Читать книгу Buddhas Tausend Gesichter - Fred von Allmen - Страница 6

Vorwort von Stephen Batchelor

Оглавление

Versuchen Sie sich, eine Zukunft vorzustellen, in der alles, was vom Buddhismus geblieben ist, Texte sind: Alte Schriften und Kommentare in Vers und Prosa, ausgezeichnet erhalten und verwahrt in alten Klöstern, Tempeln und Bibliotheken. Sie vertiefen sich in diese Texte und finden tiefgründige Philosophien, detaillierte Meditationsanleitungen und bedeutungsvolle Erwägungen zu moralischen und ethischen Werten. Wenn aber niemand mehr am Leben wäre, der diese Lehren in die Praxis umsetzte, würden diese Schriften im besten Fall Faszination erwecken oder wehmütige Sehnsucht nach einer längst entschwundenen Vergangenheit entfachen. Im schlechtesten Fall wären sie so leblos und bedeutungslos wie hieroglyphische Anrufungen an den ägyptischen Gott Horus.

Damit der Buddhismus eine lebendige Tradition bleibt, braucht es mehr als nur Texte. Er muss sich in Menschen verkörpern – in Leuten wie Sie und ich –, welche die transformative Kraft des Dharma in ihr Leben einbringen. Ich zweifle sehr daran, dass meine Motivation stark genug gewesen wäre, mein eigenes Leben dieser Praxis zu widmen, wäre ich nicht lebenden, atmenden, menschlichen Beispielen des Dharma begegnet. Denn jene, die mich buddhistische Philosophie, Meditation und Ethik lehrten, taten mehr, als nur Informationen über diese Themen zu vermitteln. Sie offenbarten mir durch ihr lebendiges Beispiel und ohne viele Worte ihre ganz persönliche Art, in dieser Welt zu wirken. Wenn sie redeten, lag die Bedeutung von dem, was sie sagten, nicht nur in den Worten, die sie äußerten, sondern in der Art und Weise, wie sie diese äußerten: den Rhythmen, den Kadenzen, der Sprache, der Gestik und des Lachens, den bedeutungsvollen Pausen zum Nachdenken, der Ernsthaftigkeit, Leidenschaft und Entschlossenheit, mit der sie ihre Lehren verkörperten.

In dieser Sammlung ist es Fred von Allmen gelungen, den Dharma sowohl anhand der Lebensgeschichten buddhistischer Meister und Meisterinnen als auch durch deren Lehren darzulegen. Dadurch werden wir daran erinnert, dass es in der Praxis des Buddhismus nicht nur darum geht, sich theoretisches Wissen anzueignen oder tiefe meditative Zustände zu erlangen, sondern ebenso darum, das, was man gelernt und erfahren hat, in Worte und Taten zu übertragen, die auch das Leben anderer berühren. Buddhas Leben selbst ist genauso sehr eine Dharma-Belehrung, wie es seine im Kanon aufgezeichneten Lehrreden sind. Was er tut, ist genauso bedeutungsvoll wie das, was er sagt. Man mag zum Beispiel darüber erstaunt sein, wie wenig er in den Sutras über Mitgefühl oder »spirituelle Freundschaft« zu sagen hat. Aber diese Grundwerte werden durch sein Leben verkörpert, in dem er sich in selbstloser Weise der Aufgabe widmet, anderen einen spirituellen Pfad zu weisen, Gemeinschaften zu bilden, die für alle Menschen offen sind, ungeachtet ihrer Kaste oder ihres Geschlechts, und eine Reihe von Ideen und Praktiken zu entwickeln, die den Fortbestand des Dharma für zukünftige Generationen sichert.

Die gleichen Qualitäten des Mitgefühls und des Wohlwollens für andere prägen auch die Lebensgeschichten der Meisterinnen und Meister, die auf den folgenden Seiten erzählt werden. Sobald diese Gestalten für uns zum Leben erwachen, bemerken wir, wie sie alle den Dharma auf ihre eigene, sehr persönliche Art gelebt haben. Es gibt kein »buddhistisches Standard-Leben«, dem sie nacheiferten und zu verwirklichen suchten. Ganz im Gegenteil: Die lebendigen Verkörperungen des Dharma entwickeln sich in Formen, die angemessen sind für die an bestimmten Ort, zu gewissen Zeiten vorherrschenden Verhältnisse. Ein besonderes Merkmal des Buddhismus ist seine große Anpassungsfähigkeit, so dass er sich an Orten und in historischen Situationen entfaltet hat, die so verschieden sind wie das antike Magadha, die Tang-Dynastie in China, das mittelalterliche Tibet oder das moderne Burma und Thailand. Diese Kunst der Anpassung wird aber nicht durch den Buddhismus als solchen lebendig, sondern durch jene Männer und Frauen, die ihn praktizieren und seine Lehren mit frischer Stimme in die Worte fassen, die den neuen Situationen entsprechen und von den Menschen verstanden werden.

Heutige Leser und Leserinnen mögen erstaunt sein über die Berichte von übersinnlichen Fähigkeiten, die einigen der Figuren in diesem Buch zugeschrieben werden. Sollen wir diese Wunder für bare Münze nehmen? Sollen wir annehmen, dass sie eine symbolische oder archetypische Wahrheit vermitteln? Oder sollen wir sie ganz einfach ignorieren? Man muss verstehen, dass solche Legenden aus prä-modernen Kulturen stammen, die nicht zwischen dem Wörtlichen und dem Symbolischen unterschieden haben, wie wir es heute tun. So wie es naiv sein kann, Wunder für wahr zu halten, so kann es auch zynisch sein, zu behaupten, sie hätten keinen größeren Wert als Märchen. Überlieferungen von Wundertaten haben überlebt, weil sie in denjenigen, denen diese Geschichten einst erzählt wurden, Vertrauen und Inspiration erweckten. Heute gilt es für uns, einen mittleren Weg zu finden zwischen Leichtgläubigkeit und Misstrauen in Bezug auf übersinnliche Fähigkeiten und Wunder. Aber wie immer dem auch sei: Ob Heilige oder Yoginis Wunder vollbrachten oder nicht, diese Menschen sollten wir nicht nach einzelnen, möglicherweise ungewöhnlichen Taten beurteilen, sondern nach der Qualität ihres gesamten Lebens. Auf diese Weise wirken ihre Geschichten weiter als Inspiration für all jene, die versuchen, die Lehren des Dharma in der heutigen Zeit in ihrem Leben zu verkörpern.

Stephen Batchelor

Aquitaine, Januar 2012

Buddhas Tausend Gesichter

Подняться наверх