Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 2 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 18

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Toni wartete bei seinem Geländewagen.

»Basti! Franzi! Nun kommt! Ihr tut ja gerade so, als würdet ihr die Baumberger Großeltern monatelang nimmer sehen. Dabei ist es nur bis morgen!«

Toni schmunzelte. Er freute sich, daß sich die Kinder so gut mit seinen Eltern verstanden. Die Kinder kamen die Treppe herunter und stiegen ins Auto.

»Toni! Warte!« rief seine Mutter aus dem Fenster. »Du kannst uns noch einen Gefallen tun!«

Kurz darauf kam seine Mutter mit einem Korb aus dem Haus.

»Toni, fahr’ das bitte beim Pircher Hof vorbei und gib den Korb dem Edgar. Da ist warmes Mittagessen drin. Der Edgar hat angerufen. Die Polly ist in Kirchwalden. Sie hatte vorgekocht. Aber der Edgar hat das Mittagessen anbrennen lassen.«

»Des mache ich, Mutter! Bis die Tage! Morgen fährt der Vater die Kinder rauf auf die Oberländer Alm. Wir sehen uns dann erst wieder nächste Woche! Grüß Dich, Mutter!«

Toni gab seiner Mutter einen Kuß auf die Wange.

»Ja, des macht er! Dein Vater bringt nach dem Mittagessen die Kinder rauf auf die Oberländer Alm. Grüß mir die Anna schön und auch den Alois. Dann bis die nächste Woche, Toni!«

Sebastian und Franziska, die Basti und Franzi gerufen wurden, winkten, als Toni auf dem Hof seines Elternhauses wendete und abfuhr.

Edgar Pircher saß auf der Bank vor dem Haus. Er hatte sich den Tisch davor gedeckt. Toni hielt.

»Ihr bleibt im Auto!« sagte Toni zu den Kindern und stieg aus.

»Grüß Gott, Toni! Mei, bist du aber schnell!«

»Grüß dich, Pircherbauer! Machst du es wie die Sommerfrischler und tust draußen essen?«

Der Bauer lachte.

»Mir bleibt nix anderes übrig. Es stinkt noch ziemlich angebrannt in der Küche. Ich hoffe, bis meine Polly aus Kirchwalden kommt, hat sich der Qualm verzogen. Die wird ärgerlich sein und gleich die Vorhänge waschen. Tüchtig ist die Polly schon, aber manchmal tut sie ein bissel übertreiben. Weißt, Toni, ich wollte kalt essen, aber des Madl hat drauf bestanden, daß ich etwas Warmes in den Bauch bekomme. Dabei ist mir der Eintopf angebrannt. Ich habe den Topf mit dem Inhalt fortgeworfen. Na ja, für die Kocherei bin ich net geeignet, Toni. Ich bin net so wie du, ich laß sogar das Wasser noch anbrennen! Die Polly wäre ärgerlich, wenn ich zu Mittag nur Brot und Wurst und Käse essen würde. Sie sagt, ein Mannsbild braucht etwas Warmes im Bauch.«

Sie lachten.

»Gar so schlimm wird es nicht sein, Bauer! Es kann doch mal vorkommen, daß man den Topf auf dem Herd vergißt. Dann wünsche ich dir guten Appetit, Pircher.«

»Danke! Und grüß’ mir deine liebe Anna schön und den alten Alois!«

»Danke, des mache ich!«

»Wie geht es dem alten Alois?«

»Ja mei, wie soll es ihm gehen? Gut geht es ihm. Seit er bei uns auf der Berghütte ist, ist er richtig aufgeblüht. Das ist wie ein Jungbrunnen für ihn. Die Berghütte, des war eben seine Welt. Er hat zwar dann und wann seine Zipperlein, wie es jeder im Alter hat, aber im großen und ganzen geht es ihm gut. Er ist für die Kinder ein richtiger Großvater. Besonders der Basti hat es ihm angetan. Die beiden sitzen oft zusammen. Der Alois erzählt die alten Berggeschichten, auch wenn er manchmal ein bissel übertreiben tut.«

»Mei, des freut mich!«

Toni verabschiedete sich und fuhr ab.

Nach dem Essen packte Edgar Pircher die Schüsseln zusammen und brachte sie zurück zu den Baumbergers. Die Vordertür des Wirtshauses mit Pension war abgeschlossen, es war Mittagszeit. Da hatten Meta und Xaver geschlossen. Nur wenn sie besondere Pensionsgäste hatten, machte Meta Mittagessen. Doch in Waldkogel kannte man sich. Edgar ging um das Haus herum und betrat die Küche durch den Hintereingang.

»Grüß Gott!«

»Grüß Gott, Edgar! Bringst du das Geschirr? Mei, so beeilen hättest dich net müssen!«

»Doch, doch! Ich muß ja auch noch zahlen. Ich will keine Schulden bei euch haben, Xaver!«

»Jetzt machst du aber eine Staatsaffäre daraus, Edgar!« lachte Xaver Baumberger.

Er stand auf und holte zwei Bier.

»Des geht auf das Haus! Zum Wohl!«

»Zum Wohl, Xaver!«

Sie tranken. Xaver Baumberger, Tonis Vater, lud Edgar ein, sich zu setzen.

»So, so! Dann bist heute alleine?«

»Ja, des bin ich! Die Polly ist nach Kirchwalden gefahren und kommt erst gegen Abend, vielleicht auch später. Ich habe zu ihr gesagt, sie soll sich auch was gönnen. Sie soll mal ins Kino gehen. Ich würde schon zurechtkommen. Des Madl macht sich viel zuviel Gedanken. Wenn ich ihr das mit dem angebrannten Mittagessen beichten tue, dann ist das mal wieder Wasser auf ihre Mühle. Ich bin eben net sehr geschickt, was die Hausarbeit angeht. Da werde ich mir bestimmt wieder etwas anhören müssen!«

»Die Polly ist wohl ein bissel sehr genau, wie?«

»Ja, des ist sie! Die bemuttert mich ganz schön. Manchmal ein bissel zu viel. Auf der anderen Seite will ich nix sagen. Was würde ich denn ohne des Madl machen?«

Meta Baumberger nickte.

»Des stimmt schon, Edgar! Aber wenn es net so wäre, dann müßte es auch gehen.«

»Ja, so ist es! Wißt ihr, mir ist das net so recht, daß sich mein Madl so aufopfern tut. Sie denkt immer nur an mich und an den Hof, kein bissel an sich. Ich will net, daß sie mal als alte Jungfer endet.«

»Das wäre net gut! Was würde dann aus dem Hof?«

»Ach, um den Hof geht es mir in erster Linie net, obwohl es schon schade wäre, wenn niemand da wäre, um den Hof weiterzugeben, der schon so viele Generationen auf dem Buckel hat. Es geht um die Polly selbst. Andere Madln von ihrem Jahrgang, die sind schon verheiratet, viele haben schon Kinder. Zumindest sind sie verlobt oder haben einen Burschen.«

Edgar Pircher trank einen Schluck Bier. Es tat ihm sehr wohl, mit Xaver und Meta Baumberger zu reden.

»Ja, hat denn die Polly keinen Burschen?«

»Da tust mich was fragen, Xaver! So leicht läßt sich das net beantworten. Sicher kann ich mir da nicht sein. Die Polly redet net drüber und auf den Hof hat sie ihn auch noch nicht gebracht. Das Madl will auch net drüber reden. Ich kann sie nix fragen. Da wird sie richtig bös’. Sie ist dann imstande, einen ganzen Tag nix mit mir zu reden oder sogar mal eine ganze Woche nur das Nötigste zu sagen.«

»Au wei! Dann hängt bei euch der Haussegen schief!«

»Ganz richtig, Xaver! Deshalb frage ich lieber nix. Die Polly ist ein ganz liebes Madl. Tüchtig ist sie. Sie macht alles so, wie es auch meine Alwine gemacht hätte, wenn sie noch leben würde. Gott hab’ sie selig!«

»Ja, deine gute Alwine, die hat der Herrgott zu früh zu sich genommen«, bedauerte Meta Baumberger.

»Ja, des hat er! Aber da muß ich mich dreinfügen. Warum das der Herrgott so gemacht hat, darauf find’ ich auf Erden keine Antwort. Das Schlimme dabei ist, daß die Polly dadurch ihre ganze Jugend verloren hat. Andere Madln, die haben mehr Freiheit, gehen tanzen – ihr wißt schon. Sie haben einfach Zeit zum Fröhlichsein. Die drückt keine Verantwortung für einen Hof und einen Vater, der Witwer ist.«

Meta und Xaver schauten sich an. Ihnen ging beiden ein Gedanke durch den Kopf. Aber keiner von ihnen sprach ihn aus. Es wäre am besten, wenn Edgar selbst wieder heiraten würde, dachten sie. Dann wäre er versorgt und Polly die Verantwortung für ihren Vater los. Eine Verantwortung, die das junge Madl sehr ernst nahm. Xaver und Meta Baumberger verstanden, daß sich Edgar Sorgen um seine Polly machte. Der frühe Tod seiner Frau, der erst wenige Jahre zurücklag, lastete immer noch schwer auf ihm. Dazu kam jetzt die Sorge um sein Madl. Die war berechtigt, denn Polly war seit dem Tod ihrer Mutter sehr ernst geworden. Stillschweigend hatte sie alle Pflichten übernommen. Den Arbeitsplatz als Köchin in einem Lokal in Kirchwalden hatte Polly sofort gekündigt und sich ganz ihrem Vater und den Aufgaben einer Bäuerin auf dem heimischen Pircher Hof gewidmet. Ihr Vater war damit nicht ganz einverstanden gewesen, aber Polly hatte nicht nachgegeben. »Auf den Hof gehört eine Bäuerin! Da die Mutter jetzt nimmer ist, will ich ihre Arbeit übernehmen«, hatte Polly damals gesagt. »Das mache ich und darüber gibt es keine Diskussion!« Edgar Pircher, damals noch in tiefer Trauer, hatte sich geschlagen geben müssen.

Fünf Jahre waren seither vergangen. Fünf Jahre voller Einsamkeit für Edgar Pircher und Sorge um sein einziges Kind. Apollonia, die Polly gerufen wurde, war damals gerade zwanzig Jahre alt gewesen. Das war ein Alter, in dem sich die jungen Leute nach dem anderen Geschlecht umsahen. Edgar erinnerte sich daran, daß seine Polly mit ihrer Mutter oft über die Burschen gesprochen hatte. Er konnte mit Polly nicht darüber reden. Vielleicht lag es am Tode seiner Frau oder daran, daß er als Vater nicht die richtigen Worte fand.

Edgar Pircher seufzte.

»Ja, Xaver und Meta! Jeder hat sein Packerl zu tragen. Ich will net klagen, sondern ich füge mich in mein Schicksal. Was anderes bleibt mir auch net übrig, oder? Doch ich bin traurig, daß meine Polly sich so dem Leben versagen tut. Der fehlt ein bissel die Leichtigkeit, die Fröhlichkeit, die Unbesorgtheit. Aber was soll ich da machen?«

»Da kannst nix machen! Vielleicht ist der Richtige noch net gekommen, Edgar«, sagte Meta Baumberger voller Mitleid. »Weißt, wir hatten uns damals auch Sorgen um unseren Toni gemacht. Auch wenn der Vergleich jetzt ein bissel hinken tut. Aber der Toni, der hat einfach kein Madl angeschaut. Ich meine damit, daß er sich hat net binden wollen. Die Dorle und die Thea, die waren ganz schön hinter dem Toni her. Erzählt hat er damals wenig. Wir haben das aber schon mitbekommen. Doch der Toni wollte sie nicht. Dabei waren alle beide net zu verachten. Heute sind wir froh. Heute sind wir von ganzem Herzen glücklich. Jetzt hat der Toni seine Anna. Wer hätte sich damals das träumen lassen, daß unser Bub sich ein Madl aus dem Norden holt, eine von der See und dazu noch eine, die vorher nie in den Bergen war und nur im Büro gesessen hatte. Doch schau dir die Anna an. Die ist ein richtiges Prachtmadl!«

»Ja, des ist sie, unsere Anna! Manchmal, wenn sie redet, dann hört man noch, daß sie net von hier ist. Aber das wird immer besser. Richtig schimpfen kann sie schon. Auch wenn es lustig klingt«, lachte Xaver.

Er prostete Edgar zu.

»Irgendwann passiert es, Edgar! Da bin ich mir ganz sicher. Dann ist die Liebe so stark, daß deine Polly nimmer nein sagen kann. Ich kann verstehen, daß das schwer für dich ist. Aber – darf ich dir was sagen?«

»Für einen Rat bin ich immer dankbar und habe ein offenes Ohr!«

Xaver Baumberger räusperte sich.

»Edgar, wir kennen uns lange. Es bringt nix, wenn du dich einigelst. Du mußt auch mehr unter Leute gehen! Früher bist du immer zum Stammtisch gekommen. Fünf Jahre, ist das net genug? Ich denke net, daß es deiner Alwine recht wäre, daß du dir alle Gesellschaft versagst!«

Edgar Pircher schaute Xaver nicht an. Er trank sein Bierglas aus und stand auf.

»Bist mir jetzt bös’?« fragte Xaver. »Ich wollte dich net verletzen. Weißt, manchmal braucht es einen kleinen Anstoß von außen.«

Edgar Pircher sah Meta und Xaver abwechselnd an.

»Schon gut! Ich weiß das selber! Doch ich kann net über meinen Schatten springen. Außerdem will ich die Polly net allein daheim sitzen lassen.«

Meta schüttelte den Kopf.

»Das ist es doch! Wenn du net aus dem Haus und unter Leut’ gehst, dann kannst du das von deinem Madl auch net erwarten. Sie bleibt daheim, weil du daheim bleibst und du bleibst daheim, weil sie daheim bleiben tut. Mei, da beißt sich die Katze in den Schwanz!«

Meta Baumberger trat neben Edgar. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Edgar, setz dich hin. Ich habe eine Idee. Einen Versuch wäre es wert.«

Edgar setzte sich und sah Meta an.

»Du kannst auch kein Wunder vollbringen!« warf er halbherzig ein.

»Naa, des kann ich net. Für Wunder sind der Herrgott und die Heiligen zuständig. Aber wenn du denen net ein bissel helfen tust, dann können die auch nix machen. Also, höre mir zu, Edgar!«

Der Bauer war skeptisch. Aber er war Xaver und Meta verbunden und wollte den Freunden nicht vor den Kopf stoßen. Es kann ja nichts schaden, wenn ich mir ihren Vorschlag anhöre, dachte er.

»Gut, Meta! Ich höre dir zu!«

Meta lächelte ihn an.

»Es ist doch Hochsaison! Der Toni und die Anna haben auf der Berghütte viel Arbeit. Besonders zum Wochenende gibt es viel zu tun, wenn zu den normalen Urlaubern noch die Wochenendgäste und die Tageswanderer dazukommen. Ich kann mir vorstellen, daß die beiden nix dagegen hätten, wenn deine Polly ihnen da helfen würde. Immerhin ist sie eine gelernte Köchin. Dann käme die Polly auch unter Leute. Junge fesche Burschen gibt es genug. Du kannst an den Tagen hier bei uns essen und bist dann auch unter Leut’. Des solltest du dir mal durch den Kopf gehen lassen. Wenn du nicht herkommen willst zum Essen, dann können wir dir das Essen auch bringen. Es wäre aber schon besser, wenn du kommen würdest.«

»Mei, Meta, des ist eine famose Idee! Des ist wirklich großartig, wie du dir das ausgedacht hast!« Xaver war begeistert.

Edgar Pircher rieb sich das Kinn.

»Ja, ja, die Idee hat was für sich. Ich weiß aber nicht, ob ich meine Polly dafür begeistern kann.«

Meta winkte mit der Hand ab.

»Das mußt du auch net! Du brauchst davon erst einmal nix zu wissen. Ich meine, es wäre klug, wenn die Anregung net von dir kommen würde. Ich rede mit der Anna. Die kann mit Polly sprechen, wenn sie das nächste Mal runterkommt. Die Anna, die wird schon die richtigen Worte finden. Sie kann ja die Polly erst mal bitten, für ein oder zwei Wochenenden auszuhelfen. Dann sieht man weiter. Ich bin sicher, daß es der Polly guttun wird, mal wieder unter Leute zu kommen.«

Edgar dachte nach. Der Gedan-

ke gefiel ihm. Nicht, daß er einmal vom Hof kommen würde, ohne sich Sorgen um seine Polly zu machen. Nein, darum ging es ihm in erster

Linie nicht. Polly käme unter Leu-

te.

»Ja, warum nicht? Wie heißt es so schön? Probieren geht über studieren!« Er lächelte. »Gut, Meta! Dann soll die Anna mal ihr Glück bei der Polly versuchen. Und mein Name ist Hase – ich weiß von nix!«

»So machen wir es, Edgar!«

Xaver Baumberger bot Edgar noch einen Schnaps an. Dann machte sich Edgar auf den Heimweg. Unterwegs kam er an der Kirche vorbei und traf Pfarrer Heiner Zandler.

»Grüß dich, Pircher! Willst des Grab von deiner lieben Frau besuchen?«

»Grüß Gott, Herr Pfarrer! Ja, ich komme vom Baumberger Xaver und seiner Frau. Da dachte ich, ich erzähle meiner Alwine, was wir so beredet haben.«

»So, was habt ihr denn beredet?«

Pfarrer Zandler ging neben Edgar her über den Friedhof, der hinter der Kirche lag.

»Ich mache mir Sorgen um meine Polly. Des Madl ist viel zu ernst und still. Sie ist jetzt fünfundzwanzig und immer noch alleine, verstehen Sie, was ich damit sagen will, Herr Pfarrer?«

»Ja, des verstehe ich. Aber mache dir da mal keine Sorgen.«

»Sie haben leicht reden! Ich will net, daß meine Polly eine alte Jungfer gibt.«

Pfarrer Zandler schmunzelte.

»Warum sollte sie eine alte Jungfer werden?«

»Weil sie keinen Burschen anschauen tut. Ich habe jedenfalls noch keinen gesehen, noch hat sie je etwas erzählt. Das Madl, das muß einen Stein haben, wo andere ein Herz haben. Sagen Sie, gibt es so etwas? Warum tut sich die Polly net verlieben?«

»Das mußt du die Polly selbst fragen, Pircher! Mache dir nicht so viele Sorgen. Fünfundzwanzig Jahre ist net alt. Da kann noch viel geschehen. Der Himmel wird es schon richten! Mußt ein bissel Gottvertrauen haben, Edgar!«

Der Bauer schüttelte den Kopf.

»Seien Sie mir net bös’, Herr Pfarrer! Ich gestehe Ihnen, daß es damit im Augenblick net so zum Besten bestellt ist. Ich bin zwar ein treuer Kirchgänger, aber…«

»Des weiß ich! Aber du haderst mit unserem Herrgott seit dem Tode deiner lieben Frau, stimmt es?«

»Hadern? So kann man des net nennen. Ich verstehe es nur net. Warum? Wo liegt der Sinn darin?«

Pfarrer Zandler legte Edgar Pircher die Hand auf die Schulter.

»Des kann ich dir auch net sagen, Edgar!« Der Geistliche schmunzelte. »Ich betreue zwar hier eine Außenstelle unseres Herren, aber alles, was der Herrgott so entscheidet, des verstehe ich auch net immer. Da bleibt mir eben nur das Vertrauen in die göttliche Vorsehung. Des bleibt dir auch!«

»Lassen Sie es gut sein, Herr Pfarrer Zandler! Ich weiß schon, wie Sie es meinen. Aber es geht net nur um mich. Es geht um mein Madl. Ich weiß, daß Sie so reden müssen. Das ist Ihre Arbeit, Herr Pfarrer. Sie tun das, was Sie müssen – und ich mache meine Arbeit.«

Edgar Pircher zog kurz seinen Hut und ging dann weiter. Pfarrer Zandler blieb stehen. Er beobachtete Edgar eine Weile, dann ging er zurück ins Pfarrhaus.

*

Meta Baumberger telefonierte lange mit Toni und Anna. Sie schilderte mit blumigen Worten die Sorgen von Edgar Pircher und trug ihre Idee vor. Anna und Toni berieten sich kurz. Sie kamen eigentlich ganz gut ohne fremde Hilfe auf der Berghütte aus. Aber wenn sie Polly und ihrem Vater mit dem kleinen Trick helfen konnten, dann waren sie einverstanden. Anna versprach, gleich in den nächsten Tagen auf den Pircher Hof zu gehen und mit Polly zu sprechen.

So geschah es dann auch. Anna wanderte am nächsten Morgen mit Sebastian und Franziska zur Oberländer Alm und brachte sie anschließend in die Schule.

Gleich danach besuchte sie den Pircher Hof.

Sobald Anna mit dem Geländewagen auf dem Hof hielt, kam Polly aus dem Haus gelaufen.

»Grüß Gott, Anna! Das ist ja eine Überraschung!«

»Grüß Gott, Polly!«

Die beiden Frauen begrüßten sich herzlich. Anna deutete an, daß sie etwas auf dem Herzen habe und sich gern mit Polly bereden wollte.

»Dann komme mit rein! Ich wollte eh noch einen Kaffee trinken. Dann bin ich nicht so allein. Der Vater ist rauf auf die Alm.«

Anna folgte Polly in die große Wohnküche des Pircher Hofes.

Sie setzten sich an den Tisch. Polly schenkte Kaffee ein. Anna schaute sich um.

»Das ist eine schöne Küche. Sehr gemütlich!«

»Danke! Freut mich, wenn sie dir gefällt. Sie war auch der ganze Stolz meiner Mutter. Einige Teile gehörten zu ihrer Mitgift. Die anderen Möbelstücke hat sie sich anfertigen lassen, als sie die Küche einräumte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, ich muß so ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein.«

Anna schaute Polly fragend an. Polly lachte.

