Читать книгу Was können wir hoffen? - Franz-Josef Nocke - Страница 22

Die neue Stadt

Оглавление

Was ich hier begrifflich entfaltet habe, möchte ich noch durch eine persönliche Erinnerung illustrieren. Ich denke an die Jahre meiner Mitarbeit in einer Kirchengemeinde im Duisburg-Meidericher Ortsteil Hagenshof. Der Hagenshof war von der Stadt als Mustersiedlung geplant worden, entwickelte sich aber mit seiner zur Anonymität verleitenden Hochhausarchitektur schon während der Bauzeit zu einem sozialen Brennpunkt. Monatlich wird in jeden Haushalt das Gemeindeblatt gebracht, in dessen Kopfteil, leicht stilisiert, die Skyline des Hagenshofs zu erkennen ist – und darunter steht: „die neue stadt“.

Als das Blatt im September 1971 zum ersten Mal erschien, fragten sich manche: Was ist damit gemeint? Der Ortsteil, der hier mit zahlreichen Baukränen errichtet wird? Oder ein biblisches Motiv, das himmlische Jerusalem, das sich am Ende der Zeiten vom Himmel herab auf diese Erde senkt? Gemeint war beides – die Bilder sollten ineinander übergehen: „Aus dem Glauben an einen neuen Himmel und eine neue Erde, wo es weder Tränen noch Leid noch Jammer geben wird, will die Katholische Kirchengemeinde … ein wenig dazu beitragen, dass unsere Neubausiedlung Hagenshof eine neue Stadt wird, in der es schon jetzt viele frohe Menschen gibt“, schrieb der Gründungspfarrer in der ersten Ausgabe. Er spielte damit auf die Bilderwelt der Johannesoffenbarung7 an, in der wiederum Hoffnungsbilder des Alten Testaments, besonders aus den Büchern Jesaja und Ezechiel8 verdichtet sind.

Diese Bilderwelt hat im Laufe der europäischen Geschichte immer wieder dazu inspiriert, Heilsgeschichte und Weltgeschichte miteinander in Beziehung zu setzen. Der Philosoph, Literaturkritiker und Theologe Johann Gottfried Herder nannte die Johannesoffenbarung „ein Buch für alle Herzen und alle Zeiten“.9 In jüngster Zeit sprach der Journalist Paul Badde von dem Einfluss, den das biblische Bild von der himmlischen Stadt auf die abendländische Geschichte ausgeübt habe: „Es gibt einen Schlüssel zum Geheimnis Europas. Er findet sich am Schluss der Bibel… Diese Worte liegen fast allen Umwälzungen unseres Erdteils wie ein verborgener Code zugrunde.“10 Die Theologin Rita Müller-Fieberg hat eine differenzierte Dissertation über das Gespräch zwischen Theologie und Literatur über das Motiv „Neues Jerusalem“ vorgelegt. Sie schließt mit der Feststellung, das Bild von der verheißenen Stadt fordere dazu heraus, „die versprochene Lebensfülle schon jetzt in die eigene Gegenwart hineinzulassen.“11

Für uns, die wir jahrzehntelang die Bilderwelt der Johannesoffenbarung wie die verschlüsselte Botschaft einer uns fremden Welt eher umgangen hatten, traf sich ihre Wiederentdeckung mit der Neubelebung einer Theologie der Hoffnung. Heute rückschauend, sehen wir, woher wir gekommen waren und welchen Weg wir gegangen sind: Gegenüber einer „Jammertal-Frömmigkeit“, in welcher wir gelernt hatten, das „Irdische zu verachten und das Himmlische zu lieben“,12 wollten wir die Erde lieben, damit auf dieser Erde Himmel anfangen kann. In unseren jugendbewegten Träumen hatten wir das Geheimnis der Welt „jenseits des Tales“ gesucht, jetzt sollte Gottes geheimnisvolle Welt mitten in einer Hochhaus-Stadt wenigstens anfangshaft Wirklichkeit werden. Anders als im „Milieukatholizismus“ der ersten Jahrhunderthälfte, dem die Kirche wie eine Fluchtburg erschien, wie ein Bollwerk gegen die böse Welt draußen, sollte die Gemeinde dazu beitragen, dass es „frohe Menschen“ nicht nur im Gemeindezentrum, sondern im ganzen Hagenshof gibt: Kirche nicht in Abgrenzung zur Welt, sondern Kirche für die Welt. Im Unterschied aber zur Skepsis der Religionskritik, welche in der Religion nur ein Betäubungsmittel sah, mit dem geplagte Menschen sich vorübergehend über die Lasten des Lebens hinwegtrösten, das sie aber um so schlimmer lähmt, je mehr sie davon Gebrauch machen, setzten wir darauf, dass der Glaube ein Lebenselixier sein könnte: eine Prise Hoffnung zur Kräftigung für die nächsten Schritte. Es sollte eine „geerdete“ Hoffnung sein: Hier auf Erden soll anfangen, was einmal, bei der Vollendung der Schöpfung, ganz groß dastehen wird.

Was können wir hoffen?

Подняться наверх