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d) Die Generalklausel nach § 44 Abs. 1 VwVfG

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Relative Nichtigkeitsgründe bedingen nicht zwangsläufig die Nichtigkeit eines VA, sondern nur bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 44 Abs. 1. Diese Norm enthält zwei Voraussetzungen: Der VA muss erstens an einem besonders schwerwiegenden Fehler leiden und zweitens muss dieser Fehler bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig sein. § 44 Abs. 1 erklärt die vor dem Inkrafttreten des VwVfG herrschende Evidenztheorie zu geltendem Recht[23]. Die Evidenztheorie[24] lässt nur solche VAe nichtig sein, die an schweren Form- oder Inhaltsfehlern leiden, die mit der Rechtsordnung unter keinen Umständen vereinbar sind; für einen urteilsfähigen Bürger muss diese Unvereinbarkeit offensichtlich sein. Plakativ formuliert: Der VA muss den „Makel der Rechtswidrigkeit auf der Stirn“ tragen.

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Für die erste Voraussetzung des § 44 Abs. 1, den besonders schwerwiegenden Fehler, ist auf das Gewicht und die Bedeutung des Fehlers abzustellen; ein Verstoß gegen eine wichtige Rechtsbestimmung allein erfüllt die Voraussetzung nicht[25]. Erst dann, wenn der Verstoß gegen eine wichtige Rechtsbestimmung über die unrichtige Anwendung hinausgeht und schlechthin unerträglich für die Rechtsordnung ist, ist Nichtigkeit anzunehmen[26]. Bei fehlerhafter Adressierung ist ein VA jedenfalls nicht von vornherein nichtig[27]. Bedenklich ist freilich, wenn Nichtigkeit des VA auch dann nicht angenommen wird, wenn ein VA „in eklatanter Weise“ gegen das Verfassungsrecht verstößt[28]. Die Nichtigkeit eines VA entfällt, wenn er erschlichen oder von einem bestochenen Beamten erlassen wurde[29]; das Gleiche gilt für einen durch eine Drohung bewirkten VA[30].

Beispiele für besonders schwere Fehler:

Völlige Unbestimmtheit des VA[31]; absolute sachliche Unzuständigkeit der erlassenden Behörde; völlige Ungeeignetheit des Mittels zur Zielerreichung[32]; die Versetzung eines Nichtbeamten in den Ruhestand[33]; Bewertung einer Prüfungsleistung mit „gut“, obwohl sie offensichtlich der einer wissenschaftlichen Arbeit angemessenen Form entbehrt[34]; eine in Kenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns erlassene Widmungsverfügung, die den privaten Eigentümer eines Wegestücks unter Missbrauch der Bestimmungen über die Bestandskraft von VAen und Umgehung der gesetzlichen Regelungen des Straßengesetzes faktisch enteignet[35].

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Die zweite Voraussetzung des § 44 Abs. 1, die Offensichtlichkeit des Fehlers, ist nicht bereits durch die Schwere des Fehlers bedingt[36]. Die Offenkundigkeit ist auch dann zu verneinen, wenn die besondere Schwere des Fehlers erst später, insbes. nach einer Rechtsprechungsänderung, ersichtlich wird. Für die Beurteilung der Offenkundigkeit wird auf den urteilsfähigen unvoreingenommenen Bürger, den aufmerksamen und verständigen Staatsbürger als Durchschnittsbetrachter abgestellt. Weder das Erkenntnisvermögen des jeweils betroffenen Adressaten des VA noch die Betrachtungsweise einer juristisch geschulten Person ist entscheidend. Natürlich ist der „verständige Durchschnittsadressat“, auf den es somit ankommt, eine Kunstfigur. Seine Konkretisierung obliegt Juristen; diese entscheiden somit letztlich doch nach ihren Maßstäben, ob ein Fehler offenkundig ist.

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