»Man merkt, daß du nicht von hier bist. Ich werde es dir erklären. Als meine Mutter meinen Vater heiratete, da lebte seine Mutter noch. Hier stand ihre Küche. Meine Mutter hatte nichts oder wenig zu sagen. Dann starb meine Großmutter. Mutter räumte gleich nach der Beerdigung die Küche ihrer Schwiegermutter aus. Alles kam auf den Speicher des Schuppens. Dann stellte Mutter ihre eigenen Sachen auf. Jetzt war sie Herrin auf dem Pircher Hof. Du verstehst, was ich damit sagen

will?«

»Ja, Polly! Soviel habe ich schon dazugelernt. Die Küche der alten Bäuerin bleibt erhalten, bis sie stirbt oder auf den Altenteil zieht oder in das Austragshäusl, wie man hier in den Bergen sagt.«

Anna schüttelte den Kopf. »Ich mache das nicht so – später einmal, denke ich!«

»Wie meinst du das, Anna?«

»Nun, wenn der Basti einmal heiratet und eine Frau zu uns heimbringt, dann muß sie ihre eigene Küche bekommen. Ich kann mir vorstellen, wie wichtig das für die junge Frau ist.«

»Schön von dir gedacht. Aber denkst du nicht, daß der Sebastian dann auf den Bichler Hof ziehen wird?«

Anna zuckte mit den Schultern. Für einen Augenblick huschte ein Schatten über ihr Gesicht

»Anna, habe ich jetzt was Dummes gesagt?« Polly griff nach Annas Hand.

»Nein! Es ist mir nur mal wieder bewußt geworden, daß Sebastian und Franziska nicht unsere leiblichen Kinder sind. Aber wir lieben sie wirklich und sie uns auch. Wir sind eine richtig glückliche Familie. Ich weiß nicht, ob Toni und mir jemals eigene Kinder vergönnt sein werden. So tröste ich mich mit Basti und Franzi. Ich will alles tun, daß sie glücklich sind. Dazu gehört auch, daß man ihnen den Freiraum für ihr eigenes Leben läßt. Dabei kann das schneller kommen, als man denkt. Was sind schon zehn Jahre? Du hast wahrscheinlich recht. Basti wird mit seiner jungen Frau sicherlich auf den Bichler Hof ziehen, den Hof seiner Eltern, den Hof, den er und seine Schwester geerbt haben.«

»Du bist eine gute Mutter, Anna, und wirst bestimmt eine gute Schwiegermutter sein, auch wenn die beiden nicht deine eigenen Kinder sind.«

Anna schmunzelte.

»Ich habe ein gutes Vorbild. Tonis Mutter ist wunderbar. Sie hat mich mit offenen Armen aufgenommen. Sie war und ist so eine warmherzige Frau. Ich mag sie sehr! Sie ist wirklich wie eine Freundin für mich und wie die Mutter, die ich nicht hatte.«

»Du bist Halbwaise gewesen?« fragte Polly entsetzt.

»Nein, Polly! Ich bin Vollwaise. Meine Eltern kamen bei einem Autounfall in den Bergen um! Ich war damals noch ein kleines Mädchen.«

»Oh, Anna, wie schrecklich!«

»Ja, es ist nicht zu ändern! Aber trotzdem hatte ich eine sehr glückliche Kindheit bei meiner Großmutter. Sie war die Mutter meines Vaters. Auf dem Grundstück lebte auch noch der Bruder meines Vaters mit seiner Familie. Alle zusammen waren wir eine richtige Großfamilie. Und jetzt habe ich Toni, die Kinder, den alten Alois und Tonis Eltern, seine Schwester mit Mann und Kindern. Ich freue mich schon auf den Winter. Dann ist die Berghütte eingeschneit und wir sind im Tal. Tonis Schwester kommt oft. Ich genieße diese große Baumbergerfamilie und den Alois dazu. Der schläft in seinem Haus, kommt aber jeden Tag zu den Baumbergers. Meine Schwiegereltern schließen das Wirtshaus und die Pension von Mitte Dezember bis Mitte Januar. In dieser Zeit ist die Familie unter sich. Es ist jedesmal eine schöne erholsame Zeit, in der man Kraft tanken kann für den arbeitsreichen Sommer. ›Arbeitsreicher Sommer‹, das ist das Stichwort. Jetzt haben wir uns verplaudert. So kommt man vom Hundersten ins Tausendste, wie man sagt. Hoffentlich habe ich dich nicht aufgehalten?«

»Nein, Anna! Es ist schön mit dir zu reden. Ich bekomme selten Besuch. Meistens bin ich mit dem Vater allein. Und wenn er auf die Alm geht, den Senn zu kontrollieren, den er eingestellt hat, dann bin ich ganz allein.« Polly lächelte wehmütig. »Früher machten Mutter und ich uns an diesen Tagen eine besonders schöne Zeit. Meine Mutter nannte das die ›Mutter-Madl-Tage‹! Wir gingen zum Friseur oder sie fuhr mit mir nach der Schule nach Kirchwalden. Dort gingen wir durch die Geschäfte, so ganz ungestört. Du verstehst?«

Anna nickte.

»Ich verstehe! Du vermißt sie sehr?«

»Ja, Anna! An solchen Tagen wie heute besonders!«

Polly seufzte tief.

»Was nicht zu ändern ist, damit muß ich mich abfinden! Aber mein Vater vermißt sie noch mehr. Er ist sehr einsam. Ihm fehlt nicht nur die Frau, ihm fehlt die Gefährtin, jemand, der mit ihm viele Jahre gemeinsam gelebt und gelitten, gekämpft und gearbeitet hat. Sie verstanden sich auch ohne Worte. Jeder wußte, was der andere dachte, was zu machen war. Ich versuche, dem Vater zumindest die Hausfrau zu ersetzen. Aber die Gesprächspartnerin, die Gefährtin kann ich nicht ersetzen.«

»Das verlangt doch auch niemand von dir, Polly!«

»Ich weiß! Trotzdem würde ich ihm gern mehr helfen. Aber mir fehlt die Erfahrung.«

»Du machst dir unnötig Sorgen, Polly! Zugleich verstehe ich dich! Doch du hast doch auch ein eigenes Leben.«

»Sicher! Aber ich will erst einmal für Vater dasein. Das habe ich der Mutter auf dem Totenbett versprochen.«

Anna nickte. Dann rührte sie in ihrem Kaffee. Es war ganz still in der Küche. Nur das Ticken der Küchenuhr war zu hören.

»War das der Wunsch deiner Mutter?«

»Nein! Sie hat sich Sorgen gemacht, als sie so krank im Bett lag. Das stimmt! Da habe ich sie getröstet. Sie sollte sich um nichts sorgen. Ich würde mich um alles kümmern. Sie sollte nur wieder gesund werden. In der Nacht hat dann ihr Herz einfach ausgesetzt. Es blieb einfach stehen. Das Fieber, die Lungenentzündung – es war zu viel!«

Anna strich Polly über das blonde Haar.

»Wenn du jemanden zum Reden brauchst, dann bin ich gern für dich da! Ich verstehe dich gut, Polly. Ich war damals noch klein, als die Eltern von einer Fahrt in die Berge nicht mehr heimkamen. Was habe ich sie vermißt! Ich fühle mit dir!«

»Danke, Anna! Dein Trost tut mir gut! Vater gegenüber will ich nicht klagen, damit er nicht zusätzlich belastet wird.«

Polly atmete tief durch.

»Jetzt wollen wir aber das Thema wechseln, sonst kommen bei dir und bei mir die Erinnerungen. Also, warum bist du gekommen? Du wolltest doch etwas mit mir bereden.«

»Ja!« Anna räusperte sich und trank einen Schluck Kaffee.

»Polly, ich habe eine Bitte! Nein, es ist keine Bitte! Es ist erst einmal eine Frage! Nein, das auch nicht. Es war Metas Idee. Also, ich weiß ja nicht… Aber ich dachte, ich frage dich einfach einmal«, sagte Anna und tat, als ob sie verlegen wäre.

»Nun rede schon, Anna!«

»Also! Wir haben auf der Berghütte sehr viel zu tun, besonders an den Wochenenden. Da könnten wir Hilfe gebrauchen, hauptsächlich um die Mittagszeit und abends zwischen sechs und acht Uhr, wenn alle ve-spern wollen. Meine Schwiegermutter meinte, ich sollte dich einmal fragen, ob du mir nicht helfen willst. Es wären erst einmal nur die nächsten beiden Wochenenden. Da haben sich noch zwei Kegelvereine angesagt, die auf dem Geröllfeld biwakieren wollen. Meta erzählte mir, daß du eine gelernte Köchin bist.«

»Ja, das stimmt. Ich habe Köchin gelernt in Kirchwalden.«

»Würde es dir Freude machen, mir auf der Berghütte etwas zur Hand zu gehen?«

»Anna, das würde ich gern. Aber wer kümmert sich in der Zeit um meinen Vater? Er wird sich bestimmt nichts Warmes zubereiten.« Polly lachte. »Seit ihm neulich der Eintopf angebrannt ist, als ich in Kirchwalden war, ißt er nur noch kalt, wenn ich nicht da bin. Er dachte, es dauert lange, bis der Topf heiß ist. Ich hatte ihm vorgekocht. Er ging noch einmal in den Stall. Dann hatte er den Topf vergessen. Erst als Qualmwolken aus dem Küchenfenster über den Hof zogen, erinnerte er sich.«

»Ich weiß. Dein Vater hat es Meta und Xaver erzählt. Er bestellte sich Essen an diesem Tag. Toni hatte es ihm gebracht. Meta schlug vor, wenn du oben auf der Berghütte bist, kann er ›Beim Baumberger‹ essen. Es schmeckt ihm bestimmt und dann ist er auch nicht allein. Er kommt mal wieder unter die Leute. Früher, als deine Mutter noch lebte, war dein Vater jeden Sonntag beim Stammtisch. Jetzt geht er nicht mehr ins Wirtshaus. Vielleicht wäre das auch gut gegen seine Einsamkeit, denkst du nicht?«

Polly beteuerte, daß sie ihren Vater immer und immer wieder ermunterte, zum Stammtisch zu gehen oder auch in der Woche abends auf ein Bier. Er weigere sich aber, damit sie nicht allein sei.

»Dann ist es doch nur gut für ihn, wenn du mal zwei Wochenenden nicht da bist, denke ich. Was meinst du, Polly?«

Polly dachte nach. Anna beschrieb ihr das Angebot noch einmal. Sie bräuchte nur während der Stoßzeiten Hilfe in der Küche. In der anderen Zeit könnte Polly schöne Wanderungen machen, es sich auch ein bissel gutgehen lassen.

»Gut, Anna! Ich bin damit einverstanden, wenn mein Vater zustimmt. Das mußt du verstehen. Wir sind ein eingespieltes Team. Wenn ich zwei Wochenenden zu euch auf die Berghütte gehe, dann muß Vater meine Arbeit auf dem Hof mitmachen. Es ist nicht viel an landwirtschaftlicher Arbeit, was ich mache, nur die Hühner, Hasen, Gänse und Ferkel versorgen.«

»Er wird schon zustimmen! Oder soll ich Meta vorbeischicken, daß sie mit ihm redet?«

»Nein, Anna! Das ist nicht nötig. Ich werde mit ihm sprechen, wenn er morgen von der Hochalm zurückkommt. Ich komme dann am Freitagmorgen zu euch auf die Berghütte und bleibe bis montagfrüh. Wenn die Kinder zur Schule müssen, gehe ich auch mit runter ins Tal.«

»Das ist eine gute Idee! Ich hoffe, du kannst dich hier losreißen, Polly! Ich würde mich freuen. Nicht nur, daß ich Hilfe bekomme – sondern auch, daß wir bei der Küchenarbeit ein bissel reden können. Das würde mir Freude machen.«

Polly schmunzelte, als sie Annas leuchtende Augen sah.

»Ist doch manchmal ein bissel einsam auf der Berghütte, wie?«

Anna schüttelte den Kopf.

»Einsam? So will ich das nicht nennen! Aber ich vermisse gelegentlich eine andere Frau zum Reden. Ich liebe meinen Toni. Er tut alles, damit ich glücklich bin, und auch der alte Alois verwöhnt mich. Aber es gibt Sachen, da redet man lieber mit einer Freundin darüber. Ich überlege seit Wochen, ob ich unser Wohnzimmer umstellen soll. Toni gibt mir freie Hand. Er sagt nur: sage mir, wo du die Möbel hinhaben willst, und ich stelle sie dir um.«

Polly lachte laut.

»Oh, Anna, ich verstehe dich! Dabei willst du vorher darüber reden, ob das Sofa hier oder dort besser aussieht, der Schrank da oder dort hin soll. Ich verstehe dich gut. Das sind Frauensachen. Die Männer begreifen net, daß wir Weiber gern drüber schwätzen und in Gedanken das Zimmer viele Male umstellen, bevor wir es endlich tun.«

»Genau, Polly! Du verstehst mich!«

Die beiden jungen Frauen verstanden sich. Anna war sich ziemlich sicher, daß Polly kommen würde. Sie stand auf.

»Ja, dann hoffe ich, daß du mit deinem Vater einig wirst, Polly! Rufe mich an! Hier ist die Handynummer!«

Anna legte einen Zettel auf den Tisch. Polly griff danach und steckte ihn gleich in die Schürzentasche ihres bunten Dirndls. Sie begleitete Anna noch zum Auto und sah ihr nach, wie sie davonfuhr. Anna sah im Rückspiegel, wie Polly ihr winkte. Anna streckte den Arm aus dem Autofenster und winkte zurück.

Die Polly ist ein nettes Madl.

Hübsch ist sie auch. Den Burschen wird sie schon gefallen, dachte Anna.

Anna fuhr zu ihren Schwiegereltern und erzählte von dem Gespräch mit Polly. Meta und Xaver waren zuversichtlich, daß Polly auf die Berghütte kommen würde.

*

Es war schon ganz dunkel. Der Mond stand am Sternenhimmel. Von den Bergen wehte ein warmer Nachtwind herunter. Es roch nach Tannen, gemischt mit dem würzigen Duft frischgemähter Almwiesen.

Polly saß im Garten des Pircher Hofes. Endlich hörte sie die Schritte. Das kleine Gartentürchen am hinteren Zaun quietschte leise in den Angeln.

Dann kam er den Weg entlang. Polly sprang auf und lief ihm entgegen. Er fing sie auf und drückte sie fest an sich. Ihre Lippen fanden sich zu einem innigen Kuß.

»Bist spät heute, Achim!«

Joachim Vorbauer lachte leise.

»Klingt, als hättest Angst gehabt, daß ich nicht komme!«

Polly gab darauf keine Antwort. Sie drückte ihm einen Kuß auf die Wange und schmiegte sich eng an ihn. Joachim legte seinen Arm um Polly. Sie gingen zur Bank unter dem Apfelbaum. Dort setzten sie sich auf die Bank.

»Die Eltern hatten Besuch! Da sind sie länger aufgeblieben. Ich konnte mich nicht eher wegschleichen!«

»Schade! Heute abend bin ich allein! Vater ist auf der Hochalm!«

»Was du net sagst! Mei, des freut mich, Polly! Dann sind wir ja ganz allein auf dem Hof, wie? Da hätte ich auch vorn rein – ich meine, über den Hof kommen können.«

»Ja, das sind wir! Aber du mußt nicht gleich übertreiben.«

Joachim nahm Polly in den Arm und küßte sie innig.

»Polly, ich liebe dich!«

»Ich liebe dich, Achim!«

Und wieder tauschten sie Küsse.

»Sag mal, Polly! Lang halte ich diese Heimlichtuerei nicht mehr aus! Wir treffen uns nur heimlich mitten in der Nacht, wenn du sicher bist, daß dein Vater schläft. Wie lange soll das noch so gehen?«

»Pst! Achim! Du hast mir versprochen, keinen Druck zu machen und mir Zeit zu lassen.«

»Sicher, Polly! Das habe ich versprochen. Erinnerst du dich, was du mir versprochen hast?«

»Ja!« flüsterte Polly leise.

Ihr Herz war schwer. Sie liebte Joachim Vorbauer. Sie war sich auch seiner Liebe sicher. Doch für Polly war das alles nicht so einfach. Sie mußte auch an ihren Vater denken. Joachim Vorbauer war der Hoferbe des Vorbauer Hofes. Er war der einzige Sohn. Es wurde einfach erwartet, daß er den Hof übernimmt. Seine beiden Schwestern hatten in andere Höfe eingeheiratet. Polly war sicher, daß es leichter gewesen wäre, wenn sie sich in einen Burschen verliebt hätte, der auf den Pircher Hof eingeheiratet hätte. Dann müßte Polly ihren Vater nicht verlassen, wenn sie der Liebe ihres Herzens folgte. Deshalb war Polly trotz aller Liebe zu Joachim ängstlich. Was würde danach aus dem Vater werden, wenn er so allein war? Sicherlich würde sie ihn oft besuchen und sich so gut es ging um ihn kümmern. Aber ihr neuer Lebensmittelpunkt wäre nach der Heirat mit Joachim nun einmal der Vorbauer Hof. Um den Pircher Hof machte sich Polly keine Sorgen. Sie wollte viele Kinder haben. Später einmal könnte ein Kind davon den Pircher Hof übernehmen. Es gäbe dann eben später einmal nicht nur einen Hof zum Weitervererben, sondern zwei Höfe. Doch das dauerte, konnte noch zwanzig Jahre dauern. Bis dahin wäre ihr Vater allein. Mit diesem Gedanken konnte sich Polly nicht anfreunden. So hielt sie Joachim hin. Es war nur Joachims übergroßer Liebe zu verdanken, daß er sich von Polly immer und immer wieder überreden ließ, noch ein bissel Geduld aufzubringen.

»Ich übe schon, den Vater allein zu lassen, Achim!«

»Üben? Wie meinst du das?«

Polly erzählte ausführlich, daß sie die nächsten beiden Wochenenden auf der Berghütte verbringen wollte, um Anna und Toni zu helfen.

»Mei, Madl, des ist ja großartig! Da können wir uns länger sehen. Da verbringe ich auch die beiden Wochenenden in den Bergen.«

»Aber nicht auf der Berghütte! Dort könnte jemand etwas bemerken. Du hast doch versprochen, daß wir alles in Ruhe angehen wollen, Achim. Schau, ich habe doch einen Anfang gemacht. Der Vater geht zu den Baumbergers essen. Er kommt dann unter Leute. Das wird ihm guttun.«

Joachim nahm seine Polly fest in die Arme.

»Ich liebe dich eben so sehr. Ich will dich bald zu meiner Frau machen.«

Polly seufzte tief.

»Ach, Joachim! Wenn Mutter noch leben würde, dann wäre alles anders. Dann wären wir schon verlobt und würden bald heiraten. Aber der Himmel hat sie zu sich geholt und ich habe jetzt die Verantwortung für den Vater. Denke einmal, du wärst an meiner Stelle. Was würdest du tun?«

»Ich verstehe dich ja!«

Polly schmiegte sich eng an Joachim.

»Hast du mit deiner Schwester geredet?«

»Ja, das habe ich! Sie will mit ihrem Mann nach Kirchwalden ziehen. Sie wollen nicht in Waldkogel bleiben. Du weißt ja, daß sich ihr Mann mit seinem Vater überworfen hat. Sein jüngerer Bruder übernimmt jetzt den Hof und zahlt ihn aus. Er will nicht in Waldkogel bleiben. Er hat auch schon eine Stelle in Kirchwalden gefunden, bei der Landwirtschaftsgenossenschaft. Es wird also nix daraus, daß meine Schwester unseren Hof übernimmt mit ihrem Mann. Es bleibt an mir hängen, Polly. Mir würde es nichts ausmachen, zu dir zu ziehen und den Pircher Hof zu meiner neuen Heimat zu machen. Ich würde dich so gern glücklich machen, Polly. Aber ich kann meine Eltern auch net sitzenlassen.«

»Sie sind doch noch zusammen. Dein Vater hat noch deine Mutter. Mein Vater hat nur mich! Sonst niemanden!«

Joachim verstand Polly. Er liebte sie und war in seinem Herzen auch hin- und hergerissen zwischen seiner Liebe zu Polly und seiner Familie. Polly verstand ihn auch. Sie fühlte sich für ihren Vater verantwortlich. Polly tröstete und vertröstete Joachim, daß sie ihren Vater jetzt erst einmal zwei Wochenenden allein lassen würde. Dann sehe man weiter.

»Ich will ihn langsam daran gewöhnen.«

»Vielleicht solltest du dir wieder in Kirchwalden eine Arbeit suchen. Dann ist er allein und muß tagsüber allein zurechtkommen. Wenn ich mich richtig erinnere, wollte er doch nicht, daß du deine Arbeit aufgibst, oder?«

Das konnte Polly nur bejahen. Sie bat Joachim, noch ein wenig Geduld zu haben. Es sei auch alles so schnell mit ihnen gegangen.

»Wer konnte denn wissen, daß der Blitz der Liebe unsere Herzen so schnell und so heftig in Flammen setzt, Achim? Dabei kennen wir uns schon lange. Wir sind beide in Waldkogel aufgewachsen. Warum ist uns die Liebe nicht früher begegnet, als Mutter noch lebte?«

»Das weiß nur der Himmel allein! Ich bin dankbar, daß wir uns überhaupt gefunden haben!«

»Ich ebenso! Ich verspreche dir, daß ich mit meinem Vater rede, wenn die beiden Wochenenden gut verlaufen. Ich werde mich vorsichtig vortasten. Das verspreche ich dir!«

Joachim küßte Polly. In den zärtlichen Küssen spürte sie seine ganze Liebe, sein Verständnis und sein Vertrauen.

