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Das Antiochia-Modell
ОглавлениеDie klassische Gemeindegründungsmethode im ersten Jahrhundert nahm in Antiochia in Syrien ihren Anfang. Dieses Gründungsmodell tritt am deutlichsten in Apostelgeschichte 13,1–20,38 zutTage. Paulus wurde mit seinen Mitarbeitern von Antiochia ausgesandt, um Gemeinden in Südgalatien, Griechenland und Kleinasien zu gründen. Man kann diese Methode der Gemeindegründung als das Antiochia-Modell (oder auch „Neusaat“-Modell) bezeichnen.6
(Übrigens lassen sich die Reisen des Paulus besser als „Gemeindegründungstour“ oder „apostolische Reisen“ bezeichnen. Der geläufige Ausdruck Missionsreise ist eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts und wird dem Wesen und Zweck des paulinischen Dienstes kaum gerecht.7 Dazu jedoch später mehr.)
Das Antiochia-Modell kann folgendermaßen beschrieben werden: Ein Apostel kommt mit leeren Händen in eine Stadt, um Jesus Christus zu verkündigen. Er predigt keine „vier geistlichen Gesetze“, keine „Schritte zur Bekehrung“, keinen „Heilsplan“ oder irgendwelche christlichen Glaubenssätze. Auch verkündigt er nicht sich selbst (2 Kor 4,5). Stattdessen verkündigt er eine Person – Jesus Christus.8
Aufgrund der Christus-Verkündigung bekehren sich eine Anzahl von Menschen. Einige mögen religiös sein und schon eine Beziehung zu Gott haben (die Juden). Andere sind Gott noch nie begegnet (die Heiden).
Nachdem der Apostel die Menschen zu einer echten Begegnung mit Gott in Christus geführt hat, zeigt er der jungen Gemeinde, wie man aus diesem innewohnenden Leben des neuentdeckten Herrn heraus lebt. Er offenbart den Gläubigen den ewigen Ratschluss Gottes, und diese Schau ergreift die Gemeinde.
(Beachten Sie, dass Gottes ewiger Ratschluss, seine große Mission, Gott und nicht den Menschen zum Mittelpunkt hat.) Kurzum: Der Apostel pflanzt in den Geist der Gläubigen die gleiche „himmlische Vision“ hinein, die er selbst erhalten hat (Apg 26,13; Gal 1,15-16).
Der Apostel vermittelt der neuen Gemeinde auch die apostolische Überlieferung, die ihren Ursprung in Jesus hat (1 Kor 11,2; 2 Thess 2,15; 3,6). Er offenbart den Herzen der Gläubigen die unausforschlichen Reichtümer und die Größe Christi und dass Christus alles ist, was sie brauchen (Eph 3,8). Das heißt es, eine Gemeinde auf Jesus Christus als dem einzigen Fundament zu gründen (Mt 7,24 ff.; 16,16-18; 1 Kor 3,11; Eph 2,20). Jesus Christus als Fundament zu haben, bedeutet, dass die Gemeinde lernt, sich ganz auf Christus zu verlassen, in ihm zu ruhen und aus ihm zu leben.
Das Evangelium, das die Apostel im ersten Jahrhundert predigten, war: Christus ist der Herr und in ihm haben wir Gottes unverfälschte und wirksame Gnade. Paulus von Tarsus schmiedete die Menschen nicht mit irgendwelchen Regeln, religiösen Pflichten oder Gesetzlichkeit zusammen. Er verkündete stattdessen das Evangelium der Gnade mit solcher Vollmacht, dass es die Pforten der Hölle niederriss und die Juden aus ihren religiösen Zwängen und die Heiden aus ihrer Verderbtheit befreite. Es war ein doppelt mächtiges Evangelium.
In der Folge war die neugegründete Gemeinde gesättigt mit der Herrlichkeit, der Freude und der Freiheit in Jesus Christus (Apg 13,52; 2 Kor 1,24; 3,17). Beachten Sie, dass die frühen Apostel eine herrliche, atemberaubende Offenbarung Christi erhalten hatten, von der ihr Geist erfüllt war und die sie verströmten, ehe sie diese Offenbarung an andere weitergeben konnten. Hören wir Paulus:
Als er mir nun seinen Sohn offenbarte – mir ganz persönlich –, gab er mir den Auftrag, die gute Nachricht von Jesus Christus … zu verkünden (Gal 1,16 NGÜ).
Die unmittelbare und nachhaltige Frucht dieser himmlischen Schau war, dass die Gläubigen sich in ihren Herrn und ineinander verliebten.
