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Der Weg der Askese
ОглавлениеDie Unbeirrbarkeit, mit der sich Prinz Siddhartha der weiteren Praxis widmet, die Entschlossenheit, mit der er die Tiefen seines eigenen Wesens erforscht, um klar zu sehen, ist äußerst beeindruckend. Nachdem er seine beiden Lehrer verlassen hat, wendet er sich auf der Suche nach endgültiger Befreiung den damals weit verbreiteten Methoden der extremen Askese zu. Selbst-Kasteiung der härtesten Art gilt damals als bestes Mittel, die Kräfte des Verlangens und der Begierde zu überwinden und somit innere Befreiung und unerschütterlichen Frieden zu verwirklichen.
Eine der Methoden, die er kennenlernt, um das innere Getriebenwerden, das Verlangen nach Sein, die Begierde in Geist und Herz zum Versiegen zu bringen, besteht darin, den Atem zu stoppen. Der Buddha beschreibt später, wie er sich darin geübt hat, den Atem anzuhalten, bis die Luft durch die Ohren, dann sogar durch die Augen herausbirst, und wie er den Atem schließlich völlig anhalten kann, bis er ohnmächtig umfällt und man ihn für tot hält. Doch nach einer Zeit kommt er auch bei dieser Methode zu dem Schluss, dass er dadurch vollständigen inneren Frieden nicht finden wird.
Prinz Siddhartha praktiziert auch das Überwinden der Angst. In den Dschungeln Indiens gibt es Gründe genug, sich zu fürchten. Tiger, Elefanten und Kobras leben in diesen damals über weite Strecken menschenleeren Gebieten. Der zukünftige Buddha sitzt mit gekreuzten Beinen in Meditationshaltung unter den Bäumen oder übt Gehmeditation. Dabei nimmt er sich vor, immer dann, wenn Angst ihn zu überwältigen droht, die Position beizubehalten, die er in dem Moment gerade innehat, wenn Angst in ihm aufsteigt. Wenn er da sitzt und in der Ferne – oder gar in der Nähe – einen Tiger hört, bleibt er so lange sitzen, bis die aufgekommene Angst wieder vergangen ist. Wenn er Gehmeditation übt und die Angst kommt, geht er so lange weiter, bis die Angst verschwunden ist. Wenn er sich niedergelegt hat und die Angst ihn packt, bleibt er so lange liegen, bis die Angst sich wieder aufgelöst hat.
Seine Begierde sucht er zu überwinden, indem er sich in extremem Fasten übt. Seine täglich einzige Mahlzeit reduziert er zunächst auf eine Handvoll Reis, dann isst er nur eine Handvoll Reis pro Woche und dann noch weniger – bis er schließlich ein einziges Reiskorn und dann ein einziges Sesamkörnchen pro Woche zu sich nimmt. Als er seinen Magen anfassen will, berührt er dabei die Wirbelsäule.
Letztlich muss er aber feststellen, dass keine dieser asketischen Praktiken ein Weg zur Befreiung ist. Zwar hat er – nach sechs Jahren der Askese – die Befreiung noch nicht verwirklicht, doch er hat unendliche Geduld und Ausdauer entwickelt. Und auch wenn den meisten von uns eine solch radikale asketische Praxis sehr fern sein mag, so sind die dabei kultivierten inneren Qualitäten und Eigenschaften auch für uns von Bedeutung, denn auf diesem Weg braucht es unendliche Geduld. Sind wir bereit, diese Praxis unser ganzes Leben lang zu üben – mindestens in diesem Leben? Wir können, ja, wir müssen alles in die Praxis hineinlegen, uns ihr hundertprozentig verschreiben. Und trotzdem geht es nur so schnell vorwärts, wie es eben geht. Es gibt keine Instant-Spiritualität, wie es Fertigmahlzeiten oder Instant-Kaffee gibt. Auch wenn man uns das immer wieder mal glauben machen möchte, aber so funktioniert es nicht. Vielmehr handelt es sich um ein immer tieferes Schauen und ein allmähliches Sich-Entfalten.
Einer meiner Lehrer erzählte, wie er als Junge im Garten Karotten gepflanzt hatte. Als nach einiger Zeit grüne Blätter zu sprießen begannen, wollte er wissen, ob unter den Schösslingen auch wirklich Karotten wachsen. Doch der ganze Wachstumsprozess dauerte ihm zu lange. Deshalb beschloss er, an den grünen Blättchen zu ziehen, um so das Wachstum zu beschleunigen. Dass diese Methode nicht funktioniert und sogar kontraproduktiv ist, wissen wir. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Praxis: Was wir brauchen, ist viel Geduld und Ausdauer. Wir brauchen Zeit – aber auch das unentwegte Bemühen, gegenwärtig zu sein, wach zu sein, zu schauen und zu lernen.