»Es bleibt ja immer noch die Möglichkeit, daß dein Vater zu uns auf den Vorbauer Hof kommt. Das Haus könnte er vermieten. Das Vieh bringt er mit. Die Felder bewirtschaften wir zusammen. Laß dir diesen Gedanken einmal durch den Kopf gehen, Polly.«

Polly rückte von Joachim ab.

»Nein! Das will ich ihm net zumuten. Hier auf dem Hof hat er mit meiner Mutter so viele glückliche Jahre verlebt. Ich kann ihn das nicht fragen. Ich kann ihn nicht verpflanzen. Er würde sich heimatlos vorkommen, wie das fünfte Rad am Wagen, Joachim, das mußt du verstehen! Bitte!«

Pollys Stimme klang verzweifelt. Joachim sah ein, daß sein wirkich gutgemeinter Vorschlag nicht auf fruchtbaren Boden gefallen war.

»Es war nur ein Vorschlag, damit du dich weiter um ihn kümmern kannst. Außerdem dachte ich, daß wir bald Kinder haben und er dann auch ständig bei seinen Enkeln wäre. Meine Eltern sind damit bestimmt einverstanden. Sie halten große Stücke von deinem Vater.«

Das hörte Polly gern.

Joachim und Polly saßen noch bis nach Mitternacht zusammen und tauschten Zärtlichkeiten aus. Dann ging Joachim heim und Polly ging in ihr Zimmer.

Sie fand keinen Schlaf. Unruhig wälzte sie sich in ihrem Bett hin und her. Polly stand auf. Sie warf ein wollenes Umschlagtuch um und trat auf den Balkon, der sich über die ganze Giebelseite unter dem weit vorgezogenen Dach erstreckte. Polly setzte sich in ihren Schaukelstuhl. Sie zog die Beine an und schaute in die Nacht. Der Mond stand über dem Gipfel des »Engelssteigs«, einem der Hausberge von Waldkogel. Polly lächelte. Der Mond hängt da wie eine Laterne. So, als würde er den Weg der Engel in den Himmel beleuchten. Denn die Waldkogeler glaubten daran, daß die Engel vom Gipfel des »Engelssteigs« in den Himmel aufstiegen, um die Gebete, Sehnsüchte und Herzenswünsche hinaufzubringen zum Herrgott, seinem Sohn, der Heiligen Mutter Got-tes Maria und allen Heiligen.

Polly dachte nach.

Sie grollte den Engeln, seit sie ihre Mutter geholt hatten. Aber vielleicht gibt es doch einen höheren Sinn hinter allem, etwas, was ich jetzt noch nicht verstehe. Diese Erkenntnis überkam Polly, als sie so still dasaß und an die Engel dachte. Ihr Herz wurde ruhiger. Die Verzweiflung der Zerrissenheit zwischen der Vaterliebe und der Liebe zu ihrem Burschen ließ nach. Was ist, kann ich nicht ändern. Ich muß aufhören, dagegen zu kämpfen.

»Es ist so, wie es ist – es wird schon werden. Es kommt immer etwas Besseres nach. Mußt nur Geduld haben!«

Im Herzen hörte Polly diese Worte, die ihre Mutter oft gesagt hatte. Sie war eine geduldige Frau, die das Leben so nahm, wie es kam und es verstand, aus allem das Beste zu machen.

»Auch ich werde einen Weg finden«, flüsterte Polly vor sich hin.

Und zum ersten Mal seit langer Zeit redete Polly in dieser Nacht wieder mit den Engeln.

»Hört mal, ihr Engel! Ich bin sicher, daß die Mutter im Himmel ist, so gut wie sie war. Sagt ihr, daß ich ein bissel Hilfe brauche. Ich habe ihr versprochen, gut auf den Vater zu achten. Aber ich weiß net, wie ich des machen soll. Ich brauche eine Idee, damit er glücklich wird und meinem Glück an Joachims Seite nix mehr im Wege steht. Mutter hat immer gewußt, was zu tun war. Ich bin ja bereit, alles zu machen – na ja, ich will sagen – fast alles. Auf meinen Joachim will ich net verzichten. Ich liebe ihn wirklich. Ich denke, der Mutter hätte er auch gefallen. Er ist anständig und fleißig. Er ist rücksichtsvoll und geduldig. Ich würde so gern schon bald seine Frau werden. Aber was soll ich dann mit dem Vater machen?« flüsterte Polly leise.

Sie seufzte. Dann stand sie auf und trat an das Geländer.

»Hört mir mal gut zu, ihr Engel! Wie die Mutter in den Bergen auf dem Heimweg von der Hochalm in den Sturm gekommen war, da habt ihr net gut aufgepaßt. Des wollte ich euch schon immer mal sagen. Ich gebe zu, daß des damals ein schlimmer Wettersturz gewesen ist. Sicherlich habt ihr so viel zu tun gehabt. Aber ein bissel besser hättet ihr schon achtgeben können. Der Teufel ist damals sicher aus dem ›Höllentor‹ gekommen. In drei Höfen hat der Blitz eingeschlagen. Der Teufel hat ganz schön gewütet. Die Mutter ist dann krank geworden und ihr habt sie geholt. Seither habe ich immer das Gefühl, daß der Teufel gewonnen hat und er immer noch nach dem Glück auf dem Pircher Hof greift. Des muß einmal ein Ende haben. Also tut etwas! Ihr müßt des wieder gutmachen, denke ich«, sagte Polly trotzig.

Polly fror jetzt etwas. Sie zog ihr Schultertuch enger um den Körper und hielt es vorne über der Brust zusammen. Sie stand noch eine Weile auf dem Balkon und erinnerte sich an die Geschichten über die Berge »Engelssteig« und »Höllentor«, die man sich seit Jahrhunderten in Waldkogel erzählte. Ja, es war damals wirklich so, als würde die Welt untergehen. Am hellichten Tag war es dunkel wie in der Nacht. Stundenlang tobte ein Gewittersturm über dem Tal. Alle hatten Angst. Pfarrer Zandler ließ damals die Glocken der schönen Barockkirche läuten zum Trost und als Erinnerung aller Waldkogeler. Das war auch nötig. Denn jeder, der bis dahin nicht davon überzeugt war, daß es auf dem Gipfel des »Höllentors« eine Tür zur Hölle gab, fing an darüber nachzudenken. Je länger der Sturm dauerte, desto mehr wurden auch die letzen Zweifler davon überzeugt, daß der Teufel an diesem Tag aus dem »Höllentor« herausgekommen war. Es war an diesem Tag nicht mehr hell geworden. Als der Sturm endlich aufhörte, war es schon tiefe Nacht.

In Gedanken durchlebte sie diese Stunden und die drauffolgenden beiden Wochen noch einmal, bis ihre Mutter starb. Wie verlassen hatte sich Polly danach gefühlt! Erst Joachims Liebe veränderte dies. Polly spürte, daß sie zu Joachim gehörte.

»Es wird alles gut werden! Es wird alles gut werden!« flüsterte Polly vor sich hin.

Dann ging sie wieder ins Bett. Sie zog die Decke hoch und schlief gleich ein.

*

Am darauffolgenden Freitag kam Polly auf die Berghütte. Anna freute sich sehr. Die beiden Frauen harmonierten bei der Küchenarbeit sehr gut. Polly machte die Vorarbeiten. Sie schälte Kartoffeln, putzte das Gemüse, richtete den Teig für das Brot und die Kuchen und vieles mehr. Während der Mittagszeit richtete Polly das Essen und Anna half Toni beim Servieren.

»Mei, Madln! Ihr seid ja ein richtig eingespieltes Team«, freute sich Toni.

»Und Spaß haben wir auch«, lachte Anna.

Toni sah, wie gut es seiner Frau tat, daß sie sich während der Arbeit mit Polly unterhalten konnte.

So verging der Tag.

Nach dem Abendessen spülten Anna und Polly das Geschirr in der Küche. Die meisten Hüttengäste saßen auf der Terrasse der Berghütte und schauten in den Sonnenuntergang. Die Sonne stand als große rotgoldene Scheibe im Westen über den Bergen. Polly warf immer wieder einen Blick aus dem Küchenfenster.

»Hier oben erlebt man den Sonnenuntergang ganz anders als drunten in Waldkogel. Der Höhenunterschied, der macht sich bemerkbar und natürlich die wunderbare Weite des Blicks über das Tal und die Bergspitzen.«

Anna lächelte.

»Klingt, als wärst du eine Touristin und nicht aus Waldkogel. Das hört sich an, als hättest du nie einen Sonnenuntergang in den Bergen erlebt.«

»Anna, du wirst es nicht glauben. Aber es ist wirklich so. Ich kenne nur Sonnenuntergänge, wie ich sie auf unserer Hochalm erlebt habe. Doch so hoch wie hier auf der Berghütte – niemals. Das ist neu für mich. Es ist wunderbar.«

»Dann bist du auch nie mit einem Burschen in den Bergen gewesen. Ich spreche von einem verträumten Stelldichein beim ›Erkerchen‹ – wie?«

»Nein! Soweit bin ich nicht!« Polly seufzte. »Damals, bevor Mutter starb, da war ich noch zu jung, um einen Burschen zu haben, mit dem ich mich gerne beim ›Erkerchen‹ verabredet hätte.« Polly seufzte noch einmal. »Und danach war nichts mehr, wie es einmal war. Ich bin jeden Abend daheim. Ich muß doch für Vater sorgen.«

Sie waren fertig. Anna hing die Geschirrtücher auf eine Stange unter der Decke in die Nähe des Ofens, damit sie trocknen konnten.

»Heißt das, daß du keinen Burschen hast?« fragte Anna.

Pollys Reaktion verwunderte An-na doch. Polly wurde tiefrot im Gesicht und sehr verlegen.

»So, so! Da gibt es aber einen, der dir gefällt, wie?«

»Anna! Oh, ja! Dir gegenüber kann ich es ja zugeben. Du tust mich bestimmt nicht verraten, oder?«

»Nun rede schon, Polly!«

»Ja, da gibt es einen, der mir gefällt. Ich liebe ihn und er liebt mich. Wir treffen uns nachts bei uns im hinteren Teil unseres großen Gartens, der zum Pircher Hof gehört. Mein Vater geht immer früh schlafen. Ich warte dann, bis ich höre, daß er eingeschlafen ist. Wie viele Männer hat er einen lauten Schlaf. Er sägt den Wald ab. Er nimmt auch Schlaftabletten, die ihm der Martin nach Mutters Tod verordnet hat, weil er nicht schlafen konnte.«

»Aha, ich verstehe, Polly! Während dein Vater in Träumen liegt,

gehst du deinen eigenen Träumen nach – allerdings im wachen Zustand.«

»Ja! Vater weiß noch nichts davon. Der Bursche drängt mich, endlich mit Vater zu sprechen. Doch ich habe Angst, Anna. Was wird aus Vater werden, wenn ich heirate und zu meinen Mann auf dessen Hof ziehe? Dann ist Vater ganz allein!«

»Du kannst dein Leben nicht opfern, Polly! Willst du mir nicht sagen, wer er ist?«

»Du darfst es aber wirklich niemandem verraten, Anna! Es ist Joachim Vorbauer, der Erbe des Vorbauer Hofes.«

»Oh, der Achim! Das ist ein fescher Bursche. Ich habe ihn öfters mit seinem Vater im Wirtshaus bei meinen Schwiegereltern gesehen. Er kommt mit seinem Vater zum Stammtisch, aber er geht immer früher. Jetzt ahne ich, warum das so ist. Er trifft sich wohl mit dir.«

»Ja, Anna! Der Joachim ist nicht nur fesch. Er ist ein ganz lieber und rücksichtsvoller Bursche. Aber ganz allmählich wird er ungeduldig. Ich sehe ja ein, daß es so auf Dauer mit uns nicht weitergehen kann. Deshalb denke ich mir, daß es ganz gut ist, wenn ich zwei Wochenenden nicht daheim bin. Ich bin gespannt, wie Vater das bekommt.«

»Er geht zu meinen Schwiegereltern essen. Er kommt unter Leute. Das wird sicherlich auch eine schöne Zeit für ihn sein. Polly, ich kann dir nur noch einmal sagen: Opfere dein Leben nicht! Zerstöre die Liebe zwischen dir und Achim nicht aus falschverstandener Vaterliebe. Das ist Unrecht und Verschwendung! Meinst du nicht auch?«

»Ich kann einfach nicht aus meiner Haut. Ich bin hin- und hergerissen zwischen Achim und meinem Vater. Ich suche verzweifelt nach einem Weg, damit ich meine Liebe leben kann.«

Anna dachte nach.

»So auf Anhieb fällt mir da auch nichts ein. Aber ich werde darüber nachdenken. Auf jeden Fall solltest du offen mit deinem Vater darüber reden. Ich denke, daß er auch dich glücklich sehen will. Es kann ihm sicherlich nicht recht sein, wenn du auf deine Liebe verzichtest.«

Polly nickte.

»Übrigens, Achim weiß, daß ich hier oben bin. Ich hoffe, daß er kommt. Versprochen hat er es jedenfalls. Bitte laß dir nichts anmerken, Anna!«

Anna lachte laut, aber herzlich.

»Meine gute Polly! Denkst du wirklich, daß ihr eure Liebe, die Verbundenheit eurer Herzen geheimhalten könnt? Das bezweifele ich stark. Das ist in meinen Augen ganz unmöglich. Wenn zwei verliebt sind, dann kann man es sehen. Das war bei mir auch so!«

Anna erzählte Polly, wie sie sich im Zug in Toni verliebt hatte und wie ihre Freundin Sue in Frankfurt ihr das ins Gesicht gesagt hatte. Anna gab zu bedenken, daß Pollys Vater vielleicht auch schon etwas bemerkt haben könnte. Doch Polly schüttelte heftig den Kopf. Sie war davon überzeugt, daß ihr Vater von den heimlichen Treffen im Garten nichts ahnte.

Toni betrat die Küche.

»Polly, du hast Besuch bekommen!« Toni drehte sich halb um und rief in die Wirtsstube der Berghütte: »Komm hierher, Achim! Die Polly ist in der Küche. Die Anna und die Polly schwatzen gemütlich!«

Polly wurde tiefrot.

»Warum hast du nach mir gefragt?« begrüßte Polly Achim vorwurfsvoll.

Achim ging auf Polly zu und nahm sie in den Arm. Er zog sie an sich und küßte sie.

»Warum? Weil du mein Madl bist – und ich dich liebe! Ich habe mit Toni gesprochen. Er tut uns nicht verraten und die Anna und der alte Alois bestimmt auch nicht.«

»Aber die Kinder, Basti und Franzi könnten etwas erzählen!«

»Mei, Polly! Jetzt gib aber Ruhe! Deine Sorge ist ja fast schon krankhaft.«

Toni räusperte sich.

»Wie wäre es, wenn ihr beide euch ein paar schöne Stunden macht. Es dauert noch eine ganze Weile, bis es ganz dunkel ist. Macht doch einen schönen Spaziergang. Geht den Pfad zum ›Paradiesgarten‹ hinauf.«

»Oder lauft rüber zum ›Erkerchen‹!« warf Anna ein.

Anna reichte Polly deren Wanderjacke, die in der Küche am Haken hing.

»Nimm deine Liebste schon und verschwinde, Achim! Die Polly hat mir von dir erzählt. So geheim ist eure Liebe nicht mehr.«

»Des mag hier auf der Berghütte so sein. Doch noch hat die Polly nicht mit ihrem Vater geredet. Ich bin mir nicht sicher, daß sie wirklich zu mir steht.«

»Dann mußt du das herausfinden, Achim. Dazu ist ein Abend und eine Nacht beim ›Erkerchen‹ gut geeignet. Es ist eben der Ort, wo sich die Herzen der Liebenden besonders nah kommen. Jetzt geht schon! Und vor Mitternacht erwarte ich euch nicht zurück.«

Joachim schmunzelte. Er legte seinen Arm um Pollys Schultern.

»Da hörst du es! Der Anweisung des Hüttenwirts müssen wir schon nachkommen.«

Joachim führte seine Polly hinaus. Toni ging mit bis zur Terrasse. Er vergewisserte sich, daß Joachim eine Stablampe dabei hatte.

»Da kannst du unbesorgt sein, Toni! Ich habe einen vollen Rucksack mit Proviant und auch eine Lampe.«

Toni sah den beiden nach.

Es war kurz nach Mitternacht, als Polly und Joachim zurückkamen. Sie sahen sehr glücklich aus. Toni, Anna und der alte Alois saßen beim Kamin. Gemeinsam tranken sie noch einen warmen Tee und ließen den Tag ausklingen.

»Da seid ihr ja wieder! Schaut gut aus, ihr beide. Wollt ihr euch nicht auch ein bissel zu uns setzen? Mögt ihr einen warmen Tee mit einem Schuß Rum?«

Sie setzten sich. Toni brachte zwei Becher.

»Du trägst ja einen Ring, Polly!« staunte Toni, als Polly ihm ihren Becher abnahm.

Joachim legte den Arm um Polly.

»Ja, das stimmt! Ich habe Polly heute den Ring mit dem schönen Stein geschenkt. Sie soll wissen, wie ernst ich es meine.«

Polly mußte Anna und dem alten Alois den Ring zeigen.

»Dann ist es euch ernst?« fragte Alois.

»Ja, es ist uns ernst. Wir wollen heiraten! Es war schön am ›Erkerchen‹. Wir konnten endlich einmal ungestört über alles reden, ohne daß die Polly Angst haben mußte, ihr Vater könnte kommen. Jetzt müssen wir nur noch einen Weg finden, damit ihr Vater nicht so allein ist. Aber Polly hat mir fest versprochen – einen heiligen Eid hat sie geschworen –, daß sie mit ihrem Vater reden wird. Ja, ja, wir sind uns einig, daß wir zusammengehören. Nur, wie wir das mit Pollys Vater regeln, da sind wir uns noch nicht einig. Ich kann Polly verstehen. An ihrer Stelle würde ich mir genauso viele Gedanken machen.«

Joachim drückte seine Polly fest an sich.

»Joachim hat den Vorschlag gemacht, daß ich mit dem Pfarrer Zandler reden soll. Vielleicht hat er eine Idee. Vielleicht kann er bei Vater etwas vorfühlen, damit ihn meine Ankündigung nicht so sehr treffen wird. Was meint ihr?«

Toni und Anna hielten das für eine gute Idee. Der alte Alois zog an seiner Pfeife. Jeder sah ihm an, daß er über etwas nachdachte. Wenn Alois gedanklich mit etwas beschäftigt war, dann qualmte sein Pfeife besonders stark. Toni fragte ihn, was ihm so durch den Kopf ging.

Der alte Alois trank einen Schluck Tee.

»Des war früher einfacher! Wenn eine Bäuerin gestorben war, dann wußte der Bauer, daß er sich eine neue Frau nehmen muß. Die Frauen sind oft im Kindsbett geblieben, wie ich noch ein Bub gewesen bin. Gott sei Lob und Dank ist des heute nimmer so. Aber es wäre wirklich net das Allerschlechteste, wenn der Pircher wieder heiraten würde. Dann wäre er versorgt und du müßtest dir keine Sorge um ihn machen, Polly.«

»Daran habe ich auch schon gedacht. Aber Vater wird das nie machen. Er liebte die Mutter und will ihr wohl über den Tod hinaus die Treue halten. Einer anderen Frau sein Herz zu schenken, das kommt für Vater nicht in Frage – denke

ich.«

Der alte Alois schüttelte den Kopf.

»Jede Liebe ist anders, Polly! Es wäre für deinen Vater eine neue Liebe. Damit würde er seine gute Alwine nicht vergessen. Sie ist ja auch deine Mutter. Es würde für ihn einfach ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Wie alt ist dein Vater jetzt, Polly?«

»Noch nicht einmal fünfzig Jahre!«

Dicke Qualmwolken stiegen aus Alois’ Pfeife.

»Polly, sagt dir der Name Lioba Fischer etwas?«

»Nein, Alois! Wer soll das sein?«

Der alte Alois schaute lange in die Flammen des Kamins. Jeder konnte ihm ansehen, daß er einen innerlichen Kampf ausfocht.

»Polly, ich war schon lange Hüttenwirt, damals, als ich die Lioba Fischer kennenlernte. Sie war eine ganz besondere Bergliebhaberin. Sie kam mindestens zweimal im Monat zum Wandern und Klettern hierher auf die Berghütte. Sie kam aus einer großen Stadt am Rhein. Wenn ich mich richtig erinnere, dann stammte sie aus Köln. Mei, konnte des Madl klettern – wie eine Gemse! Alle ledigen Burschen aus Waldkogel sind hinter ihr her gewesen. Alle! Aber einer machte das Rennen!«

Der alte Alois schaute in die Runde. Er blickte Polly in die Augen. Diese ahnte, was Alois sagen wollte.

»Du meinst, daß sich mein Vater in diese Lioba verliebt hatte?«

»So ist es gewesen! Mei, war die Lioba ein fesches Madl! Sie kam aus der Stadt. Sie liebte aber das Landleben und besonders die Berge.«

Alois trank wieder einen Schluck Tee und schaute in die Flammen, während er weitererzählte.

»Die beiden, diese Lioba Fischer und dein Vater, die waren ganz vernarrt ineinander. Mindestens einmal im Monat sind sie rauf auf den Gipfel des ›Engelssteigs‹. Im alten Gipfelbuch, daß der Bürgermeister aufbewahrt, da drin mußt du die Einträge der beiden finden können… wenn es dich interessiert.«

Polly schaute Joachim ernst an.