Das heißt: Paulus und seine Mitarbeiter zeigten den neuen Christen praktisch, wie sie aus diesem Christus heraus leben konnten, der nun in ihnen wohnte. Sie zeigten ihnen, wie man in Gemeinschaft und als Einzelne Gemeinschaft mit dem Herrn pflegt. Sie rüsteten das Volk Gottes zu, sodass die Menschen gemeinsam unter der direkten Führung des Herrn zusammenarbeiteten – ganz ohne amtliche Leitung. Die Apostel bereiteten die Gläubigen auch auf die Prüfungen und Schwierigkeiten vor, die nun auf sie warteten (Apg 14,22; 20,31; 1 Thess 3,4). Der Dienst der Apostel war daher nicht nur geistlich, sondern auch sehr praktisch ausgerichtet.9
Nachdem Paulus die Neubekehrten mit der Offenbarung Christi gesättigt hatte, tat er das Undenkbare: Er übergab die Gemeinde in die Hände des Herrn. Sanft schob er die Gläubigen aus ihrem Nest und überließ sie sich selbst. Er tat dies, ohne einen Pfarrer oder Pastor anzustellen oder Älteste mit der Gemeindeaufsicht zu betrauen. Mehr noch: Er überließ die Gemeinde noch im Säuglingsalter sich selbst – und dies angesichts unmittelbar bevorstehender Verfolgung.
Beim Antiochia-Modell verwendet der Apostel in der Regel zwischen drei und sechs Monate auf das Legen der Fundamente, bevor er die Gemeinde verlässt. Das heißt: Paulus und seine Mitarbeiter verließen eine Gemeinde, als sich diese noch im Kleinkindalter befand. Mit der Zeit wuchsen dann in vielen Gemeinden Älteste heran, die öffentlich anerkannt wurden. Aber das kam erst später. Und zu keiner Zeit fiel den Ältesten die Aufgabe zu, die Gemeinde zu lenken oder über sie zu bestimmen. Auch rissen sie nie die Dienste der Gemeinde an sich. (Auf dieses Thema bin ich andernorts eingegangen.10)
Hatte der Apostel die Gemeinde verlassen, kehrte er erst nach geraumer Zeit (zwischen sechs Monaten und zwei Jahren) wieder zurück.
Paulus demonstriert uns dieses Gemeindegründungsmodell nach seiner Aussendung aus Antiochia. Welch mächtiges, feuerfestes Evangelium musste Paulus doch diesen Neubekehrten weitergegeben haben! Welch tiefes Vertrauen in den auferstandenen Christus musste er gehabt haben, etwas so „Unvernünftiges“ zu tun und eine Gemeinde allein zu lassen, während sie noch in den Windeln steckte! Roland Allen beobachtet scharfsinnig:
Das sind die Fakten: Paulus predigte fünf bis sechs Monate lang an einem Ort und ließ dann eine Gemeinde zurück, die zwar noch einer gewissen Führung bedurfte, aber schon des Wachstums und der Ausbreitung fähig war … Nun stellt sich uns die Frage: Wie konnte er die neuen Gläubigen so zurüsten, dass er sie nach nur kurzer Zeit mit einer gewissen Sicherheit allein lassen konnte, dass sie festbleiben und wachsen würden? Auf den ersten Blick erscheint so etwas unglaublich … Was mag er sie in fünf oder sechs Monaten gelehrt haben?11
Unterm Strich: Das Evangelium des Apostels wurde schonungslos bis auf seinen Kern auf die Probe gestellt. War das Evangelium, das er predigte, wirklich Christus – mit Paulus’ Worten: „Gold, Silber und Edelsteine“ –, dann konnte die Gemeinde auch Krisen durchstehen (1 Kor 3,6-15). Bestand das Evangelium des Apostels jedoch aus Verbrennbarem – „Holz, Heu, Stroh“ –, verbrannte es in der Hitze des Feuers.12
Setzt ein Apostel unverwüstliche Stoffe zum Bau einer Gemeinde ein und rüstet er sie fachmännisch zu, dann wird sich alles, was sie benötigt, spontan und von innen heraus entwickeln. Zu gegebener Zeit werden aus ihr Propheten, Hirten, Evangelisten, Aufseher usw. auf ganz natürliche und organische Weise hervorgehen – genauso natürlich und organisch, wie sich die Gliedmaßen und Organe am und im Körper eines Kindes entwickeln. T. Austin-Sparks spricht von dieser Erfahrung:
Nachdem wir sämtliche Systeme der verfassten Christenheit aufgegeben hatten, verpflichteten wir uns dem organischen Prinzip. Wir stellten keine „Gemeindeordnung“ auf und setzten auch keine Ämter und Geistlichen ein. Wir überließen es ganz dem Herrn, uns durch die „Gaben“ und die Salbung zu zeigen, wen er für die Aufsicht und für die Dienste auserwählt hatte. Ein Ein-Mann-System ist dabei nie herausgekommen. Die „Aufseher“ sind nie gewählt oder bestimmt worden, schon gar nicht auf den ausdrücklichen Wunsch eines Leiters. Es gab weder Ausschüsse noch eine öffentliche Körperschaft – in keinem Teil unserer Arbeit. Nahezu alles ist aus dem Gebet hervorgegangen.13
Solche organische Entwicklung ist die Grundlage aller Lebensformen. Der Same einer Rose enthält schon im Keim Stängel, Blätter und Blütenknospen. Wird der Same gesät und angemessen gepflegt, bilden sich diese Merkmale zu gegebener Zeit auf ganz natürliche Weise aus. So bilden sich auch die erforderlichen Merkmale und Dienste der Gemeinde Jesu Christi ganz natürlich aus, wenn diese einmal auf richtige Weise gepflanzt und gepflegt wird, denn das ist Teil ihrer DNA.