Amma Syncletica, eine christliche »Wüstenmutter«, schreibt über die Praxis: »Am Anfang ist es schwierig und braucht viel Arbeit (…) Dann aber folgt unbeschreibliche Freude. Es ist wie wenn man ein Feuer entfacht: Zuerst gibt’s viel Rauch und die Augen tränen, aber später kommt das erwünschte Resultat. So müssen wir das göttliche Feuer in uns entzünden – mit Tränen und Anstrengung.«10
Jeder und jede von uns muss den Weg selbst gehen. Um aber klar und tief sehen zu können, sind optimale innere Bedingungen Voraussetzung. Dazu brauchen wir einen »lang-ausdauernden« Geist. Der chinesische Meister Hsu Yün ist ein gutes Beispiel für diese außerordentliche Eigenschaft des Herzens. Mit 14 Jahren tritt er in ein taoistisches Kloster ein, später wird er als buddhistischer Mönch ordiniert, studiert die Regeln und die Schriften und verbringt anschließend drei Jahre im Retreat in völliger Abgeschiedenheit. Dann übt er sich jahrelang in strenger Koan-Praxis, anschließend lange Zeit in der Praxis des Reinen Landes des Buddha Amitabha. Er absolviert eine siebenjährige Pilgerschaft und besucht zu Fuß die heiligen Stätten in China, Indien und Tibet. Mit 55 werden ihm weitere tiefe Erfahrungen des Erwachens zuteil. Schließlich wirkt er für den Rest seines Lebens als Lehrer – nochmals 50 Jahre lang. Seine Reisen als Lehrer führen ihn nach Burma, Thailand, Malaysia und Vietnam. Auch wird er Vorsitzender der Chinese Buddhist Association, zusammen mit dem Dalai Lama, dem Panchen Lama und dem Großlama der Mongolei. 1959, im Alter von 119, stirbt er in Shanghai. In seiner letzten Rede sagte er zu seinen Schülern: »Ich bedaure, dass ich euch nicht so unterrichten kann, wie die großen alten Meister dies taten. Ich versuche einfach mein Bestes. Vergesst nicht: Es wird eine lange Reise sein. Übt euch mit lang-ausdauerndem Geist!«
Nach sechs Jahren der strengen Askese ist sich Prinz Siddhartha, der zukünftige Buddha, gewiss, dass nicht nur der Weg der meditativen Versenkung, sondern auch der Weg der Kasteiung – trotz seiner unendlichen Geduld und Ausdauer – nicht zur Befreiung führt. Es ist ihm nun ganz klar, dass weder Sinnesgenuss noch Selbst-Kasteiung gute Voraussetzungen sind, um Geist und Herz zutiefst zu entfalten. Er erinnert sich an eine Situation aus seiner Kindheit: Als sein Vater, der König, bei einem Ritual einen Acker pflügte, saß der Knabe im Schatten eines Rosenapfelbaumes. Dort wurde ihm eine Erfahrung tiefsten Friedens, höchster Präsenz und größter Offenheit zuteil. Die deutliche Erinnerung an diesen Augenblick ist es, die den Asketen schließlich dazu bewegt, die Selbstkasteiung aufzugeben und einen mittleren Weg zwischen den Extremen zu wählen. Er entschließt sich, wieder Nahrung zu sich zu nehmen, dem Körper Erholung zu gönnen, um wieder Kraft und Energie zu tanken.
Dies markiert einen weiteren konsequenten Schritt in seinem Leben. Er bricht mit einem selbst gewählten Praxis-Stil, dem in seiner Zeit in hohem Ansehen stehenden Weg der Askese. Der Bruch ist so radikal, dass die Schüler, die ihm damals folgen, ihn sogleich verlassen. Für sie ist er einer, der versagt hat und damit als Meister und Vorbild erledigt ist.
Immer wieder wagt der Buddha solche Schritte ins Unbekannte, und er tut es auch später in der Art, wie er lehrt. Auch das kann beispielhaft für uns sein. Auch wir müssen es immer wieder wagen, hinzuschauen, zu erforschen und zu prüfen: Sind die Dinge wirklich so, wie sie gelehrt werden, wie es die Tradition oder die Gesellschaft will, wie wir sie entsprechend unseren gewohnten Sichtweisen sehen? Folgen wir wirklich unseren eigenen tiefsten Erfahrungen, oder sind wir einfach Mitläufer? Das Wagnis, die Dinge zu hinterfragen, braucht aber nicht nur Mut, sondern auch außerordentliche Ehrlichkeit; Ehrlichkeit uns selbst gegenüber. Brechen wir eine Praxis ab und folgen einer anderen, weil sie uns zu anstrengend ist und wir hoffen, auf einfachere, mühelosere Weise ans selbe Ziel zu kommen? Oder weil wir zutiefst verstanden haben, dass dieser Weg für uns nicht hilfreich, nicht befreiend ist?