»Achim, das bedeutet ja wohl, daß der Vater vor meiner Mutter fest mit einer anderen zusammen war, oder?«

Joachim bestätigte Polly, daß sich dies für ihn auch so anhörte.

»Vater hat nie etwas von seiner Jugendliebe erzählt«, sagte Polly leise. »Vielleicht war diese Verbindung doch nicht so bedeutend, wie sie dir erscheint, Alois!«

»Schmarrn!« stieß der alte Alois hervor. »Des war keine freundschaftliche Verbindung zwischen dem Edgar und der Lioba. Das war Liebe! Richtige Liebe! Verstehst?«

Polly schaute Alois ungläubig an.

»Warum hat Vater diese Lioba Fischer dann nicht geheiratet?«

Der alte Alois zuckte mit den Schultern.

»So genau weiß ich des auch nimmer! Des ist alles schon so lange her! Es ist mir nur in Erinnerung geblieben, daß dein Vater am Boden zerstört war, als es aus gewesen war mit der Lioba. Vollaufen lassen hat er sich hier auf der Berghütte. Seinen Liebeskummer wollte er ertränken. Drei Tage hat er gebraucht, bis seine Kopfschmerzen und die Folgen von dem Rausch vorbei gewesen waren. Er war ja fast bewußtlos. Ich dachte, der kommt nimmer zu sich. Ich hatte unseren alten Doktor gerufen, weil ich mir Sorgen machte.«

Polly staunte immer mehr.

»Vater hat nie etwas erzählt, wirklich!«

Der alte Alois lachte.

»Darüber redet ein Mannsbild net gern, Polly! Des war bei Gott kein Ruhmesblatt, was dein Vater da abgeliefert hatte.«

Nach und nach erfuhr Polly, daß ihr Vater viele Wochen lang, Tag für Tag, in Waldkogel abends das Wirtshaus besuchte und am Wochenende auf die Berghütte kam. Er trank sehr viel – um es höflich auszudrücken. Die alten Pirchers waren verzweifelt. Sie setzten durch, daß ihm niemand mehr Bier oder Schnaps gab.

»Ja, so war das damals! Auf dem Pircher Hof hing der Haussegen schief. Deine Großmutter wurde vor lauter Kummer über ihren Buben eine Zeitlang bettlägerig. Der alte Doktor brachte deine Mutter auf den Hof. Alwine sollte deine Großmutter pflegen und daß sie auch eine Frau zum Reden hatte. Dann ging alles ganz schnell. Dein Vater und deine Mutter heirateten.«

Der alte Alois lachte. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht erzählte er von dem Getuschel in Waldkogel. Jeder nahm an, daß da etwas Kleines unterwegs sei.

»Doch du wurdest erst gut ein Jahr später geboren! Es muß also Liebe gewesen sein zwischen Edgar und Alwine. Eine ganz besondere Liebe, denke ich mir.«

Polly nippte an ihrem Tee. Sie dachte nach. Ja, es mußte eine ganz besondere Liebe gewesen sein zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter, nachdem ihr Vater doch vorher offensichtlich so enttäuscht worden war.

»Was ist aus dieser Lioba Fischer geworden? Ist sie später noch einmal gekommen?«

»Naa! Nie! Sie wollte deinem Vater bestimmt nicht begegnen!«

Der alte Alois lehnte sich in seinem Schaukelstuhl zurück.

»Polly! Verstehen konnte ich das Ganze nicht. Warum es zum Bruch zwischen ihnen gekommen war, das war und ist mir ein Rätsel. Es ist ja auch schon lange her und dein Vater hat mir vielleicht damals nicht alles erzählt. Ich weiß nur, daß die beiden ein so schönes Paar waren. Ich erzähle dir das nur, damit du begreifst, daß es verschiedene Arten von Liebe gibt. Warte, da fällt mir etwas ein!«

Der alte Alois stand auf und ging in seine Kammer. Nach einer Weile kam er mit einem alten Schuhkarton voller vergilbter alter Fotos zurück. Er stöberte darin. Endlich fand er einige Bilder. Die Aufnahmen waren in und vor der Berghütte gemacht. Es waren Wanderer und Bergsteiger darauf zu sehen.

»Des war die Seilschaft von damals, Polly! Und schau! Da ist dein Vater mit seiner Lioba! Welch schönes Paar! Schau selbst! Prächtig sehen die beiden aus. Richtig fesch und so glücklich!«

Der alte Alois reichte Polly das Bild. Sie betrachtete es.

»Der Vater schaut wirklich glücklich aus!« sagte sie leise. »Er strahlt so richtig!«

Polly sah ihren Joachim an.

»Joachim! Auf dem Foto hier schaut mein Vater noch besser und fröhlicher und glücklicher aus, als auf dem Hochzeitsbild, das bei ihm im Zimmer hängt.«

Anna runzelte die Stirn.

»Das muß nichts zu bedeuten haben, Polly! Auf den alten Hochzeitsbildern sahen alle Paare ziemlich ernst aus. Das ist auf den Bildern meiner Eltern und auch auf dem Bild von meinem Onkel und seiner Frau nicht anders. Das hat nichts zu sagen.«

Polly betrachtete das Bild. Sie konnte die Augen nicht davon losreißen.

»Kann ich das vorläufig behalten, Alois?«

»Das kannst du gern behalten, für immer! Schau doch, ich habe so viele Bilder von damals. Da gibt es noch mehr Aufnahmen, auf denen dein Vater mit Lioba zu sehen ist. Was willst du damit machen, Polly?«

Polly fuhr mit den Fingern liebevoll über das Foto.

»Ich weiß noch nicht genau! Ich habe nur so ein Gefühl im Herzen. Nun, ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen. Wie gesagt, es ist nur ein Gefühl, so ein seltsames Bauchgefühl!«

»Dann mußt du dem nachgehen, Polly! Mußt ja nichts überstürzen!« sagte Toni und dachte sich seinen Teil.

Der alte Alois ist wirklich ein wandelndes Geschichtsbuch, bemerkte Toni später zu Anna. Toni nahm sich vor, seine Eltern nach dieser alten Geschichte zu fragen, wenn er sie nächste Woche sehen würde.

Das Wochenende war schön. Die Berghütte war voll. Polly half Anna in der Küche. Joachim blieb das ganze Wochenende auf der Berghütte. Er ging Toni zur Hand. Abends spazierten Joachim und Polly Hand in Hand zum ›Erkerchen‹ und verbrachten wunderschöne Augenblicke im Sonnenuntergang. Sie blieben immer bis spät in die Nacht. Nur die Sterne und der silberne Mond waren Zeugen ihrer Liebesbeteuerungen. Sie küßten sich, tauschten Zärtlichkeiten aus und genossen die Nähe des anderen.

Am Montagmorgen, früher als vorgesehen, verließen Polly und Joachim die Berghütte. Kurz bevor der Pfad die Oberländer Alm erreichte, trennten sie sich. Polly wollte von Hilda und Wenzel Oberländer nicht mit Joachim zusammen gesehen werden. So wartete sie eine Weile vor der letzten Biegung. Dann ging sie weiter. Sie grüßte Hilda und ihren Mann kurz, stieg in ihr Auto und fuhr davon.

*

Als Polly auf dem Pircher Hof ankam, versorgte ihr Vater bereits das Vieh.

»Schön, daß du wieder da bist, Pollymadl! Wie war es auf der Berghütte?«

»Schön war es! Sehr schön! Viel Arbeit war es auch! Respekt, Respekt vor dem, was die Anna da leistet – der Toni auch, aber die Küchenarbeit, die macht größtenteils die Anna. Da muß ich sie einfach bewundern.«

Polly lächelte ihren Vater an.

»Und wie war es bei dir?«

»Nix Besonderes! Ich war bei der Meta und dem Xaver zum Essen. Dann bin ich abends noch geblieben und habe am Stammtisch einige Bier getrunken. Der Pfarrer war da, dann noch der Förster, der Weißgerber vom Sägewerk war da, der Bürgermeister, der Martin, unser Doktor, ist gekommen und noch ein paar jüngere Burschen«, zählte er auf. »Und was waren für Leut’ auf der Berghütte?«

»Fremde! Jedenfalls für mich! Der alte Alois hat Geschichten erzählt. Ich habe auch ein altes Foto vom Alois bekommen.«

»So? Kann ich des mal sehen?«

»Später, Vater! Jetzt helfe ich dir schnell! Dann machen wir uns ein gemütliches Frühstück und schwatzen.«

So geschah es dann auch.

Ein wenig später saßen Polly und ihr Vater gemütlich in der Küche beim Frühstück. Es duftete nach Kaffee und Brötchen, die Polly aufgebacken hatte. Dazu gab es Butter und Marmelade aus Gartenfrüchten und Beeren des Pircher Hofes.

Edgar Pircher musterte seine Tochter.

»Schaust richtig gut aus, Madl! Dabei hast du sicher die Tage schwer gearbeitet. Hast so ein Leuchten in den Augen!«

Polly lächelte verlegen. Wenn man verliebt ist, kann es jeder sehen, dachte Polly und erinnerte sich an Annas Worte.

»Ach, Vater, es war schön. All die vielen Leute. Fröhlich waren sie. Nur zu den Stoßzeiten war viel zu tun. Aber ich hatte genug Zeit, auch die Berge zu genießen. Abends habe ich mich verzogen. Bin spazierengegangen. Das war richtig schön. Wie Urlaub!«

Polly biß in ihr Brötchen. Sie kaute bedächtig. Dann kramte sie in ihrem Rucksack, der neben ihr auf der Eckbank der Wohnküche stand.

»Wo habe ich das Foto nur hingesteckt? Dieser Rucksack hat so viele Taschen.«

Sie suchte weiter.

»Endlich! Da ist es! Das soll ich dir vom alten Alois geben. Er hat viel von dir erzählt. Bist als junger Bursch oft bei ihm auf der Berghütte gewesen, wie?«

»Ja, des kann man so sagen!«

Edgar Pircher griff in die Brusttasche seines karierten Arbeitshemdes und holte seine Lesebrille heraus. Er zog sie auf und betrachtete das Bild.

»Mei, des ist lange her! Sag’ dem Alois ein herzliches ›Vergelt’s Gott‹! Er hat mir damit eine wirkliche Freud’ gemacht. Mei, des kommt mir vor wie aus einem anderen Leben. Was aus all den Burschen geworden ist?«

Lächelnd betrachtete Edgar das Foto. Wie von selbst fing er an zu erzählen. Nach und nach stellte er jeden einzelnen Burschen vor. Sie waren eine eingeschworene Seilschaft gewesen.

»Ja, ja! Alles richtige Bergler! Wir sind fast jedesmal rauf auf den ›Engelssteig‹. Bei schönem Wetter sind wir bis zum letzten Augenblick geblieben. Einmal haben wir dort sogar biwakiert. Wir wollten dem Himmel ganz nah sein. Ohne Zelt lagen wir dick eingehüllt in unseren Schlafsäcken und schauten hinauf in den nächtlichen Sternenhimmel. Das war ein besonderes Erlebnis.«

Pollys Vater erzählte und erzählte. Immer wieder hielt er Polly das Bild hin und zeigte mit dem Finger auf Personen.

»Auf dem Bild schaust du richtig glücklich aus, Vater!«

»Damals ist man jung gewesen. Nix konnte die Gedanken an die Zukunft trüben. Na ja, so ist das eben, wenn man jung ist. Das ist auch gut so. Zum Glück weiß man net, was noch alles auf einem zukommen tut.«

Edgar Pircher trank einen Schluck Kaffee. Er konnte kaum die Augen von dem Foto lassen. Sein Brötchen lag angebissen auf dem Teller.

Da kam Polly ein Gedanke. Es war ein Lüge, aber der Zweck heiligt die Mittel, dachte sie und Pfarrer Zandler hat dafür bestimmt Verständnis.

»Der alte Alois, der hat in den alten Aufzeichnungen die Adressen der Leute. Sicherlich sind viele umgezogen. Aber mit ein bissel Mühe lassen sie sich bestimmt finden. Der Alois will ihnen allen schreiben, daß die Berghütte wieder offen ist und jetzt dem Toni und der Anna gehört.«

Edgar Pircher hörte seiner Tochter genau zu, als sie erzählte, Alois wollte ein Fest für die alten Bergkameraden geben.

»Was meinst, Vater? Wie viele werden kommen?«

Edgar überlegte.

»Ich hoffe für den Alois, daß viele kommen. Ich muß mal die alten Sachen auf dem Speicher durchsehen. Vielleicht habe ich auch noch einige Anschriften. Mit einigen war ich noch Jahre nach unserer aktiven Zeit in Kontakt. Bei Gelegenheit werde ich mal nachsehen, oder eilt es dem Alois?«

»Naa! Naa!«

Polly trank einen Schluck Kaffee.

»Die Burschen darauf sind leicht zu finden. Bei dem Madl, des du da im Arm hast, wird es schwieriger sein. Sicher hat sie inzwischen geheiratet. Dann hat sie einen anderen Familiennamen.«

Polly lachte absichtlich.

»Schaust ja gut aus, Vater, wie du des Madl im Arm hast. Wer ist es?«

Polly sah, wie ihr Vater leicht rote Wangen bekam.

»Des Madl? Ja, des war die Lioba Fischer. Sie war aus Köln. Mei, war die fesch! Wir waren eng befreundet.«

»Oh! Was höre ich da? Dann hast du vor der Mutter schon mal ein Madl gehabt?«

Jetzt wurde Edgar Pircher tiefrot und sehr verlegen.

»Ja, deine Mutter war nicht mein erstes Madl«, gestand er verlegen.

Ohne daß Polly weiter nachfragen mußte, fing ihr Vater an zu erzählen.

»Ich habe die Lioba sehr geliebt. Offiziell waren wir net verlobt, aber jeder in Waldkogel wußte, daß wir zusammengehörten. Wenn sie kam, dann wohnte sie oft hier auf dem Hof. Wir sind dann zusammen auf die Berghütte rauf. Deine Großeltern mochten die Lioba sehr. Sie war schon ein ganz besonderes Exemplar von Madl. Weißt, so ein Madl, das man nie im Leben vergißt.«

»Aber geheiratet hast dann die Mutter, net die Lioba!«

Edgar Pircher seufzte.

»Ja, geheiratet habe ich dann die Alwine. Des mit der Lioba, des ist plötzlich in die Brüche gegangen. Des war damals schlimm für mich. Da ist eine Welt zusammengebrochen. Ich fühlte mich, als wäre der ganze Hang vom ›Höllentor‹ auf einmal runtergekommen.«

Er seufzte wieder.

»Ich hoffe von ganzem Herzen, daß die Lioba ein glückliches Leben hat!«

Polly bestrich sich noch ein Brötchen. Dabei fragte sie, wie beiläufig, wer Schluß gemacht hatte, Vater oder das Madl. Ihr Vater bat sie, keine weiteren Fragen zu stellen.

»Weißt, Polly, die erste Liebe, die vergißt man nie! Ganz gleich, wie alt man wird. Wenn man daran denkt, dann spürt man so ein wehmütiges Gefühl.«

»Da kann ich noch nicht mitreden. Aber der Lioba aus dem Weg gehen kannst du auch nicht. Stell’ dir vor, sie käme zum Treffen von dem alten Alois. Ich nehme doch stark an, daß du auch hingehst.«

Edgar Pircher zuckte mit den Achseln.

»Da ist des letzte Wort noch net gesprochen. Erst mal sehen, wen der Alois findet und wer kommt. Dann sehen wir weiter.«

»Vater!« Pollys Stimme klang streng. »Du bist doch net feige und hast vor dieser Lioba Angst?«

»Angst? Naa! Angst hab’ ich vor nix und niemand!«

»Ich dachte ja nur, vielleicht hast Angst, dich wieder in sie zu verlieben? Das könnte doch sein, oder? Es war deine erste Liebe!«

»Die erste und die einzige große Liebe!« flüsterte Edgar leise und betrachtete weiter das Foto.

Polly schwieg. Sie hatte den Satz genau gehört und die Worte verstanden. Nach einer Weile sprach ihr Vater weiter. Er versicherte Polly, daß er ihre Mutter auch geliebt habe.

»Das weiß ich doch!«

»Es war aber eine andere Liebe. Deine Mutter wußte von Lioba und ich von einem Burschen, der Alwines erste und große Liebe war. Sie hatte damals Liebeskummer, als sie zu uns auf den Hof kam. Sie war Krankenschwester. In dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete, gab es einen jungen Arzt. Sie verlobten sich sogar. Doch dann kam eine junge Ärztin und es war aus und vorbei.«

Polly erfuhr, daß ihre Mutter und ihr Vater sich einander trösteten. Beiden war das Herz wund und die Welt lag in Scherben.

»Stundenlang saßen wir abends im Garten und redeten uns den Kummer von der Seele. Einer tröstete den anderen. Dabei kamen wir uns näher. Wir verliebten uns ineinander. Es war eine ganz andere Liebe, als die Liebe, die ich für Lioba empfand. Alwine ging es genauso. Doch wir waren glücklich, sehr glücklich.«

Edgar Pircher trank einen Schluck Kaffee.

»Vater, kannst du dir vorstellen, wieder zu heiraten?« fragte Polly direkt.

Edgar Pircher staunte. Er lachte laut.

»Willst du mich verkuppeln?«

»Naa, Vater! Naa! Ich habe eben nur nachgedacht. Du bist noch jung. Willst du den Rest des Lebens allein bleiben?«

»Polly! Madl! Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich tue auf jeden Fall keine Frau suchen. Der Himmel allein weiß, warum er mir die Frau und dir die Mutter genommen hat – und was noch kommen tut. Ich lasse die Dinge laufen. Ich denke aber nicht, daß ich mich noch einmal so richtig verlieben könnte. Außerdem, ist es nicht an der Zeit, daß du dich umsehen tust?«

Polly errötete.

»Oh, oh! Was sehe ich da? Gibt es da etwas, was ich wissen sollte? War auf der Berghütte vielleicht ein Bursche, der dir gefallen hat?«

Polly riß sich zusammen. Es kostete viel Kraft, ihrem Vater jetzt nicht alles zu erzählen.

»Mei, sicherlich gab es fesche Burschen auf der Berghütte. Das will ich nicht leugnen. Doch ich will nichts übereilen. Das, was du mir über dich und Lioba erzählt hast, ist doch deutlich genug. Erst will ich völlig sicher sein. Außerdem habe ich Ansprüche. Ich weiß genau, wie der Bursche sein soll.«

»Ah! Des ist ganz meine Polly! Hast eine Liste gemacht? Willst du mir davon erzählen? Rein theoretisch!«

»Muß des sein, Vater?«

»Warum net? Oder fällt es dir schwer, mit mir darüber zu sprechen. Sicherlich hättest du solche Sachen besser mit deiner Mutter bereden können. Aber was nicht ist – das ist nicht! Ich versuche dir eben, so gut es geht, deine Mutter zu ersetzen. Dabei weiß ich, daß ich des net wirklich kann.«

Er trank einen Schluck Kaffee.

»Du mußt net reden, Polly! Ich sage dir nur eines. Es kommt oft anders, als man denkt und plant. Kann sein, daß du Kompromisse machen mußt. Das haben deine Mutter und ich auch gemacht und sind glücklich geworden.«

Polly schwieg einen Augenblick.

»Magst recht haben, Vater! Den idealen Burschen zu finden, ist schwer. Diese Erkenntnis habe ich auch schon gewonnen. Er soll fesch sein. Er soll die Berge und Waldkogel lieben. Am besten wäre es, wenn er von hier ist. Er soll sanft sein. Er soll Tiere und die Landwirtschaft lieben. Er soll Geduld haben. Er soll sich Kinder wünschen. Er soll hier auf den Hof einheiraten.«

Ihr Vater brach in schallendes Gelächter aus.

»Das klingt, als suchst du die

›eierlegende Wollmilchsau‹! So einen Burschen, den gibt es nicht! Falls du so ein Prachtexemplar sichtest, dann packe zu. Fang ihn dir! Fackel nicht lange und schleppe ihn zum Trau-

altar.«

Der Bauer lachte wieder.

»Soso, mein Madl ist auf der Pirsch! Mei, das freut mich! Dann darf ich ja die Hoffnung haben, doch noch Großvater zu werden.«

»Soweit ist es noch lange nicht! Wie gesagt, ›eierlegende Wollmilchsäue‹ sind selten. Aber ich habe mir vorgenommen, er muß so sein – oder ich nehme ihn nicht.«

Edgar Pircher nahm kurz die Hand seiner Tochter.

»Das mit der Liebe, das kannst du nicht berechnen, Polly! Deine Mutter würde jetzt schmunzeln. Ich sehe die gute Alwine vor mir. Sie würde dir sagen, laß die Sache auf dich zukommen und folge dann deinem Herzen. Sie würde dir sagen, daß du nur ein Leben hast und einfach nur so leben mußt, daß du glücklich bist. Wenn du das spürst, dann mußt du handeln.«

»Warten wir es ab, Vater! Mal sehen, was die Zukunft bringt! Ich habe ganz bestimmte Vorstellungen, wie das werden soll. Ich muß das alles noch zusammenbringen. Wenn ich damit fertig bin, dann reden wir weiter. Vater, du weißt doch, daß ich kein Mensch bin, der über ungelegte Eier redet, wie man sagt.«

»Ja, Polly, das weiß ich! Du hast dich seit dem Tode deiner Mutter sehr verändert. Bist ernst geworden. Ich habe oft Angst um dich, daß du eine alte Jungfer wirst.«

»Das habe ich nicht vor, Vater! Aber es muß alles stimmen.«

Edgar Pircher versuchte noch eine Weile. Polly Einzelheiten zu ent-locken. Er war sich sicher, daß es einen Burschen gab, der an Pollys Herzenstür geklopft hatte. Doch Polly schwieg beharrlich und redete nur allgemein. Schließlich gaben sie das Thema auf und sprachen von der Arbeit. Edgar wollte nach Kirchwalden fahren, um Ersatzteile für den Traktor zu bestellen. Der Motor blieb immer wieder stehen. Er vermute-

te, daß die Einspritzpumpe defekt war.

