juni, erblickte man aus der Ferne, von der Höhe eines Berges, den die Franken Monjoie und die Araber – nach dem Propheten Samuel – Nabi Samuil nannten, die Heilige Stadt Jerusalem.
Erster Kreuzzug: Die Kreuzfahrer werden während des zweiten Angriffs zurückgeschlagen, 1099, kolorierter Stich von Gustave Doré für die Histoire des croisades von Joseph-François Michaud, 1877. Man beachte die Belagerungstürme.
Im Jahr zuvor war die Stadt in die Hände der ägyptischen Fatimiden gefallen, die sich die von den Lateinern in der Region ausgelösten Wirren zunutze gemacht hatten, um sich gegen die Türken durchzusetzen. Laut dem Chronisten Raimund von Aguilers schlug das christliche Heer im Norden und Süden vor den Mauern der Stadt sein Lager auf und versuchte am 12. Juni einen ersten Angriff, der jedoch scheiterte. Dies lag unter anderem am Fehlen von Belagerungsmaschinen samt dem erschwerenden Umstand, dass in der umliegenden Gegend kaum Holz für ihren Bau zu finden war. Am 15. des Monats kamen alle Anführer zu einem Kriegsrat zusammen und beschlossen, so viel Belagerungsgerät zu bauen wie möglich und dafür alles Holz aufzutreiben, das die Region hergab. Zwei Tage später – die Kreuzfahrer litten in der Glut des Sommers immer größeren Durst, weil die fatimidischen Statthalter noch vor ihrer Ankunft die Brunnen hatten unbrauchbar machen lassen – traf ein Bote aus Jaffa ein, der Kunde brachte vom Eintreffen von sechs (andere Versionen berichten von neun) Galeeren, die zur Unterstützung kommen würden. Mit aller Wahrscheinlichkeit gehörten zu diesem Geschwader zwei Galeeren unter dem Kommando des Genuesen Guglielmo Embriaco, an Bord eine Gruppe Pilger, die sich den Kreuzfahrern anschließen wollte. Die Neuankömmlinge erbaten Geleitschutz für die Wegstrecke, die zwischen ihnen und der Heiligen Stadt lag, außerdem eine Besatzung, die ihre Schiffe bewachen würde. Der Graf von Saint-Gilles reagierte als Erster auf ihr Gesuch. Er schickte ihnen einen Trupp von siebzig Reitern und fünfzig Fußsoldaten, möglicherweise in der Absicht, den anderen Fürsten zuvorzukommen, die ihr Lager im Norden aufgeschlagen hatten. Bei Sonnenuntergang wurde die Schar freudig in Empfang genommen. Doch am nächsten Morgen wandelte sich die Freude in Bestürzung: Eine imposante ägyptische Flotte tauchte am Horizont auf und näherte sich mit der Flut. Den christlichen Galeeren war somit jede Möglichkeit zur Flucht genommen, und nur einer einzigen gelang es, die Linie zu durchbrechen und Laodicea zu erreichen. Rasch brach man also das Lager ab und lud Lebensmittel und Handwerkszeug auf die Reittiere. Die übrigen Galeeren setzte man in Brand. Am Abend schlug die Gruppe ihr Lager nahe Jerusalem auf, nachdem sie einen Umweg über den Jordan gewählt hatte, um dort die rituellen Waschungen vorzunehmen. Dies war, glaubt man den Chroniken, der Moment, in dem die Gruppe entschied, sich der Belagerung anzuschließen. Die genuesischen Schiffszimmerleute errichteten daraufhin einen fünfzehn Meter hohen Turm aus Holz auf dem Hügel Sion, in der Nähe des Lagers der Provenzalen. Einen weiteren großen Turm, der sich bewegen ließ, bauten die Lothringer. In der Nacht vom 9. auf den 10. Juli wurde Letzterer auseinandermontiert und vor dem Mauerabschnitt wieder aufgebaut, hinter dem sich die Kirche der heiligen Maria Magdalena erhob. Am 15. Juli entschloss man sich zu einem geballten Angriff. Nach erbitterten Kämpfen gelang es den Brüdern Ludolf und Engelbert von Tournai, die dem Kontingent Gottfried von Bouillons angehörten, als Erste die Mauern zu überwinden und, gefolgt von den Provenzalen unter dem Kommando des Grafen von Toulouse, in die Heilige Stadt einzudringen. Sie fiel innerhalb weniger Stunden. Juden und Muslime wurden niedergemetzelt. In den darauffolgenden drei Tagen starb durch das Schwert, wer nicht beweisen konnte, Christ zu sein. Raimund von Aguilers findet dafür harte Worte:
Eroberung von Jerusalem, Miniatur aus dem 14.–15. Jh. Man beachte die Kriegsmaschinen.
Francesco Hayez, Der Durst der ersten Kreuzfahrer vor den Mauern von Jerusalem, 1833–1849, Turin, Palazzo Reale.
Da hättest du schreckliche Dinge zu sehen bekommen. Einige wurden gnädig enthauptet, andere fielen von Pfeilen durchbohrt von den Mauern herab; zahllose andere mehr verbrannten in den Flammen. Auf den Straßen und Plätzen lagen Haufen von Köpfen, Hände und Füße, Männer und Pferde trampelten über die Leichen hinweg. Noch haben wir nur wenig berichtet: Kommen wir auf den Tempel Salomons zu sprechen, wo die Sarazenen gewöhnlich ihre religiösen Riten zelebrieren. Was war hier geschehen? Wenn wir schildern, wie es war, würde man uns nicht glauben. So soll genügen zu berichten, dass man in Salomons Tempel und in der Vorhalle bis zu den Knien und den Zäumen der Pferde im Blut ritt. Und es war göttliche Gerechtigkeit, dass der Ort das Blut jener empfangen sollte, der so lange Zeit ihre gotteslästerlichen Flüche ertragen musste.
Gegen Mitte August gelang es den Eroberern, der von al-Afḍal, dem Großwesir des fatimidischen Sultanats in Kairo, befehligten Armee in der Ebene vor Askalon Einhalt zu gebieten. Das Ziel war erreicht. Urban II. wäre über diese Nachricht sicher hocherfreut gewesen, wenn er nur davon erfahren hätte. Er starb zwei Wochen nach der Einnahme Jerusalems, ohne den Ausgang der Expedition zu kennen, deren Folgen noch längst nicht absehbar waren.