Biblisch gesehen ist eine Gemeinde ein geistlicher Organismus, keine menschliche Organisation.14 Sie ist sozusagen ein biologisches Gewächs. Als solches entwickelt sie sich auf ganz natürliche Weise weiter, wenn sie der, der sie gegründet hat, sich selbst überlässt. Selbstverständlich sollte der Gärtner von Zeit zu Zeit nach ihr schauen, sie „bewässern“, „düngen“ und „von Unkraut befreien“, das sie zu ersticken droht. Deshalb gehört es zu den vorrangigen Aufgaben eines Apostels, Fremdkörper von der Gemeinde fernzuhalten, sodass sie auf natürliche und organische Weise heranwachsen kann. (Doch dazu später mehr.)
Diesem Verständnis von Gemeindeentwicklung steht das vorherrschende Modell gegenüber, wonach man versucht, verschiedenen Dienste und Gaben (etwa Älteste, Propheten und Lehrer) einzusetzen und dabei scheinbar dem „neutestamentlichem Muster“ folgt. Solch eine technische Methode der Gemeindebildung wird lediglich ein erbärmliches, papierenes Bild von Gemeinde erzeugen. Es ist, als wollte man eine reife Rose schaffen, indem man Stängel, Blätter und Blütenkelch mit einem Nylonfaden zusammenbindet. Damit würde man die organische und inhärente Natur der Gemeinde leugnen und sich über den biblischen Tatbestand, dass die Ekklesia in Wirklichkeit ein lebendiger Organismus ist, hinwegsetzen.
Das Antiochia-Modell geht also letztlich davon aus, dass Gemeinde ein organisches Wesen ist, dass sie durch die Verkündigung Jesu Christi ins Leben gerufen wird und dass sie organisch weiterwächst, wenn der Gründungsapostel sie sich selbst überlassen hat. Freilich hat es eine Gemeinde nötig, dass der Apostel von Zeit zu Zeit zurückkehrt, um nach ihrem Wachstum zu schauen und fremde Elemente, die ihr Leben zu ersticken und zu zerstören drohen, zu entfernen (Apg 13–20). Dazu stellt Howard Snyder fest: „Die Gemeinde wächst in dem Maße, wie man alles ausräumt, was Wachstum beeinträchtigt. Wird sie nicht durch unbiblische Barrieren behindert, entwickelt sie sich auf ganz natürliche Weise.“
Das Antiochia-Modell („Ausbringen neuen Samens“) ist die klassische Weise, nach der im ersten Jahrhundert Gemeinden gegründet wurden. Dazu Roland Allen treffend:
In nur wenigen Jahren baute er [Paulus] die Gemeinde auf einer so festen Grundlage auf, dass sie im Glauben und im praktischen Dienst leben und wachsen konnte und dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und allen Gefahren und Hindernissen von innen und außen begegnen konnte.15
Während beim Jerusalemer Modell die Gemeinde den apostolischen Mitarbeiter verlässt, verhält es sich beim Antiochia-Modell umgekehrt: Der apostolische Mitarbeiter verlässt die Gemeinde. Im Ergebnis ist es dasselbe: Sobald ein apostolischer Mitarbeiter das Fundament einer Gemeinde gelegt hat, bleibt das Volk Gottes sich selbst überlassen und verzichtet auf Hilfe von außen. Zum Vergleich beider Modelle schreibt Watchman Nee:
Wir sehen hier, dass es zwei verschiedene Arten der Verkündigung des Evangeliums und der Gemeindegründung gibt, zwei unterschiedliche Methoden, veranschaulicht an den Beispielen Jerusalem und Antiochia. Von Antiochia gehen Apostel aus, von Jerusalem gehen Heilige in die Zerstreuung aus. Im einen Fall ziehen die Apostel in Teams aus, wie z. B. Paulus und Barnabas, Paulus und Silas oder Paulus und Timotheus, um das Evangelium von Ort zu Ort zu verkündigen, Gemeinden zu gründen und danach zurückzukehren. Im anderen Fall wandern die Gläubigen in Städte und Länder aus, verkündigen den Herrn Jesus, wohin sie kommen, und überall dort, wo sie sich ansiedeln, entstehen Gemeinden.16