»Kannst du mir einige Sachen aus Kirchwalden mitbringen? Ich habe eine Liste!«

Polly stand auf und holte ihr Notizbuch. Sie riß die Seite heraus und gab sie ihrem Vater. Er versprach, alles zu besorgen.

»Am besten, ich fahre gleich, dann bin ich bis zum Mittag wieder da, wenn alles glattgeht. Warte aber nicht mit dem Essen auf mich. Wenn es läutet und ich bin net zurück, dann tust essen. Dann wird es später und ich esse in Kirchwalden.«

Polly war einverstanden. Sie ließ sich ihre Freude nicht anmerken, daß ihr Vater nach Kirchwalden fuhr. Sie fieberte dem Augenblick entgegen, daß er vom Hof rollte. Polly kannte nur ein Ziel. Sie wollte auf dem Dachboden in den alten Sachen kramen, in der Hoffnung, die Adresse dieser Lioba Fischer aus Köln zu finden. Außerdem blieb ja noch die Telefonauskunft und das Internet.

»Was machst du, während ich in Kirchwalden bin?«

»Was ich immer mache, Vater! Ich kümmere mich um die Wäsche, räume auf, putze. Was eben notwendig ist!«

Polly stand auf und räumte den Tisch ab. Sie gab sich gelassen. Dabei war sie in ihrem Innern sehr aufgeregt. Ein Gedanke jagte den anderen. Sicherlich war es eine verrückte Idee. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt! So lautete ein Sprichwort. Es war einen Versuch wert. Polly griff nach den Sternen. Ein tiefes inneres Gefühl verführte sie dazu.

Es dauerte dann doch noch eine ganze Weile, bis Edgar Pircher sich umgezogen hatte. Er kam in die Küche.

»Kann ich so gehen?« fragte er Polly.

Sie lächelte ihn an. Früher hatte Vater immer so ihre Mutter gefragt. Polly musterte ihn.

»Ja, so kannst du gehen! Dann bis später! Fahre vorsichtig! Lieber ein bissel langsamer!«

»Versprochen!«

Er nahm seinen Hut mit dem Gamsbart und ging hinaus. Durch das offene Küchenfenster sah Polly ihn vom Hof fahren. Kaum, daß der Geländewagen außer Sicht war, rannte Polly die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Dabei nahm sie zwei Stufen auf einmal. Rasch entledigte sie sich ihres Dirndls. Sie schlüpfte in ein paar alte Jeans und einen dünnen Pullover. Das war für die Arbeiten auf dem Dachboden bequemer und auch nicht so schmutzempfindlich. Bevor Polly auf den Dachboden hinaufging, machte sie im ganzen Haus alle Fenster zu. Sie schloß die Haustür ab und ließ den Schlüssel von innen stecken.

Polly rieb sich die Hände. Jetzt war sie abgesichert. Sollte ihr Vater früher kommen, kam er nicht ins Haus, ohne daß sie es bemerkte.

Dann eilte Polly auf den Dachboden.

*

Es dauerte einen Augenblick, bis sich Polly an das schwache Licht gewöhnt hatte. Nur durch zwei kleine Dachfenster an den beiden Giebelseiten fiel Tageslicht herein. Es roch nach abgestandener Luft. Polly öffnete eines der Fenster. Dann sah sie sich um. Der Dachboden war wohlgeordnet. Polly kannte das System, nach dem ihre Mutter alles aufgehoben hatte. Rechts und links unter den Dachschrägen reihten sich Brandkiste neben Brandkiste und Koffer an Koffer. Ihre Mutter hatte überall Schilder anbracht oder ganze Inventarlisten. Mit der Hand wischte Polly den Staub ab und las. Sie arbeitete sich langsam durch, vorne an der Treppe bis angefangen ganz nach hinten. Zuerst nahm sie sich die rechte Seite vor und dann die lin-

ke.

An einer verschlossenen Bauerntruhe in einer Ecke fand Polly einen Hinweis.

»Da könnten die alten Sachen von Vater darin sein!« flüsterte sie leise, als könnte sie jemand hören.

Ihre Mutter hatte am Griff mit Kordel einen Pappstreifen festgebunden, wie man ihn früher bei Paketen benutzte. Darauf stand der Name ihres Vaters und eine Jahreszahl.

»Ja, da müssen alle Sachen drin sein, die Vater betreffen. Alles, was in seinem Leben wichtig war, bevor er heiratete. Verflixt! Das Ding ist abgeschlossen«, schimpfte Polly vor sich hin.

Einen Schlüssel hatte sie nicht. Polly sah sich das Schloß an. Es war ein Vorhängeschloß und uralt. Polly setzte sich im Schneidersitz vor die Truhe und dachte nach. Das Ding mit Gewalt zu öffnen, war nicht schwer. Eine Eisensäge lag in der Werkstatt. Aber nach getaner Tat mußte die Truhe wieder verschlossen werden. Polly befühlte immer und immer wieder das Schloß. Sie rüttelte daran, zog. Es ging nicht auf.

»So geht das nicht. Es muß mir etwas anderes einfallen«, überlegte Polly laut.

Dann fiel ihr Blick auf die Schrauben, mit denen das Blech mit den Ösen am Holz befestigt war.

»Das ist es!« freute sich Polly.

Sie lief hinunter in die Küche und holte ein breites Küchenmesser. In die Werkstatt zu gehen und einen Schraubenzieher zu holen, das ließ ihre Ungeduld nicht zu.

»So, du verflixtes Ding! Jetzt wirst du deine Geheimnisse preisgeben!«

Polly drehte eine Schraube nach der anderen aus dem Holz. Das war ganz leicht. Danach ließ sich der Deckel der Truhe aufklappen. Pollys Herz klopfte, als sie die alten Notizbücher ihres Vaters betrachtete. Sie waren feinsäuberlich in offenen Schuhkartons nach Jahren sortiert.

Polly griff sich das Jahr vor der Hochzeit ihrer Eltern heraus und das Jahr davor. Sie blätterte darin. Ihr Vater hatte viel eingetragen. Immer wieder stieß sie auf den Namen Lioba. Er hatte notiert, wann sie in Waldkogel war und was sie gemacht hatten.

Polly blätterte weiter und fand im Adressenteil die Anschrift und Telefonnummer von Lioba Fischer in Köln.

»Aha!« murmelte Polly vor sich hin.

Papier und Bleistift hatte Polly mit auf den Dachboden genommen. Sorgfältig schrieb sie Adresse und Telefonnummer ab. Dann legte sie das Notizbuch zurück. Sie kramte vorsichtig in der Truhe. Weiter unten fand sie eine Holzschatulle mit Briefen. Sie waren alle von Lioba. Pollys Herz klopfte. Sie überlegte, ob sie sie lesen sollte, sah aber dann davon ab. Die Adresse ausfindig zu machen, war eine Sache. Das Briefgeheimnis zu brechen, eine andere.

Polly räumte die Truhe wieder ein. Sie schloß den Deckel und brachte die Schrauben wieder an. Damit ja niemand die Spuren des Küchenmessers sehen konnte, verrieb Polly etwas Staub in die Einkerbungen der alten Flachkopfschrauben. Sie legte die Decke wieder über die Truhe. Jetzt sah alles so aus, wie sie es vorgefunden hatte. Polly machte das Fenster zu und verließ den Speicher.

Polly ging ins Bad und nahm eine Dusche. Hände, Arme und Gesicht waren schmutzig. In ihrem hellblonden Haar klebten Spinnweben. Während Polly das warme Wasser genoß, dachte sie darüber nach, wie sie weiter vorgehen wollte.

Polly fönte ihr blondes Haar und steckte es lose am Hinterkopf auf. Sie zog ein frisches Dirndl an. Es war dunkelblau mit einer hellblauen Schürze und einer blaßblauen Dirndlbluse mit dunkelblauer feiner Spitze an den Ärmeln, dem Ausschnitt und der Knopfleiste. Polly erinnerte sich, wie sie das Dirndl zusammen mit ihrer Mutter gekauft hatte, damals, kurz vor den so schlimmen Ereignissen. Polly hatte das Dirndl in den letzten Jahren nur wenig getragen. Es war wie neu.

Polly besah sich im Spiegel. Sie gefiel sich. Dann setzte sie sich auf das Bett und nahm das Foto ihrer Mutter vom Nachttisch.

»Mutter! Ich will ein bissel Schicksal spielen. Der Vater muß versorgt sein, wenn ich den Achim heirate. Das verstehst du doch, oder? Vielleicht habe ich mich da in etwas verrannt. Vielleicht ist es eine dumme Idee. Aber wenn der Vater diese Lioba einmal so geliebt hat, dann kommen sich die beiden vielleicht wenigstens so nah, daß er jemand hat, den er anrufen kann, jemanden in seinem Alter, der ihm zuhört. Die Hoffnung besteht zumindest, denke ich. Vater braucht zumindest eine Freundin, jemanden zum Reden, eine Vertraute. Wer weiß, Mutter, vielleicht denkt sie auch an ihn? Wer weiß, wie es ihr ergangen ist? Ich will das zumindest herausfinden. Das ist doch nicht schlimm? Was meinst du?«

Polly lauschte in sich hinein. Sie war ruhig. Sie deutete es als gutes Zeichen, daß sie auf dem rechten Weg war. Polly drückte einen innigen Kuß auf das Bild und stellte es zurück an seinen Platz.

Dann ging sie hinunter. Sie setzte sich im Arbeitszimmer ihres Vaters an den großen Schreibtisch und griff zum Telefon. Sie wählte die Nummer in Köln. Der Teilnehmer meldete sich. Es war nicht Lioba Fischer. Polly fragte nach Lioba. Am Telefon war offensichtlich ein junger Mann. Er war sehr hilfsbereit. Er schaute im Kölner Telefonbuch nach. Dort stand keine Lioba Fischer darin. Polly bedankte sich und legte auf.

Dann versuchte sie es über das Internet. Sie benutzte das elektronische Telefonbuch. Sie ließ sich alle Teilnehmer anzeigen, die mit Vornamen Lioba hießen und in Köln und im Umkreis von fünfzig Kilometern um Köln gemeldet waren. Polly druckte sich die Liste aus.

Sie fing an zu telefonieren.

»Guten Tag! Ich heiße Polly und suche aus wichtigen persönlichen Gründen eine Lioba Fischer. Fischer kann der Mädchenname sein. Können Sie mir da bitte weiterhel-

fen?«

Doch Polly fand keine Lioba Fischer. Sie erreichte längst nicht jede Teilnehmerin. Vielleicht sind die anderen bei der Arbeit oder beim Einkaufen, überlegte Polly. Abends, wenn Vater zu Hause war, konnte sie nicht ungestört telefonieren.

Nach einer Stunde gab Polly auf.

»So komme ich nicht weiter!« flüsterte sie vor sich hin.

Sie griff nach ihrer Handtasche und verließ das Haus. Zuerst ging sie noch in den Garten und pflückte einen großen Blumenstrauß.

Dann bestieg Polly ihr Fahrrad und fuhr zum Friedhof. Sie besuchte das Grab ihrer Mutter.

Von einigen Fenstern des Pfarrhauses konnte man den Gottesacker hinter der Kirche gut übersehen. Helene Träutlein, die Haushälterin des Pfarrers, putzte an diesem Morgen Fenster. Sie sah Polly kommen. Sie sah sie am Grab ihre Mutter verweilen. Polly räumte die alten verwelkten Blumen ab. Sie holte frisches Wasser und stellte die frischen Blumen hinein. Dann setzte sich Polly auf die steinerne Grabeinfassung. Dort blieb sie sitzen.

Helene Träutlein putzte das Fenster fertig. Sie putzte das zweite große Fenster und brachte die frischen Scheibengardinen an. Dann ging sie ans dritte Fenster. Sie wunderte sich. Polly saß immer noch beim Grab ihrer Mutter. Das ließ der treuen Seele jetzt keine Ruhe mehr. So lange hatte sich Polly noch nie am Grab ihrer Mutter aufgehalten. Außerdem mußte Polly doch heimgehen und das Mittagessen kochen.

Helene ging zum Pfarrer.

Pfarrer Zandler saß im Garten und las die Kirchenzeitung des Bistums.

»Herr Pfarrer! Da stimmt was net! Da ist was net so, wie es sein soll! Des Madl hat bestimmt einen Kummer. Ich bin jetzt schon beim dritten Fenster und des Madl sitzt immer noch auf der Grabeinfassung beim Grab ihrer Mutter. Also normal ist des net, Herr Pfarrer! Da muß was geschehen! Da kann man doch net einfach zuschauen, oder?«

Pfarrer Zandler sah seine Haushälterin an und lachte, während er die Zeitung zusammenfaltete.

»Nun mal langsam, Helene! Ich verstehe schon, daß du beunruhigt bist. Willst du mir net sagen, von wem du reden tust?«

»Von der Polly! Von der Apollonia Pircher! Wirklich, Herr Pfarrer, da muß was sein! Ich wollte des Ihnen nur sagen!«

Pfarrer Zandler stand auf und folgte seiner Haushälterin. Sie gingen zum Fenster im oberen Stockwerk des Pfarrhauses.

»Da schauen S’ selbst! Sehen S’, wie des Madl da sitzt? So sitzt die Polly jetzt schon seit über einer Stunde. Also normal ist des net, wenn Sie mich fragen!«

»Danke, Helene!« sagte Pfarrer Zandler knapp.

Er ging durch die Kirche und nahm die Seitentür, die zum Friedhof führte. Der Kies auf dem Gehweg knirschte unter seinen Schuhen.

»Grüß Gott, Polly!«

Polly erschrak. Sie stand auf.

»Grüß Gott, Pfarrer Zandler! Ich habe Sie gar nicht kommen gehört.«

»Das habe ich bemerkt. Hast stille Zwiesprache mit deiner Mutter gehalten?«

»Ja, so kann man sagen!«

Polly blinzelte den Pfarrer an. Die Sonne blendete sie. Sie hielt sich die Hand über die Augen.

»Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?«

»Aber sicher, Polly! Auch zwei Augenblicke oder drei Augenblicke, solange du mich brauchst. Doch laß uns in den Schatten gehen. Es ist heute ungewöhnlich warm.«

Sie durchquerten den Friedhof und setzten sich auf eine Bank an der Wand der Kirche. Hier war es schattig und angenehm kühl.

»So, Polly! Nun schütte mir dein Herz aus!«

Polly kam gleich zur Sache. Sie zeigte Pfarrer Zandler ihre Noti-

zen.

»Ich suche eine Jugendfreundin meines Vaters! Sie war seine erste Liebe. Sie heißt oder hieß damals Lioba Fischer. Vielleicht – wahrscheinlich – hat sie inzwischen auch geheiratet. Ich würde sie gern finden. Vater war einmal sehr verliebt in sie. Er hat mir zwar nicht erzählt, warum die Sache damals auseinandergegangen ist, aber vielleicht kann ich wenigstens erreichen, daß die beiden wieder zusammen reden. Vater braucht jemanden zum Reden. Verstehen Sie das?«

Pfarrer Heiner Zandler schaute Polly in die Augen. Diese senkte den Blick.

»Willst du deinen Vater verkuppeln?« lachte der Geistliche.

»Ich weiß auch nicht! Es war eine Idee, die mich nicht mehr losgelassen hat. Irgendeine innere Stimme treibt mich, treibt mich ungeheuer, diese Lioba zu suchen. Mein Herz, das sagt mir, daß ich das tun soll. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll.«

Polly erzählte Pfarrer Zandler von ihren vergeblichen Versuchen, Liobas Adresse herauszufinden.

Er hörte zu. Dann gestand Polly dem Pfarrer, daß sie und Joachim Vorbauer ineinander verliebt waren.

»Ich kann doch den Vater net allein lassen! Das können Sie doch verstehen.«

Pfarrer Zandler mußte lächeln.

»Es ist rührend, wie besorgt du um deinen Vater bist, Polly! Ich sehe das ähnlich wie du. Allerdings ist das eine gefährliche Sache, Kontakt mit Lioba aufzunehmen. Sie ist vielleicht sehr glücklich verheiratet, hat selbst Familie und Kinder. Da kannst du viel Unruhe hineinbringen. Wie willst du das machen?«

Polly nickte. Sie erzählte von ihrem Plan, daß Alois sie einladen könnte, zusammen mit anderen Bergkameraden aus der Zeit. Polly wollte dann dafür sorgen, daß ihr Vater auch zu dem Fest auf die Berghütte geht.

»Das ist ein guter Plan!«

Pfarrer Heiner Zandler dachte nach. Dann hielt er eine kurze stille Zwiesprache mit seinem Herrgott, den er scherzhaft manchmal seinen Arbeitgeber nannte.

»Also gut! Ich kann ja auch mal meine Beziehungen spielen lassen. Komm mal mit!«

Polly folgte dem Pfarrer ins Pfarrhaus. Dort schrieb sich Pfarrer Zandler die alte Adresse und Telefonnummer auf. Polly mußte ihm versprechen, nichts zu unternehmen, bis er sich wieder in einigen Tagen bei ihr melden würde. Der Geistliche versprach, sich mit den Nachforschungen zu beeilen. Versprechen konnte er natürlich nichts, aber eine kleine Chance gab es schon. Polly war erleichtert. Sie war froh, daß sie sich Pfarrer Zandler anvertraut hatte.

Der Geistliche versprach Polly, auch mit Edgar zu reden, um herauszufinden, wie er dazu stehe, wenn Polly in einen anderen Hof einheiraten wollte.

»Danke, Herr Pfarrer! Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich bin froh, daß ich mit Ihnen gesprochen habe. Der Vater geht einmal in der Woche auf die Hochalm. Meistens an einem Dienstag oder Mittwoch, dann bin ich allein auf dem Hof.«

»Gut, Polly! Das ist ja schon morgen oder übermorgen! Ob ich so schnell etwas in Erfahrung bringe, das weiß ich nicht. Aber ich melde mich bei dir.«

Pfarrer Zandler verabschiedete Polly und wünschte ihr Gottes Segen. Sie verließen zusammen den Friedhof. Polly stieg auf ihr Fahrrad und fuhr heim. Pfarrer Zandler begann sofort damit, nach dieser Lioba Fischer zu suchen.

*

Polly hörte die ganze Woche nichts von Pfarrer Zandler. Sie war ungeduldig und wirkte nervös.

»Madl, was ist mit dir?« fragte ihr Vater eines Abends. »Bist immer so in Gedanken! Hast was auf dem Herzen?«

»Des kommt dir nur so vor, Vater! Ich habe viel Arbeit. Ich will ja morgen wieder auf die Berghütte.«

Ihr Vater schaute Polly prüfend an.

»Wenn es dir keine Freude macht, dann müssen sich die Anna und der Toni jemand anderen suchen.«

»Naa! Freude macht es mir schon! Ich bin gern mit der Anna zusammen.«

»Was ist es dann? Denkst du an die feschen Burschen dort oben?«

Polly errötete tief.

»Aha« raunte ihr Vater und schmunzelte.

»Nix aha! Vater! Ich habe dir doch gesagt, daß des meine Angelegenheit ist.«

Edgar Pircher seufzte.

»Polly, du bist manchmal ein echter Dickschädel. Mir kannst du nix vormachen. Du grübelst doch! Du hast doch einen bestimmten Burschen ins Auge gefaßt, oder? Was paßt dir an ihm net?«

Polly antwortete nicht. Sie vergrub ihre Hand in die Schürzentasche. Darin bewahrte sie in einem Taschentuch den Ring auf. Daheim konnte sie ihn nicht tragen.

»Mein Madl! Mache es mir doch nicht so schwer! Bist doch meine Einzige. Red’ schon! Mei, ich bin auch mal jung gewesen. Vielleicht kann ich dir einen Rat geben. Willst du dich mir nicht anvertrauen?«

Polly schüttelte den Kopf.

»Ich will dich mit meinen Gedanken nicht belasten. Vielleicht bin ich zu gewissenhaft. Für mich muß eben alles perfekt sein. Ich denke eben darüber nach, was du am Anfang der Woche zu mir gesagt hast. Weißt, die Sache mit der eierlegenden Wollmilchsau!«

Ihr Vater schmunzelte.

»Du schaffst das schon! Die Erkenntnis, daß man im Leben von dem einen oder anderen Ideal Abstriche machen muß, das kann schon schmerzhaft sein. Doch daran tust du nur reifen. Doch du sollst wissen, daß du Kummer net allein durchstehen mußt. Auch wenn ich dir nicht helfen kann, so kann ich dir zuhören. Des hilft manchmal schon. Ich weiß, wie es mir geht. Wenn ich etwas erzähle, dann wird mir währenddessen oft klar, was ich tun muß. Es ist ein Unterschied, ob man nur drüber nachdenkt oder es ausspricht. Unklare Gefühle kann man schlecht in Worte packen. Sätze müssen Hand und Fuß haben, sagt man. So wird die Sache klarer, verstehst? Es ist für mich schwer zu erklären, wie ich des meine. Ich bin nur Bauer, kein Studierter.«

Polly lachte.

»Du hast das schön erklärt, Vater! Dazu muß man kein Studierter sein. Ein bodenständiger Bauer ist oft viel klüger.«

Polly hauchte ihrem Vater einen Kuß auf die Wange.

»Mache dir keine Sorgen! Es ist alles in Ordnung!«

Edgar Pircher war sich nicht so sicher. Aber er ließ die Sache auf sich beruhen.

