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„In deinen Toren werd ich stehen…“

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Es ist gewiss kein Zufall, dass unter den neuen geistlichen Liedern, die in dieser Gemeinde gesungen wurden, das Lied von der verheißenen neuen Stadt13 einen besonderen Platz einnahm. Das Lied geht mit seiner Melodie und mit manchen sprachlichen Bildern auf ein modernes israelisches Lied14 zurück, in welchem Jerusalem als ersehnte Stadt Israels besungen wird. Die durch die evangelische Pfarrerin Christine Heuser geschaffene deutsche Fassung setzt allerdings andere Akzente. Die „freie Stadt Jerusalem“ wird hier zu einem Bild für die ersehnte und erhoffte Vollendung der Welt. Das Ziel liegt noch in weiter Ferne. Die da singen, fühlen sich wie die Verschleppten in Babylon unter der Fremdherrschaft von mächtigen Herren. Ihre Wunden schmerzen:

„Ihr Mächtigen, ich will nicht singen

eurem tauben Ohr.

Sions Lied hab ich begraben

in meinen Wunden groß.“

Das erinnert an Motive des 137. Psalms:

„An den Strömen von Babel, da saßen wir

und weinten, wenn wir an Zion dachten.

Wir hängten unsere Harfen an die Weiden in jenem Land.

Dort verlangten von uns die Zwingherren Lieder,

unsere Peiniger forderten Jubel: ‚Singt uns Lieder vom Zion!’

Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn,

fern, auf fremder Erde?“15

Aber ein Versprechen hält die Hoffnung wach:

„Ich halte meine Augen offen,

liegt die Stadt auch fern.

In die Hand hat Gott versprochen:

Er führt uns endlich heim.“

Aus den Bildern der Erinnerung an die Mühen und Schmerzen der eigenen Geschichte werden Bilder der Hoffnung, aus den Steinen der Gefängnisse und der Gräber werden die Mauern der kommenden Stadt:

„Die Mauern sind aus schweren Steinen,

Kerker, die gesprengt,

von den Grenzen, von den Gräbern,

aus der Last der Welt.“

Die Erinnerung an die vergossenen Tränen verschmilzt mit dem Bild von den Stadttoren, die nach der Johannesoffenbarung wie Perlen glänzen:

„Die Tore sind aus reinen Perlen,

Tränen, die gezählt.

Gott wusch sie aus unsern Augen,

dass wir fröhlich sind.“

Und immer wieder klingt im Refrain das Grundmotiv durch: die Hoffnung, einmal in dieser Stadt zu Hause zu sein:

„In deinen Toren werd ich stehen,

du freie Stadt Jerusalem.

In deinen Toren kann ich atmen,

erwacht mein Lied.“

Mit solchen Bildern der Hoffnung bekamen Menschen in der gemeindlichen Alltagspraxis Augen für die Perspektive der Hoffnung. Diese Hoffnung entdeckte inmitten all der Lebensfeindlichkeiten und Unbehaustheiten dennoch die Anfänge einer neuen Welt. In zusammengewürfelten, einander zunächst fremden Menschen wuchs zumindest eine Ahnung davon, was Wohnung, Heimat, Gemeinschaft bedeuten könnte. Gemeinde wurde zum Treffpunkt, wo man einander vom eigenen Leben erzählen konnte – und wo man lernen konnte, welche Freude es macht, einander beizustehen.

Ermutigt durch diese Perspektive, engagierten sich viele in einer Bürgerinitiative, die sich, weit über die Grenzen der Kirchengemeinde hinaus, für mehr Lebensqualität im Ortsteil einsetzte. Dabei fühlten sie sich nicht wie Leute, die notdürftig noch einige Reparaturen an einem Haus anbringen, das letzten Endes doch zum Abbruch bestimmt ist, sondern eher wie Bauleute, welche die Bausteine für eine kommende Welt zusammentrugen. In dem, was sie taten, sahen sie den, wenn auch nur sehr bescheidenen, Anfang jener neuen Stadt, von der sie sangen: „In deinen Toren kann ich atmen.“ Und so konnten sie hin und wieder schon in der Gegenwart, auf der noch sehr unfertigen Baustelle, aufatmen.

1 Hans Magnus Enzensberger, Ins Lesebuch für die Oberstufe (1957), hier zitiert aus: Das große deutsche Gedichtbuch, neu hrsg. von Karl Otto Conrady, Darmstadt 41995, 724 f.

2 Unsere Hoffnung. Ein Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit, I. 6., in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Offizielle Gesamtausgabe, hrsg. von Ludwig Bertsch u. a., Bd. I, Freiburg 1976, 84–111, Zitat: 95.

3 So. z. B. Franz Diekamp, Katholische Dogmatik nach den Grundsätzen des heiligen Thomas, Bd. 3, Münster 3–51922, 366.

4 Joseph Pohle, Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 3, Paderborn 1905, 706.

5 Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg 1976, 415.

6 Vgl. dazu unten das 11. Kapitel.

7 Vgl. bes. Offb 21,1–4, aber auch die Kapitel 21 und 22 insgesamt.

8 Vgl. Jes 7,14; 25,8; 54,1–14; 60,1–11; Ez 40–44.

9 Johann Gottfried Herder, Maran Atha. Das Buch von der Zukunft des Herrn, des Neuen Testaments Siegel (1779), in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. IX, hrsg. von Bernhard Suphan, Hildesheim 1967, 241.

10 Paul Badde, Die himmlische Stadt. Der abendländische Traum von der gerechten Gesellschaft, München 1999, 17.

11 Rita Müller-Fieberg, Das „neue Jerusalem“ – Vision für alle Herzen und alle Zeiten? Eine Auslegung von Offb 21,1 – 22,5 im Kontext von alttestamentlich-frühjüdischer Tradition und literarischer Rezeption, Berlin und Wien 2003, 390.

12 So das Postcommunio-Gebet am 2. Adventssonntag nach dem Römischen Messbuch in der vorkonziliaren Form. Nach der durch das Zweite Vatikanische Konzil angestoßenen Liturgiereform klingt der Text anders: „Lehre uns die Welt im Licht deiner Weisheit zu sehen und das Unvergängliche mehr zu lieben als das Vergängliche.“ Hierzu etwas ausführlicher unten, im 13. Kapitel.

13 Ihr Mächtigen, ich will nicht singen eurem tauben Ohr. Text: Christine Heuser. Das Lied findet sich z. B. im Anhang von: Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch für das Bistum Aachen, Aachen 1985, Nr. 046.

14 Naomi Shemer-Sapir, Yerushalayim shel zahav (Jerusalem, Stadt aus Gold), hier zitiert nach der CD „25 most famous Israeli Folk Songs“, CD 158, Hataklit LTD, Pardesiva, Israel, o. J.

15 Ps 137, 1–4.

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