Es war früh am Freitagmorgen. Das Gras war noch feucht vom Tau. Polly steuerte ihren Jeep mit Vierradantrieb langsam die Hauptstraße entlang. Als sie an der Kirche vorbeikam, öffneten sich die Kirchentüren. Einige alte Frauen mit Kopftüchern und zwei alte Männer, die am Stock gingen, kamen heraus. Polly hielt an. Sie blieb aber im Auto sitzen.

»Ah, die Frühmesse ist zu Ende.«

Polly hoffte, Pfarrer Zandler zu sehen. Da kam er auch schon aus dem Gotteshaus. Er nickte Polly von weitem zu. Dann verabschiedete er einige seiner Schäfchen mit Handschlag.

Pfarrer Zandler trug noch das farbige Meßgewand. Er winkte Polly zu, sie solle in die Kirche kommen. Während Pfarrer Zandler wieder im Gotteshaus verschwand, parkte Polly ihr Auto auf dem Marktplatz. Sie ging die wenigen Schritte zur Kirche zu Fuß. Ihr Herz klopfte heftig. Hat Pfarrer Zandler etwas erfahren? Er muß etwas wissen, sonst hätte er mich nicht in die Kirche bestellt, dachte Polly.

Die Tür stand offen. In der schönen Barockkirche roch es nach Weihrauch. Die Morgensonne schien durch die Buntglasfenster im Ostchor. Pfarrer Heiner Zandler war nirgends zu sehen. Er wird sich in der Sakristei umziehen, überlegte Polly. Sie ging zum Seitenaltar der Mutter Gottes und stiftete ihr eine große Kerze. Polly verharrte einen Augenblick vor der Statue. Sie betrachtete das Antlitz der Statue. Sie hatte sie schon oft im Leben gesehen. Doch an diesem Morgen war ihr, als lächele die Heilige Maria sie an.

Schritte schallten durch das Got-teshaus. Pfarrer Zandler kam den Mittelgang entlang. Polly eilte ihm entgegen.

»Was ist? Haben Sie etwas in Erfahrung bringen können?« stieß Polly hervor.

Pfarrer Zandler lachte.

»Polly! Du bist hier in einem Haus Gottes. Also, erst einmal ein herzliches Grüß Gott!«

»Entschuldigen Sie! Grüß Gott! Ich bin nur so gespannt.«

Fürsorglich legte Pfarrer Zandler seinen Arm um Pollys Schultern. Er schob sie in eine Bank und setzte sich neben sie.

Polly schaute ihn mit großen Augen an. Sie faßte sich an die Brust, so, als wollte sie ihr Herz festhalten. Es klopfte und klopfte.

»Bist du auf dem Weg zur Berghütte gewesen?«

»Ja!«

»Ich freue mich, daß wir uns noch getroffen haben. Sonst hätte ich wohl eine Wanderung hinauf machen müssen.«

»Oder anrufen! Heißt das, daß Sie etwas erfahren haben?«

Pfarrer Zandler schmunzelte.

»Kindchen! Madl! Die Angelegenheit scheint dir ja mächtig nahe zu gehen, wie?«

»Ja, das tut sie! Ich habe Ihnen das ja schon erklärt. Ich kann Ihnen auch nicht sagen, warum das so ist. Es ist ein innerer Drang. Da ist ein Gefühl in meinem Herzen, das mir sagt, ich soll das machen. Dabei weiß ich, daß es verrückt ist. Aber ich kann nicht anders. Hört sich seltsam an, wie?«

»Manchmal muß man Dinge tun, weil man in seinem Inneren so ein Gefühl hat. Der Mensch ist immer im Konflikt zwischen der Vernunft und dem Gefühl. Der Himmel allein weiß, ob es für die Menschen nicht besser wäre, öfter aus dem Gefühl heraus zu handeln als vom Verstand her.«

Polly spielte nervös mit den Knöpfen an ihrer Strickjacke.

»Also, Polly! Das ist so…«

»Ja?«

»Polly! Du sagst jetzt nix! Laß mich reden und hör mir zu, bis ich dir alles gesagt habe. Dann bleibst erst ein bissel hier sitzen und denkst nach oder hörst, was dir dein Herz sagt. Versprochen?«

Polly nickte. Sie brachte vor lauter Aufregung keinen Ton heraus.

Langsam und behutsam teilte ihr Pfarrer Zandler mit, was er herausgefunden hatte.

Lioba Fischer hatte wohl auf Wunsch ihrer Eltern, die ein Geschäft betrieben, einen Angestellten geheiratet. Dieser war die rechte Hand ihres Vaters gewesen. Doch die Ehe war wohl nicht sehr glücklich. Lioba bekam einen Sohn, den sie Urban nannte.

»Urban, so heißt auch mein Pircher Großvater!« warf Polly ein und erntete einen strafenden Blick von Pfarrer Zandler.

Dann hörte Polly weiter zu. Liobas Eltern, die sehr alt waren und Lioba spät bekommen hatten, starben schon vor Jahren. Liobas Mann wirtschaftete nicht gut und das Geschäft ging pleite. Er war ein Spieler. Notgedrungen, nachdem sie alles versucht hatte, trennte sich Lioba von ihrem spielsüchtigen Ehemann und zog mit ihrem Buben nach Kirchwalden. Dort arbeitete sie zuerst an einer Tankstelle, dann an einem Kiosk. Diesen Kiosk pachtete sie vor zwei Jahren.

»Übrigens, Lioba heißt jetzt Schmidt.«

»Lioba ist ganz in der Nähe«, flüsterte Polly fast unhörbar.

Sie bekam rote Bäckchen vor Aufregung.

Pfarrer Zandler lächelte.

»Es schaut aus, als hätte sie es hier in die Nähe gezogen. In die Nähe zu einem Ort, an dem sie einmal glücklich war. Aber das ist Spekulation, Polly! Lioba liebte die Berge, das wissen wir mit Sicherheit. Also zog es sie in die Berge. Vielleicht fand sie hier die Kraft und die Ruhe, die sie nach ihrem offensichtlich harten Leben brauchte.«

»Wissen Sie, ob sie in Waldkogel war?«

»Nein! Das weiß ich nicht!«

Pfarrer Zandler stand auf.

»Ja, Polly! Das ist alles, was ich weiß. Jetzt mußt du entscheiden,

wie du damit umgehst. Überstürze nichts! Wäge jedes Wort ab. Der Himmel stehe dir bei und lenke jeden deiner Schritte.«

»Danke, Pfarrer Zandler! Danke für Ihre Mühe! Geben Sie mir die Adresse?«

»O ja! Mei, des hätte ich jetzt fast vergessen!«

Pfarrer Zandler griff in seine Hosentasche und gab Polly ein kleines Stück Papier. Darauf hatte er mit Tinte, ganz so wie es seine Art war, in Druckschrift die Adresse von Lioba Schmidt, geborene Fischer, aufgeschrieben.

»Danke! Nochmals vielen Dank, Herr Pfarrer!«

»Gern geschehen! Sei vorsichtig«, ermahnte er Polly noch einmal.

Polly nickte eifrig.

Polly blieb noch eine Weile in der Kirche sitzen. Sie mußte auch erst wieder innerlich zur Ruhe kommen. Immer und immer wieder drehte sie den kleinen Zettel in ihren Händen und las die Adresse. Polly kannte sich in Kirchwalden gut aus, auch weil sie dort gearbeitet hatte. Die Straße gehörte zu einem Neubaugebiet. Das erklärte, warum sich ihr Vater und Lioba nie in der Innenstadt von Kirchwalden begegnet waren. So erklärte es sich Polly.

Polly schloß die Augen und lauschte auf ihr Herz.

Was soll ich tun?

Wie soll ich vorgehen?

Dann kam ihr plötzlich die Idee.

»Dem Himmel sei Dank! Danke! Danke! Danke!«

Polly stand auf. Sie stiftete der Mutter Gottes noch eine Kerze. Dann verließ sie das Gotteshaus, stieg in ihr Auto und fuhr den Milchpfad hinauf zur Oberländer Alm.

»Grüß Gott, Polly! Bist du auf dem Weg zur Berghütte? Willst du dem Toni und der Anna wieder helfen? Bist ein bissel zu spät. Der Toni hat vor geraumer Zeit die Kinder runtergebracht. Jetzt ist er schon wieder auf dem Weg hinauf. Wenn du dich beeilst, dann holst du ihn vielleicht noch ein. Er hat schwer zu tragen. Er hat Vorräte mit hinaufgenommen, Butter, Käse, Wurst, aber auch Zucker und Mehl. Zucker und Mehl hat sein Vater, der Baumberger Xaver, aus Waldkogel raufgebracht. Des ist aber noch net alles. Gemüse ist auch noch da. Willst was mitnehmen?« fragte Wenzel Oberländer.

»Des ist für des Madl viel zu schwer, Wenzel. Was redest du da? Der Toni wird später noch einmal wiederkommen. Dann bringt er den Bello mit dem Wägelchen mit.«

»Grüß Gott, Hilda! Schimpf net mit deinem Mann. Er hat es doch nicht bös’ gemeint, der Wenzel. Außerdem kann ich schon etwas mitnehmen. Mein Rucksack ist nicht schwer. Laß mal sehen, was noch auf die Berghütte rauf muß.«

Hilda wollte Polly davon abbringen. Aber damit hatte sie kein Glück. So packte Polly noch einige Vorräte in ihren Rucksack und nahm auch noch eine Tasche mit Küchenkräutern für Anna mit. Die Kräuter stammten aus Metas Garten.

»Ach, Madl, was tust dich abschleppen! Des ist doch keine Arbeit für so ein zierliches Madl, wie du es bist. Des ist was für ein kräftiges Mannsbild.«

Polly lachte.

»Unterschätze mich nicht, Hilda! Die Anna wird sich freuen, wenn ich ihr die Kräuter gleich mit hinaufbringe.«

Polly verabschiedete sich von Hilda und Wenzel Oberländer und lief los, den Bergpfad hinauf.

Polly fühlte sich, als schwebte sie auf Wolken. Sie war so glücklich, daß sie Liobas Adresse bekommen hatte. Daß Lioba seit Jahren in Kirchwalden wohnte und arbeitete, erfüllte Polly mit Zuversicht.

Polly beeilte sich sehr. Sie machte keine Pause und erreichte kurz nach Toni die Berghütte.

*

Polly stürmte in die Küche.

»Ich habe die Adresse! Ich weiß, wo sie wohnt. Das erratet ihr nie! Man kann sagen, sie lebt seit Jahren vor seiner Nase!«

Polly stellte die Tasche ab. Sie ließ ihren Rucksack von den Schultern auf einen Schemel gleiten und packte die Vorräte aus. Dabei redete sie und redete und strahlte über das ganze Gesicht.

Toni und Anna schauten sich verwundert an. Der alte Alois kam in die Küche. Er blieb an der Tür stehen und lehnte sich mit beiden Händen auf seinen Gehstock.

»Mei, Madl! Was bist du denn so aufgekratzt?« staunte Alois.

Statt einer Antwort fiel Polly dem alten Alois um den Hals und küßte ihn herzhaft auf beide Wangen.

»Danke, Alois!«

Der alte Mann wurde verlegen.

»Gell, du tust mich jetzt aber nicht mit deinem Achim verwechseln?«

»Naa, Alois! Hast mich glücklich gemacht!«

»Mei, des höre ich gern. Aber ich weiß net, warum.«

Der alte Alois setzte sich an den Küchentisch.

»Nun erzähle schon, Polly!« forderte sie Toni auf. »Schaust aus, als hättest du einen Volltreffer im Lotto.«

»So ähnlich fühle ich mich auch!«

Anna ergriff sich ein Tablett, stellte vier Tassen, Zucker und Milch darauf und goß Kaffee ein.

»Kommt, wir setzen uns alle auf die Terrasse. Die Hüttengäste sind alle schon unterwegs und das Geschirr können wir auch später spülen.«

Anna ging voraus. Alle folgten ihr.

Sie setzten sich an einen Tisch und lauschten Pollys Worten.

»Also, Alois! Noch einmal danke für das Foto! Ich habe es Vater gegeben. Er hat sich gefreut und auch ein bissel geplaudert. Jedenfalls gestand er, daß er einmal sehr verliebt in diese Lioba war. Ihr könnt euch des net vorstellen! Rot ist er geworden – wie ein verlegener junger Bursche! Jedenfalls habe ich ein bissel auf dem Speicher gestöbert und die alte Adresse von der Lioba gefunden.«

»Die hättest auch von mir haben können«, warf der alte Alois ein.

»Ja, aber jetzt habe ich die neue Adresse! Die Lioba heißt jetzt Schmidt. Sie ist geschieden und wohnt in Kirchwalden!«

Alle schauten Polly überrascht an.

»Gell, da staunt ihr? Allein habe ich das net rausbekommen. Pfarrer Zandler hat mir geholfen.« Polly strahlte. »Es kommt noch besser! Die Lioba hat einen Buben. Er heißt wie mein Großvater: Urban!«

»Des ist ja wirklich eine Riesen-überraschung! Mei, ja denkst? Mei, ja meinst? Mei, es könnte sein?«

Alois dachte laut. Polly starrte ihn an. Plötzlich bekam sie große Augen.

»Richtig! Ja, richtig, Alois! Das könnte gut möglich sein! Daran hatte ich noch nicht gedacht. Mei, das wäre ein Wunder! Das wäre ja wunderbar!«

Toni und Anna war klar, welche Gedanken Polly und dem alten Alois durch den Kopf geisterten.

Toni rieb sich das Kinn.

»Des kann auch Zufall sein!«

»Sicherlich, Toni! Aber denke doch mal darüber nach. Jedenfalls hat mir mein Vater erzählt, daß seine Eltern die Lioba sehr mochten, wirklich sehr. Seine Mutter ist sogar krank geworden, nachdem die beiden auseinandergingen. Jedenfalls will ich alles herausbekommen.«

Polly trank einen Schluck Kaffee.

»Wie willst du das machen?« fragte der alte Alois.

»Ich habe mir alles genau ausgedacht. Also! Es wäre doch eine gute Idee, wenn du, Alois, die jungen Burschen, die auf dem Foto waren, einladen würdest zu einem Hüttenfest. Es gibt Klassentreffen, Jahrgangstreffen, Treffen Ehemaliger aller Art. Warum nicht auch ein Treffen einer einstigen Seilschaft?«

»Des ist keine schlechte Idee! Eine Freud’ würde mir des schon machen«, Alois rieb sich die Hände.

»Ja, meinst du, diese Lioba kommt auch?« fragte Toni.

»Die wird kommen!« Polly nickte eifrig und wandte sich an den alten Alois. »Hast du noch ein Foto, wo alle darauf sind? Kannst du es mir geben?«

Statt einer Antwort schickte Alois Toni in seine Kammer, um den Karton mit den Bildern zu holen. Gemeinsam wählten sie ein Foto aus.

»Was willst du damit machen?« fragte Anna.

»Ich fahre nach Kirchwalden und lade Lioba Schmidt, geborene Fischer, persönlich im Namen vom Alois ein. Dabei sehe ich mir sie an und komme ins Gespräch. Also, wann kann das Hüttenfest stei-

gen?«

Sie berieten hin und her. Die anderen mußten auch eingeladen werden. Es könnte etwas dauern, bis man die neuen Anschriften der Burschen gefunden hatte. Schließlich einigten sie sich auf einen Termin.

Polly lehnte sich glücklich zurück und streckte die Arme in den Himmel.

»Ihr Engel auf dem ›Engelssteig‹, ich danke euch!« rief sie vergnügt. »Laß bitte noch ein paar weitere Wunder geschehen!«

Anna, Toni und der alte Alois lachten.

»So viele Wunder? Das ist ja gleich ein Großauftrag!« lachte Alois.

»Wann willst du nach Kirchwalden?«

»Am liebsten sofort! Aber…«

»Nix aber! Das können wir verstehen! Gehe ruhig, Polly!« ermunterte sie Toni.

Anna schüttelte den Kopf.

»Toni, Alois! Ich möchte Polly begleiten! Außerdem wollte ich auch noch in Kirchwalden einkaufen gehen. Eigentlich plante ich den Einkauf erst für nächste Woche. Aber ich könnte ihn vorziehen! Kommst du allein klar, Toni?«

»Mei, allein? Mich gibt es auch noch, Anna!« protestierte Alois scherzhaft und spielte den Beleidigten.

Alle lachten.

»Bis zum Abend sind wir wieder da, spätestens. Ich ziehe mich nur schnell um, Polly! Es dauert nicht lange.«

Anna eilte davon.

Polly trank ihren Kaffee aus. Sie schaute über das Tal und blickte hinauf zu dem Gipfel. Sie schaute in den Himmel.

»Was für ein herrlicher Tag! Die Berge sind heute noch schöner. Das Tal sieht grüner aus. Der Himmel ist blauer. Es ist ein ganz besonderer Tag. Ich fühle es in meinem Herzen. Die Berge flüstern es mir zu. Es ist ein ganz besonderer Tag! Oh, ich bin so fröhlich! Ich spüre, daß alles gut wird.«

Toni und der alte Alois betrachteten Polly, die so glücklich aussah, und wünschten ihr von Herzen Glück, was immer die nahe Zukunft auch für Überraschungen für sie bereit hielt.

Anna kam aus der Berghütte. Sie hatte sich umgezogen. Sie trug ein knöchellanges Dirndl aus rosa Baumwolle mit heller Schürze und weißer Bluse.

»Fesch schaust aus, Anna!«

Toni nahm Anna in den Arm und küßte sie. Er flüsterte ihr leise ins Ohr: »Paß mir gut auf die Polly auf. Die ist ein bissel übermütig!«

Anna blinzelte ihrem Mann zu. Das bedeutete, daß er sich keine Sorgen machen sollte. Sie würde die Angelegenheit schon in den Griff bekommen.

Anna und Polly verabschiedeten sich. Polly bat Toni, mit Joachim zu reden, falls er auf die Berghütte käme, bevor sie aus Kirchwalden zurück wären.

Nachdem Toni und Alois den beiden nachgeschaut hatten, bis sie sie nicht mehr sehen konnten, holte Toni die Schnapsflasche.

»Trinkst einen mit, Alois?«

»Wie kannst da fragen, Toni? Nicht nur einen, sondern zwei!«

Toni schenkte ein. Sie prosteten sich zu und tranken. Dann gingen sie an die Arbeit.

*

Polly eilte den Berg hinunter. Anna mußte sie mehrmals ermahnen, etwas langsamer zu machen. Aber Polly war voller Hoffnung und

Erwartung. Sie war übermütig. So entschied Anna, daß es besser sei, wenn sie selbst und nicht Polly hinter dem Steuer saß.

Den ganzen Weg nach Kirchwalden redete Polly und redete und redete. Anna versuchte sie immer wieder zu bremsen. Doch Pollys Herz lag auf ihrer Zunge.

»Ich spüre es, Anna! Hier drinnen! Ganz bestimmt!«

Anna ließ Polly sich erst einmal alles von der Seele reden. Dann sprach sie ruhig auf sie ein. Sie machte ihr den Vorschlag, daß sie sich im Hintergrund halten sollte. Polly begriff es nicht gleich, so aufgedreht wie sie war. Doch schließlich stimmte sie zu.

»Du mußt aber wirklich alles tun, damit die Lioba und ihr Sohn auf die Berghütte kommen! Alles! Anna, alles!«

Anna schmunzelte.

»Du kannst dich darauf verlassen! Nun beruhige dich! Ich hoffe und wünsche dir, daß deine Träume in Erfüllung gehen, Polly! Ich wünsche dir es von Herzen. Doch ich möchte dir auch sagen, daß du nicht enttäuscht sein darfst, wenn das Märchen nicht wahr wird.«

Polly schluckte.

»Ich weiß, Anna!«

Sie fuhren durch Kirchwalden. Inmitten der Neubausiedlung war ein kleines Einkaufszentrum mit wenigen Läden. An einer Ecke des Gebäudes war ein Kiosk. Anna parkte auf dem Parkplatz. Die beiden Frauen gingen zum Kiosk.

Ein junger Mann lächelte sie an.

»Grüß Gott! Was darf es sein?«

»Wir wollen nichts kaufen. Aber wenn man so lieb gefragt wird, dann nehmen wir zwei Limo!«

Der junge Mann holte zwei Flaschen Limonade aus dem Kühlschrank.

»Zum hier trinken?«

Anna nickte.

Der junge Mann reichte zwei Gläser dazu. Er kassierte das Geld. Dann kam er mit einem Lappen aus dem Kiosk heraus und wischte noch einmal einen der blankgeputzten Stehtische ab. Er spannte den Sonnenschirm auf.

Die beiden Frauen bedankten sich. Anna trank einen Schluck. Dann sagte sie:

»Ich suche eine Lioba Schmidt, geborene Fischer! Ihr gehört doch der Kiosk, oder?«

»Ja, der gehört ihr! Sie ist aber nicht da! Sie ist zum Großhandel gefahren. Ich bin Urban Schmidt, Liobas Sohn.«

»Ich bin Anna! Anna Baumberger! Sage einfach Anna zu mir!«

Sie reichten sich die Hände.

»Das ist Polly! Eine Freundin!«

Urban gab Polly auch die Hand.

»Grüß dich, Polly! Ich bin der Urban!«

»Warum suchst du meine Mutter, Anna?«

»Das ist eine etwas längere Geschichte.«

»Oh, ich habe Zeit. Vormittags ist wenig Betrieb hier. Die Kinder sind noch in der Schule und die Männer, die hier ihr Bier trinken und sich treffen, kommen auch erst am späten Nachmittag.«

Urban holte sich auch eine Limonade und ein Glas. Er stellte sich zu den beiden.

»Also, Madln! Wie geht die Geschichte?«

Anna holte das Foto aus ihrer Handtasche und legte eine Visitenkarte dazu. Auf der Visitenkarte stand:

Anna und Toni Baumberger

Berghüttenbetreiber

Waldkogel

Darunter waren zwei Handynummern angegeben.

Urban las. Anna begann zu erzählen.

»Wir haben die Berghütte vom alten Alois übernommen. Das ist der Mann hier auf dem Bild. Das Foto ist allerdings schon gut fünfundzwanzig Jahre alt oder älter. Der Alois ist heute ein richtig alter Großvater und lebt bei uns auf der Berghütte. Er erzählt viel von früheren Zeiten und schaut sich die Fotos an. Er möchte gern einen schönen Hüttenabend machen und Bergler – wie er sie nennt – von früher einladen. Er ist sehr alt und mein Mann und ich möchten ihm gern den Wunsch erfüllen. Also haben wir die Anschriften von den Leuten hier ausfindig gemacht und schreiben sie alle an. Weil deine Mutter jetzt hier in Kirchwalden ist, dachte ich mir, ich schaue vorbei und lade sie persönlich ein. Schade, daß sie nicht da ist. Kannst du ihr die Einladung überbrin-

gen? Zusätzlich wird ihr der Alois auch noch einige Zeilen schrei-

ben. Das Foto kannst du ihr gern geben!«

Urban fuhr sich nervös durch das Haar.

»Versprechen kann ich nix! Ich werde alles ausrichten! Aber ob die Mutter kommt? Ich habe da so meine Bedenken. Das bezweifele ich stark, sehr stark. Wird besser sein, wenn sich der Alois keine so großen Hoffnungen macht.«

Anna und Polly schauten sich an.

»Wie darf ich das verstehen? Waldkogel ist doch nicht weit. Den Weg kennt sie auch. Klingt, als wüßtest du, daß sie sich über die Einladung nicht freuen wird.«

Anna gab sich naiv.

Urban trank sein Glas aus und schenkte sich nach.

»Des mit Waldkogel und der Mutter, des ist eine ganz und gar sonderbare Sache. Ich begreife des net. Die Mutter ist eine begeisterte Bergwanderin. Früher soll sie sogar Bergsteigerin gewesen sein. Wir sind vor zehn Jahren aus Köln hierher gezogen. Fast jedes Wochenende, wenn das Wetter schön war, waren wir wandern. Doch sie mied die ganze Gegend um Waldkogel. Irgendwann fiel mir das auf. Als ich sie fragte, bekam ich Erklärungen, die ich nicht verstand. Sie wollte nicht an Waldkogel erinnert werden.«

Urban hob die Schultern.

»Ich kann nur vermuten, daß das mit meinem Vater zu tun hat. Seit meine Mutter geschieden ist, hat sie alle Brücken abgebrochen, die auch nur im entferntesten mit meinem Vater zu tun haben. Sie hat alle Fäden zerschnitten, die sie mit dem Leben vorher verbanden. Nur so kann ich das mir erklären.«

Urban seufzte.

»Sie war mit dem Schmidt net glücklich. Verzeiht, daß ich net von ihm als Vater spreche. Er hat sich nie um uns gekümmert und der Mutter nur Leid gebracht. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls will ich meiner Mutter nicht weh tun. Das müßt ihr verstehen.«

Polly und Anna nickten. Sie beobachteten, wie Urban das Foto betrachtete.

»Darauf kann ich den ollen Schmidt aber nicht sehen.«

Er schwieg eine Weile. Dann sagte er leise:

»Mutter schaut fröhlich und glücklich auf dem Foto aus.«

»Das war auch eine ganz fröhliche Truppe, die sich da immer und immer wieder getroffen hat, so wie es der Alois erzählt. Ich kann dir dazu wenig sagen. Ich bin aus Hamburg hierher gezogen.«

»Aha! Wie gefällt es dir hier?«

»Die Berge sind wunderbar! Ich liebe die Berge. Das war nicht immer so. Aber jetzt kann ich mir ein Leben ohne Berge nicht mehr vorstellen. Ich bin glücklich mit meinem Toni auf der Berghütte. Bei uns wohnen noch Sebastian und Franziska. Die Kinder wurden Waisen. Wir haben sie aufgenommen. Zusammen mit dem alten Alois sind wir eine richtige Familie.«

»Das ist schön! Familie, Frau und Kinder, das muß bei mir noch etwas warten. Erst muß ich einmal beruflich Fuß fassen.«

»Was machst du?« fragte Polly.

»Im Augenblick wenig! Ich helfe meiner Mutter. Ich habe studiert, Landwirtschaft. Meine Examensarbeit ist auch schon fertig. Aber ich muß noch ein Praktikum machen auf einem Bauernhof. Erst danach kann ich das Studium beenden. Doch es ist schwer, einen Praktikumplatz zu bekommen. So viele Vollerwerbsbauern gibt es nicht in der Gegend. Weit fort will ich nicht, wegen meiner Mutter. Jedenfalls haben die vielen telefonischen Anfragen und Bewerbungen kein Ergebnis gebracht. Ich überlege jetzt, was ich tun soll.«

»Hast du mal auf den Höfen in Waldkogel gefragt?«

»Bewahre! Dort habe ich nicht

gesucht. Ich weiß nicht, wie Mutter das aufnehmen würde, versteht ihr?«

Urban schaute wieder das Bild an.

»Was sie nur gegen Waldkogel hat? Sie sieht so fröhlich aus«, flüstere Urban erneut.

»Du meinst, deine Mutter würde dir Steine in den Weg legen, wenn jetzt eine gute Fee vorbeikommen würde und dir einen Praktikumplatz in Waldkogel schenken würde?« fragte Polly.

»Nein! Das denke ich nicht! Aber genau weiß ich das nicht. Warum? Wißt ihr einen Hof, auf dem ich anfragen könnte? Der Bauer muß mir auch nichts bezahlen. Für mein Essen und die Unterkunft, dafür kann ich auch aufkommen. Ich will nur eine Möglichkeit, mein Studium abzuschließen, versteht ihr?«

Anna und Polly schauten sich an. Anna sah, wie Polly die Röte in die Wangen stieg. So antwortete sie an ihrer Stelle:

»Mein Mann kennt viele Bauernhöfe. Da wird sich bestimmt etwas finden lassen. Weißt du was, Urban? Besuche uns doch mal auf der Berghütte und lerne meinen Mann kennen und den alten Alois. Vielleicht weiß er, warum deine Mutter Waldkogel so meidet. Vielleicht kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, daß du deiner Mutter von dem Besuch bei uns erst einmal nichts erzählst. Wie hört sich das für dich an?«

»Des ist eine ausgezeichnete Idee! Mutter muß davon erst mal ja nix erfahren. Ich hatte zwar noch nie Geheimnisse vor ihr….«

Polly lachte.

»Aber irgendwann muß man zwangsläufig damit beginnen. Urban, ich vertraue dir jetzt ein Geheimnis an. Damit will ich dir Mut machen. Ich bin verlobt und mein Vater weiß nichts davon.«

»Ist er gegen deinen Burschen?«

»Nein! Bestimmt nicht. Er würd sich freuen, wenn er es wüßte, aber ich habe Sorgen um ihm. Deshalb behalte ich es erst einmal noch für mich. Es ist auch eine lange Geschichte. Das erzähle ich dir später, wenn du willst.«

Polly schaute auf die Uhr.

»Wie wäre es, du kommst einfach mit uns! Du machst den Kiosk zu, legst deiner Mutter einen Zettel hin. So in dem Sinne: Habe Aussicht auf einen Praktikumplatz. Kundin hat Beziehungen. Bin gleich mitgefahren. Liebe Grüße Urban!«

Urban lachte Polly an.

»Du bist mir ja eine ganz Schnelle und Raffinierte!«

»Na und? Ich denke nur praktisch! So gehst du allen Fragen deiner Mutter aus dem Weg!«

»Richtig! Dann kann ich ihr aber nicht die Einladung überbringen und das Foto abgeben.«

»Dafür finden wir einen anderen Weg!« warf Anna ein. »Hast du einen Briefumschlag und Papier?«

Urban holte ein Blatt aus einem karierten Block und einen braunen Briefumschlag.

»Kommst du mit?«

»Ich habe nichts dabei!«

»Du brauchst nichts! Wir finden schon etwas für dich zum Anziehen. Tonis Sachen passen dir in etwa. Also, wie ist es? Willst du?«

Urban zögerte.

Polly schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Nun zier’ dich net so! Komme mit!«

Urban gab nach. Polly freute sich. Urban fing sofort an, alles einzuräumen, damit er den Kiosk schließen konnte. Polly half ihm dabei. Er legte seiner Mutter einen Zettel hin.

Währenddessen nahm Anna das Blatt und schrieb:

Liebe Frau Schmidt!

Anbei finden Sie unsere Visitenkarte. Mein Mann und ich haben vom Alois die Berghütte übernommen. Alois will ein Hüttenfest geben und dazu auch Bergkameraden von früher einladen. Es war für Alois schwierig, Sie ausfindig zu machen. Zu seiner Überraschung leben Sie in Kirchwalden. Der alte Alois ist nicht mehr so gut zu Fuß. Deshalb hat er mich geschickt, Ihnen die Einladung zu überbringen. Leider habe ich Sie nicht angetroffen, weil der Kiosk zu war. Deshalb gebe ich die Zeilen im Restaurant ab, verbunden mit einer nochmaligen herzlichen Einladung. Bitte rufen Sie Alois an. Er wird sich sehr freuen. Das beiliegende Foto schickt er Ihnen und hofft, Sie freuen sich darüber und nehmen die Einladung an.

Mein Mann Toni und ich freuen uns auf Ihr Kommen.

Mit freundlichen Grüßen

Ihre Anna Baumberger

PS: Die Familienangehörigen sind ebenfalls herzlich willkommen. Für ausreichende Übernachtungsmöglichkeiten ist vorgesorgt.

Anna las die Zeilen noch einmal durch. Dann steckte sie alles in den Umschlag und klebte ihn zu. Sie drückte Polly den Autoschlüssel in die Hand.

»Geht schon einmal vor!«

Polly und Urban gingen zum Wagen. Anna betrat das Restaurant und sprach kurz mit dem Wirt und seiner Frau. Sie versprachen, den Umschlag Lioba Schmidt sofort zu geben, wenn sie sie sehen würden, aber bestimmt noch am heutigen Tag. Anna bedankte sich und ließ auch noch eine Visitenkarte zurück.

Dann ging Anna zum Auto. Im Augenwinkel sah sie, wie eine Frau mit einem Lieferwagen vor dem Kiosk hielt und ausstieg. Sie schüttelte verwundert den Kopf und schloß die Tür auf.

Anna ging schnell weiter zum Auto.

»Seine Mutter ist gekommen«, flüsterte Polly.

»Unten bleiben!« sagte Anna zu Urban, der sich auf dem Rücksitz tief geduckt hatte, fast ganz in den Fußraum gekrochen war.

Anna fuhr vom Parkplatz und steuerte das Auto die Straße zurück, am Kiosk vorbei und dann um die Ecke.

»Die Gefahr ist vorbei! Kannst aus der Versenkung kommen, Urban!« sagte Anna in den Rückspiegel.

Mit hochrotem Kopf setzte sich Urban auf und schnallte sich wieder an. Es war ihm peinlich.

»Ihr denkt wohl, ich bin ein Feigling, wie? Wahrscheinlich habt ihr recht!«

»Schmarrn! Urban, wir denken etwas ganz anderes. Nämlich, daß du sehr an deiner Mutter hängst und es dir schwerfällt, ihr auch nur den kleinsten Kummer zu machen. Sie hat ja nur dich!«

»Stimmt, Anna!« bestätigte Polly. »Und keiner kann dich besser verstehen als ich! Meine Mutter ist gestorben und mein Vater hat nur mich!«

Sie fuhren dann noch in einen Supermarkt ans andere Ende von Kirchwalden. Anna kaufte schnell ein. Polly blieb bei Urban im Auto. Dann fuhren die drei zurück nach Waldkogel.

Es war kurz nach Mittag, als sie dort ankamen. Anna hielt bei ihren Schwiegereltern an und holte Sebastian und Franziska heraus, die dort nach der Schule gegessen hatten. Dann fuhren alle hinauf zur Oberländer Alm.

*

Als Polly mit Anna, Urban und den Kindern über das Geröllfeld lief, sah sie Joachim auf der Terrasse der Berghütte stehen.

»Achim!« rief Polly.

Joachim rannte Polly entgegen. Er faßte sie um die Taille, hob sie hoch und wirbelte sie herum. Dann zog er sie fest an sich und küßte sie. Polly schlang ihre Arme um seinen Hals.

»Ich freue mich so, dich zu sehen!« flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ich habe mich so nach dir gesehnt. Ich fieberte dem Abend entgegen, bis du kommst. Fast wäre ich zu euch auf den Hof gegangen. Ich muß mit dir reden, Achim.«

»Ich bin früher gekommen. Wir hatten Besuch bei uns daheim. Pfarrer Zandler war da. Er sagte mir in einem unbeobachteten Augenblick, daß er sich Sorgen um dich mache. Es wäre gut, wenn du jemand an deiner Seite hättest. Da bin ich gleich los. Was ist, Polly?«

Polly hakte sich bei Joachim unter. Sie drehte sich zu Urban um.

»Joachim, das ist Urban! Wegen ihm und seiner Mutter war ich in Kirchwalden. Die Anna hat mich begleitet. Es ist schön, solche Freunde zu haben wie Toni und Anna. Alles wird gut werden, Liebster!«

Joachim blieb stehen. Er schaute Polly tief in die Augen.

»Polly, ich verstehe nix! Ich kann nur ein Leuchten in deinen Augen sehen. Das sagt mir, daß du glücklich bist. Das ist wichtig. Nur das zählt für mich!«

»Oh, ja! Achim, es wird alles werden. Jetzt muß ich nur noch einen Weg finden, den Urban bei uns auf den Hof zu bringen.«

»Was soll das nun wieder werden? Polly, nun mal langsam und schön der Reihe nach.«

»Gleich, Liebster!«

Sie gingen alle zusammen zur Berghütte. Toni stand hinter der Theke und zapfte Bier. Der alte Alois hantierte in der Küche.

»Mei, ihr seid schon wieder da?« wunderte er sich. »Hast gedacht, ich schaffe die Arbeit nimmer, Anna?«

Anna legte den Arm um den alten Alois.

»Schmarrn, Alois! Du steckst doch jeden in die Tasche bei deiner Erfahrung. Schau mal, wen wir dir da mitgebracht haben? Das ist der Urban, der Bub von der Lioba!«

Der alte Alois musterte Urban von Kopf bis zum Fuß. Dann streckte er ihm die Hand entgegen.

»Grüß Gott, Urban! Herzlich willkommen auf der Berghütte! Bist ein richtiger Prachtbursche! Des sehen meine alten Augen auf Anhieb. Bist deiner Mutter sehr ähnlich.«

Urban schüttelte Alois die Hand. Der alte Mann eroberte sich sofort einen Platz in Urbans Herz.

»Und was hat die Lioba zu meiner Einladung gesagt, Anna?«

»Sie war nicht da, Alois! Und den Urban mußten Polly und ich fast entführen. Aber das soll dir der Urban selbst erzählen, Alois. Am besten, ihr setzt euch an den Kamin und redet. Die Wirtsstube der Berghütte ist ziemlich leer. Nun ja, das ist ja auch kein Wunder bei dem schönen Sonnenschein. Da sitzen die Hüttengäste auf der Terrasse.«

Der alte Alois nickte.

»Sicherlich hast du jetzt einen Bärenhunger nach dem Aufstieg? Da wird dir mein Eintopf ganz bestimmt guttun.«

Alois wartete Urbans Antwort nicht ab. Er füllte einen großen Teller mit seinem Spezialeintopf und reichte ihn Urban.

»Des war des Lieblingsessen deiner Mutter! Die konnte gar net genug davon bekommen. Mei, welch ein Zufall, daß ich gerade heute diesen Eintopf gemacht habe, als hätte ich geahnt, daß wir so einen Überraschungsbesuch bekommen.«

Alois und Urban setzten sich an einen Tisch in der Nähe des Kamins. Toni brachte den beiden noch ein Bier. Dann ließ er sie allein. Alois wartete, bis Urban fertig mit Essen war.

Alois und Urban prosteten sich zu.

»So, Bub! Jetzt sagst du mir, warum dich die Anna und die Polly fast mit Gewalt haben herbringen müssen. Aber wenn ich es mir so überlege, dann mußt du mir des auch net sagen. Ich kann es erraten. Noch besser, ich weiß es mit fast hundertprozentiger Gewißheit. Deine Mutter hätte net gewollt, daß du nach Waldkogel kommst, wie? Des stimmt doch, oder?«

»Ja, ja! Wie kommst du darauf, Alois?«

»Des ist net schwer. Da muß man nur zwei und zwei zusammenzählen können. Und zwar, einen Burschen und ein Madl! Des Madl ist deine Mutter! Aber des kannst dir bestimmt denken.«

Urban nickte.

»Und der Bursche ist Edgar Pircher! Hast du den Namen schon einmal gehört?«

Urban schüttelte den Kopf.

»Aber ich heiße mit zweitem Namen Edgar«, sagte er leise, und seine Gesichtsfarbe änderte sich.

Alois legte seine Hand auf Urbans Hand.

»Mußt deswegen net erschrecken! Ich will dir jetzt noch etwas sagen. Der Vater vom Edgar Pircher, der heißt mit Vornamen Urban!«

Urban lehnte sich zurück und starrte den alten Alois an.

»Was soll das heißen?« sagte Urban leise.

»Nun, Bub! Des heißt in erster Linie einmal, daß deiner Mutter die Namen gefallen haben. Sonst hätte sie dich net so taufen lassen, verstehst?«

Der alte Alois ließ Urban etwas Zeit zum Nachdenken und Verarbeiten der Neuigkeiten. Währenddessen ließ er sich von Toni den Schuhkarton mit den alten Fotos bringen. Er suchte einige Bilder heraus und legte sie vor Urban auf den Tisch.

»Schau, Bub! Des ist er! Des ist Edgar Pircher! Da hat er deine Mutter im Arm! Ja, ja! Eins und eins gibt zwei!«

»Du meinst, die beiden waren einmal verliebt ineinander?« Urbans Stimme klang unsicher.

»Verliebt, vielleicht? Naa! Des schwöre ich dir! Die Lioba und der Edgar, die waren net nur vielleicht ineinander verliebt. Die sind ein Liebespaar gewesen. Die gehörten zusammen – und alle in Waldkogel wußten es. Deine Mutter hat oft auf dem Pircher Hof übernachtet. Dem Edgar seine Eltern waren ganz vernarrt in deine Mutter. Sie hatten ja leider keine Tochter. Der Urban schwärmte von der Lioba. Er war so stolz, daß der Edgar so ein fesches und vor allen Dingen ein so liebes Madl auf den Hof bringen wollte.«

Urban schaute Alois mit großen Augen an. Er war jetzt blaß wie eine Wand.

»Toni, bringe mal schnell einen Obstler! Damit der Urban wieder Farbe ins Gesicht bekommt! Nimm aber die gute Sorte, die für besondere Anlässe«, rief Alois laut durch die Berghütte. »Der Bub von der Lioba ist hier. Na, wenn des kein Anlaß ist, dann weiß ich net!«

Toni brachte gleich die ganze Flasche und zwei Gläser. Der alte Alois schenkte ein. Er sorgte dafür, daß Urban gleich mehrere Schnäpse trank. Und langsam bekam Urban auch wieder Farbe ins Gesicht.

»Was kannst du mir noch von diesem Edgar sagen und seinem Vater, dem Urban? Warum haben die beiden dann nicht geheiratet?«

»Das mußt du den Edgar fragen oder noch besser: deine Mutter! Es war jedenfalls so, daß die beiden sich einig waren. Doch dann ist alles anders gekommen.«

Alois fühlte großes Mitleid mit Urban. Er konnte ihm ansehen, was in seinem Kopf vor sich ging, welche Gedanken ihn beschäftigten, welche Frage sich aufdrängte. Urbans Augen fragten, aber seine Lippen schwiegen. Alois sagte nichts.

So saßen sie ein ganze Weile stumm am Tisch. Urban spielte gedankenverloren mit Bierdeckeln. Alois beobachtete ihn.

»Urban, erzähle mir von Lioba! Ich mochte des Madl sehr. Wie geht es ihr? Wann seid ihr nach Kirchwalden gezogen?«

Urban trank einen Schluck Bier, als wollte er sich die Kehle anfeuchten. Dann erzählte er von Lioba, dem Schmidt, wie er den Mann nannte, den seine Mutter geheiratet hatte und der nie ein Vater gewesen war. Urban tat es gut, Alois sein ganzes Herz auszuschütten. Er faßte Vertrauen zu dem alten Hüttenwirt, der seine Mutter so gut kannte.

Urban sprach von den Sorgen seiner Mutter, die ihr ihr Ehemann gemacht hatte. Er sprach von dem Verlust des Geschäftes in Köln.

»Ich war fünfzehn Jahre, als wir nach Kirchwalden zogen! Das ist jetzt zehn Jahre her!«

»Mei, so lange seid ihr schon in der Gegend?«

Urban nickte. Er trank wieder einen Schluck Bier. Er erzählte von den Wanderungen, die er mit seiner Mutter in den näheren und weiteren Bergen um Kirchwalden gemacht hatte.

»Wir sind überall gewesen, nur nicht in Waldkogel! Eine wirkliche Erklärung hat mir Mutter nie gegeben. Ich dachte, es hängt mit der Scheidung zusammen, daß sie einmal mit dem Schmidt in Waldkogel gewesen ist. Doch jetzt vermute ich etwas ganz anderes.«

Der alte Alois lächelte. Behutsam sagte er:

»Vermuten kann man viel! Du kannst deine Mutter fragen. Aber des eilt net. Ich denke, daß sie vielleicht irgendwann von selbst mit dir redet. Möglicherweise hat sie nur einen Anlaß gebraucht. Vielleicht hat sie gehofft, dem Edgar Pircher einmal zufällig in Kirchwalden zu begegnen. Na ja, dem war net so. Der Himmel allein weiß, warum. Aber jetzt ist der Kontakt hergestellt. Du bist hier! Sie hat die Einladung bekommen.«

Urban nickte.

»Anna hat versprochen, daß sie mir helfen will, einen Praktikumplatz auf einem Bauernhof zu bekommen. Den brauche ich dringend, damit ich mein Studium abschließen kann. Ich habe Landwirtschaft studiert.«

»Mei, Bub! Des ist ja ganz famos. Des paßt ja. Wie bist du denn auf die Idee gekommen? Die jungen Burschen studieren heutzutage doch alle irgend so ein Zeug, das mit Technik zu tun hat oder Betriebswirtschaft.«

»Als Diplom-Landwirt, da lernt man auch Betriebswirtschaft. Wie ich drauf gekommen bin? Die Mutter mußte ja immer arbeiten und in den Ferien hat sie mich auf einem Bauernhof untergebracht. Des hat mir gefallen. Da habe ich das studiert. Jetzt brauche ich nur einen Praktikumplatz.«

»Naa, naa! Net nur einen Praktikumplatz! Du brauchst danach auch noch eine Arbeit!«

»Langsam, langsam, Alois! Sicherlich ist des richtig. Aber immer schön einen Schritt nach dem anderen, sage ich mir.«

»Des wird sich alles regeln. Es kommt nur auf dich an.«

»Fleißig will ich sein. Zupacken kann ich. Ich mache alles. Ich bin keiner von denen, die nur hinterm Schreibtisch sitzen wollen und den anderen sagen, was sie arbeiten müssen, verstehst? Sag mal, Alois, du kennst doch hier auch alle? Hast du keine Idee, wen ich fragen kann?«

»Doch! Aber ich denke, es wäre klug, wenn du dort erst mal net über deine Mutter reden würdest, verstehst?«

»Ich denke, ich verstehe, was dir im Sinn herumgeht, Alois!«

Der alte Alois stand auf. Er ging hinaus auf die Terrasse. Dort saßen in einer Ecke Polly und Joachim zusammen und redeten.

»Polly, jetzt bist du dran! Der Urban sucht einen Praktikumplatz. Ich denke, daß auf dem Pircher Hof eine Stelle frei ist, stimmt’s? Mußt deinem Vater ja net gleich auf die Nase binden, daß der Urban der Bub von der Lioba ist, verstehst?«

»Ich habe gerade darüber mit Joachim gesprochen. Wir hoffen beide, daß sich mein Vater gut mit Urban versteht. Vielleicht gefällt es Urban dort auch und er würde darüber hinaus noch bleiben… Aber das ist vielleicht auch zu viel erwartet. Erst mal einen Schritt nach dem anderen. Was hast du mit Urban geredet, Alois?«

Alois berichtete kurz. Dann bat er Polly, gleich mit Urban zu sprechen.

»Nimm den Urban und geht ein Stück den Weg zum ›Paradiesgarten‹ hinauf. Dort setzt ihr euch hin und redet. Da seid ihr ungestört. Ich hoffe, daß dein Joachim net eifersüchtig ist?«

Joachim Vorbauer lachte.

»Eifersüchtig bin ich nur auf jede Minute, die Polly net bei mir ist. Aber wenn des alles so klappt, dann sind wir ja bald ein Paar. Einig sind wir uns schon lange. Ich hoffe, daß wir alles so regeln können, wie wir uns das vorstellen. Dann steht unserem Glück nix mehr im Weg!«

Polly gab Joachim einen Kuß. Dann ging sie zu Urban. Zusammen spazierten sie ein Stück den Weg hinauf. Sie setzten sich in Sichtweite der Berghütte auf einen Felsen. Polly erzählte von ihrem Vater. Sie sprach von ihrer verstorbenen Mutter. Sie gestand Urban, wie sie auf dem Speicher nach der Adresse gesucht hatte. Kichernd berichtete sie von der Verlegenheit ihres Vaters, als sie ihm das Foto gab und ihn auf Lioba ansprach.

»Polly, dann ist es wahr. Dein Vater und meine Mutter waren einmal ein Liebespaar.« Urban schaute unter sich. »Und ich heiße Urban wie dein Großvater und mit zweitem Namen Edgar wie dein Vater. Das könnte bedeuten…!«

»Pst! Sprich es nicht aus! Das müssen die beiden miteinander ausmachen, Urban! Wichtig ist mir, daß Vater in dir einen Freund findet und du auf dem Pircher Hof bleiben kannst. Was den Verdienst angeht, da kann ich dir nichts sagen. Aber es würde mir ein Stein vom Herzen fallen, weil Vater dann nicht mehr allein ist. Ich denke, der Pircher Hof wird dir gefallen. Am Montag wirst du alles sehen. Ich hoffe, es wird alles gut. Mir und Joachim würdest du sehr helfen. Ich hoffe, ich setze da aufs richtige Pferd, wie?«

»Wie kannst du fragen, Polly!«

Polly lachte. Sie waren sich einig. Anschließend besprachen sie die Einzelheiten ihrer Vorgehensweise.

Mittlerweile war es früher Abend geworden. Sie gingen zurück zur Berghütte. Dort herrschte bereits Hochbetrieb. Die Bergwanderer und Bergsteiger kamen von ihren Touren zurück. Der Kegelclub war eingetroffen. Auf dem Geröllfeld standen viele blaue und rote Biwakzelte. Toni baute den Grill im Freien auf. Urban bot sofort an zu helfen. Toni gab ihm die Aufgabe, das Holz für das Lagerfeuer aufzuschichten. Urban machte sich sofort an die Arbeit. Polly half Anna in der Küche. Joachim räumte einen Teil der Terrasse leer. Dort sollte der Tanzboden sein. So waren alle die nächsten Stunden beschäftigt. Als die Sonne hinter den Bergen im Westen versank, loderte das Lagerfeuer auf. Der Duft vom Grill wehte über das Geröllfeld. Anna und Polly standen hinter dem Grill und dem Tisch mit den Salaten und dem selbstgebackenen Brot. Toni zapfte Bier, Joachim und Alois kümmerten sich auch mit um die Gäste.

Zuerst wurde gegessen. Dann holte Alois seine Ziehharmonika und Toni die Zither. Das war das Zeichen zum Tanz. Joachim forderte seine Liebste zum Tanz auf. Zärtlich schmiegten sie sich aneinander.

»Schau mal, Achim! Der Urban sitzt da etwas verloren herum. Warum holt er sich kein Madl?«

»Vielleicht ist ihm nicht nach Tanzen? Vielleicht ist er etwas schüchtern oder ihm gefallen die Madln net, die hier sind?«

»Schmarrn! Warum sollen sie ihm nicht gefallen? Sieh doch! Die beäugen ihn auch! Warte mal, Achim! Das machen wir anders.«

Polly löste sich aus Achims Umarmung. Sie sprach kurz mit Toni und Alois.

»Was heckst du jetzt schon wieder aus?«

»Das wirst du schon sehen!«

Toni und Alois spielten die Melodie noch zu Ende. Dann machten sie eine Pause. Die Paare verließen die Tanzfläche. Toni trank ein Bier. Dann betrat er die Terrasse.

»Also! Ihr seid ja alle gut in Stimmung. Des kann aber noch besser werden. Deshalb rufe ich für die nächste Runde Damenwahl aus.«

Alle klatschten.

Ein junges Madl schnellte vom Stuhl hoch und rannte zu Urban. Sie stolperte auf dem Geröllfeld über einen Stein. Urban sprang blitzschnell auf und fing sie auf.

»Mei, des war eine Reaktion!« rief jemand. »Jetzt mußt du des Madl auch küssen!«

»Küssen! Küssen! Küssen!« forderten alle angeheitert im Chor.

»Nun, was ist? Willst du mich nicht küssen?« fragte die junge Frau.

»Ich wollte – ich meine – ich könnte – ja ist es dir recht? Soll ich wirklich?«

Statt einer Antwort nahm die junge Frau Urbans Kopf in die Hände und drückte ihre Lippen auf die seinen. Urban wußte zuerst nicht, wie ihm geschah. Doch dann bewegte sich etwas in seinem Herzen. Er schlang seine Arme um sie und erwiderte ihren Kuß.

»So ist es recht!« flüsterte Alois vor sich hin.

Urban nahm das Madl bei der Hand und führte sie zur Tanzfläche. Sie waren unzertrennlich für den Rest der Feier.

Polly beobachtete die beiden genau. Nach einer Weile wandte sich Polly beunruhigt an Anna.

»Anna, wer ist sie? Des paßt mir überhaupt nicht. Es wäre mir lieber, Urban würde sich mit jemanden aus Waldkogel abgegeben!«

Anna lachte und legte den Arm um Pollys Schultern.

»Hast wohl Urbans Leben bereits verplant, wie? Aber keine Sorge. Das Madl ist eine angehende Forstwirtin. Sie macht beim Förster Hofer während des Sommers ein Praktikum. Sie ist bestimmt noch lange hier!«

Nach und nach waren alle müde vom Tanzen. Das Bier direkt vom Faß tat sein übriges. Alois und Toni hörten auf zu spielen. Die Gäste verzogen sich auf den Hüttenboden und in die Zelte. Toni hatte in der Wirtsstube noch Matratzen ausgelegt. Dort konnte Urban schlafen. Doch dazu kam es noch lange nicht. Er saß mit Petra auf der Treppe, die zur Terrasse führte, unter dem wolkenlosen Nachthimmel. Dabei schauten sie nicht nur in die Sterne, sondern auch gegenseitig in ihre Augen. Erst als sich der Morgen ankündigte, legten sie sich noch etwas zur Ruhe. Viel Zeit blieb ihnen nicht. Aber Verliebte sind nicht sehr müde. Die Gefühle in ihren Herzen lassen sie Hunger, Durst und Müdigkeit vergessen.

*

Lioba fand Urbans Zettel. Sie hatte Verständnis, daß ihr Sohn sofort die Chance auf einen Praktikumplatz wahrnehmen wollte. Sie freute sich mit ihm.

Lioba öffnete den Kiosk wieder und räumte das Auto aus. Später kam die Frau des Restaurantbesitzers zu ihr und gab ihr Annas Brief. Als Lioba die Zeilen las, sank sie auf den Hocker hinter der kleinen Ladentheke des Kiosks. Ihr zitterten die Hände, als sie das Foto betrachtete.

»Edgar!« flüsterte sie leise.

Liobas Herz klopfte. Das Blut stieg ihr in die Wangen.

»Oh, Edgar!«

Lioba mußte einen Augenblick die Augen schließen. Sie war froh, daß keine Kunden da waren. Die Erinnerungen stürmten mit Macht auf sie ein. Ein warmes Gefühl füllte ihr Herz, als sie sich an die Berge über Waldkogel erinnerte, an den »Engelssteig«, an die Berghütte, an Alois und natürlich an Edgar.

Liebevoll strich Lioba über das Foto, als wollte sie Edgar liebkosen.

»Jetzt habe ich wieder ein Bild von dir! Der gute Alois!«

Lioba las wieder Annas Zeilen. Dann packte sie alles in ihre Handtasche. Den ganzen Tag mußte sie daran denken. Immer und immer wieder redete sie sich ein, daß sie nicht hingehen würde. Sie bekämpfte das Gefühl der Sehnsucht.

Nein, nein, nein! Ich kann nicht nach Waldkogel fahren. Ich will Edgar nicht begegnen. Das wäre nicht gut. Ich habe mich schon vor langer Zeit entschieden, daß es besser für alle ist, wenn wir uns nie mehr sehen. Ich schaffe es nicht, die gan-

ze Vergangenheit auferstehen zu

lassen. Zu schmerzlich war das al-

les.

Nein, nein, nein, sagte sich Lioba immer wieder. Dabei klopfte ihr Herz. Es schalt sie eine Lügnerin. Es hielt ihr ihre Feigheit vor. Lioba kämpfte und kämpfte mit ihren Gefühlen.

Völlig erschöpft schloß sie den Kiosk früher als sonst an einem Freitag. Sie fuhr heim.

Lioba war unfähig, sich etwas zu Essen zu machen. Sie legte sich erschöpft auf das Bett in der kleinen Dachwohnung.

Dem Himmel sei Dank, daß Urban nicht daheim ist. Da muß ich keine Rücksicht nehmen, dachte Lioba und ließ sich gehen. Sie machte kein Licht, als es dunkel wurde. Sie kuschelte sich in eine Decke und schaute aus dem offenen Fenster den Mond an. Sie dachte an Edgar. Sie erinnerte sich, wie niemals die Jahre zuvor, an die Zeit in Waldkogel. Die Ereignisse von damals durchlebte Lioba in dieser einsamen Nacht wieder und immer wieder. Tränen quollen dabei still aus ihren Augen und liefen die Wangen hinab. Die Trä-

nen taten ihr gut. Und irgendwann sank sie hinüber in einen schweren traumlosen Schlaf.

Es war schon Mittag, als Lioba erwachte. Die Sonne schien durch das offene Fenster. Lioba schaute auf die Uhr. Zuerst erschrak sie. Dann erinnerte sie sich. Sie blieb liegen. Sie kuschelte sich wieder unter die Decke, wie ein Kind, das nicht aufstehen will, um zur Schule zu gehen. Es war ihr gleichgültig, daß der Kiosk geschlossen war. Sie hatte keine Kraft.

Es dauerte eine Weile, bis sich Lioba aufraffen konnte und aufstand. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und ging unter die Dusche. Aber selbst das kalte Wasser erinnerte sie an Waldkogel. Das Wasser war kalt wie das klare Wasser im Bergsee von Waldkogel, in dem sie nachts mit Edgar geschwommen war.

Lioba ließ sich das Wasser über den Kopf laufen, als könnte es die Gedanken aus ihrem Kopf fort-spülen. Erst als sie fror, drehte sie die Brause ab. Lioba zog sich an und trank Kaffee. Hunger verspürte sie nicht. Sie holte ihr Handy und schaute nach.

Richtig! Wie sie vermutet hatte, fand sie eine Nachricht von Urban. Ihr wurde schwarz vor Augen, als sie den Anrufbeantworter abhörte.

Hallo, liebe Mama!

Entschuldige, daß ich mich gestern nicht gemeldet habe. Ich bin in Waldkogel. Ich kann mich am Montag bei dem Bauern vorstellen. Polly, die mich mitgenommen hat, will mich hinbringen und ein gutes Wort für mich einlegen. Außerdem habe ich noch eine gute Nachricht für dich! Ich habe ein Madl kennengelernt. Sie heißt Petra und wohnt im Forsthaus. Mama, es war Liebe auf den ersten Blick! So werde ich über das Wochenende viel Zeit mit Petra verbringen. Waldkogel gefällt mir gut. Ich hoffe, du bist mir nicht böse. Ich werde jetzt mit Petra eine Wanderung machen. Ich denke an dich! Willst du nicht auch nach Waldkogel kommen? Wir können zu dritt wandern gehen! Ach, Mama, ich möchte dir so viel sagen, aber dann wird das Handygespräch zu teuer. Fühle dich umarmt, Mama. Bis bald!

Lioba griff sich an die Brust. Ihr Herz klopfte zum Zerreißen.

»Oh, Gott! Warum das alles?

Warum das alles nach so langer Zeit?

Warum das alles zusammen? Eine Einladung nach Waldkogel, ein Bild von Edgar, eine Möglichkeit für Urban und dann lernt er auch noch ein Madl in Waldkogel kennen?

Warum das alles?

»Warum das alles auf einen Tag?« flüsterte Lioba vor sich hin.

»Wie soll das weitergehen?«

Lioba hatte noch nie Urlaub gemacht. So beschloß sie, den Kiosk nicht zu öffnen. Sie brauchte Zeit für sich und wenn es nur ein einziger Tag war. Sie mußte Ruhe haben. Sie wollte nachdenken. Sie war gezwungen, eine Entscheidung zu treffen.

Lioba machte sich dann doch ein Brot mit Marmelade. Sie zwang sich, etwas zu essen. Danach fühle sie sich etwas besser. Sie schaute aus dem Fenster.

Sie ging ins Schlafzimmer und setzte sich auf ihr Bett. Sie überlegte, wie sie den Tag verbringen wollte. Es gab genug Hausarbeit zu machen. Lioba öffnete jeden Morgen um sechs Uhr den Kiosk und schloß erst um neun Uhr abends. Das war ein langer Tag. Hausarbeit und Buchhaltung bewältigte sie nebenbei, meistens in der Nacht.

Lioba entschloß sich, in die Berge wandern zu gehen. Dort konnte ihre wunde Seele Kraft tanken. So war es immer gewesen. Die Berge, die hatten ihr Trost und Ruhe gegeben in all den Jahren. Lioba wußte auch genau, wohin sie wollte. Es gab oberhalb von Kirchwalden eine Plattform. Von dort aus konnte man an klaren Tagen bis nach Waldkogel sehen. Den »Engelssteig« und das »Höllentor« sah man meistens recht gut. In den letzten Jahren, während Urban studierte, war Lioba oft allein dort hingegangen, wenn die Sehnsucht zu groß geworden war. Nach dem geliebten Waldkogel wollte sie nicht. Aber ein Blick von weitem, das gestattete sie sich.

Lioba zog ihre Wanderkleidung an, Kniebundhosen, dicke Strümpfe, Wanderschuhe, Bluse und eine ärmellose Weste darüber. Die Wanderjacke schnallte sie sich auf den gefüllten Rucksack. Lioba fuhr mit dem Auto zum Parkplatz, an dem der Wanderweg begann. Dann ging sie los. Nach einer Stunde erreichte sie ihr Ziel. Lioba setzte sich auf eine Bank und schaute durch das Fernglas. Es war ein besonders klarer Tag und die Sicht sehr gut. Durch das Fernglas kamen die Dächer von Waldkogel etwas näher. Doch in Gedanken und in Liobas Herzen war Waldkogel ganz nah.

Lioba verbrachte den ganzen Tag dort oben. Sie dachte viel nach. Nach zähem inneren Ringen stand ihr Entschluß fest. Sie wollte Urban keine Steine in den Weg legen. Wenn er sein Glück in Waldkogel finden sollte, dann würde sie ihn ziehen lassen. Sie gestand sich auch ein, daß sie niemand anderem als sich selbst den Vorwurf machen konnte, daß es so gekommen war. Sie hatte damals einfach nachgegeben, auf ihre Lie-

be verzichtet. Ich hätte kämpfen müssen, nicht brav und angepaßt sein!

Nun ist es zu spät, dachte sie. Ist es das wirklich? Sie kam erneut ins Grübeln. Lioba blieb, bis der Mond und die Sterne am Nachthimmel standen. Dann suchte sie im Schein ihrer Stablampe den Weg zu ihrem Auto.

Die Ampel in Kirchwalden war rot. Lioba sah die Straßenschilder. Sie laß das Richtungsschild, das den Weg nach Kirchwalden zeigte. Die Ampel wurde grün. Lioba fuhr ab. Sie bemerkte erst nach einigen Metern, daß sie falsch gefahren war und auf den Weg nach Waldkogel war. Sie fuhr rechts heran und wollte wenden. Lange saß sie unentschlossen im Wagen. Autos fuhren vorbei. Lioba konnte nicht wenden. Sie mußte noch ein Stück weiterfahren. Sie fuhr erneut rechts ran.

Plötzlich erschien ihr der Gedanke sehr verführerisch, einfach bis Waldkogel durchzufahren. Es war Nacht. Niemand würde sie sehen. Außerdem, wer kennt mich noch? Edgars Eltern sind sicherlich schon gestorben. Über fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Der Alois ist auf der Berghütte. Urban nächtigt vielleicht mit seiner Petra in einer Schutzhütte, so wie ich und Edgar es einst getan haben. Edgar wird daheim bei seiner Frau sein. Selbst wenn ich einmal am Pircher Hof vorbeifahre, er kennt mein Auto nicht, kann mich in der Dunkelheit nicht sehen, sollte er zufällig über den Hof gehen.

Lioba spürte eine Stärke in sich, wie sie sie die ganzen Jahre nicht gespürt hatte. Ein Gefühl, daß endlich ein neuer Lebensabschnitt begonnen hatte, machte sich in ihrem Herzen breit. Urban findet sein Glück in Waldkogel – vielleicht – wahrscheinlich – möglich? So dachte Lioba. Ich kann Waldkogel nicht bis ans Ende meiner Tage meiden. Ich muß mich stellen.

Lioba fuhr weiter. Sie fuhr langsam. Sie drehte die Fenster herunter und atmete die klare Luft. Sie war damals schon davon überzeugt gewesen, daß ein ganz besonderer Duft die Luft in Waldkogel ausmachte. Ja, es roch noch immer so. Da war er, der Duft nach Tannen, Wiesen und Kräutern. Er hatte sich tief eingeprägt, wie der Duft des Weihnachtsbaumes im Wohnzimmer ihrer Kindheit. Je näher Lioba Waldkogel kam, desto mehr spürte sie, daß eine Veränderung in ihr vorging.

Was auch immer war, dachte sie, Waldkogel ist irgendwie Heimat für mich.

Lioba fuhr langsam die Hauptstraße entlang. Sie besah sich die Häuser, das Rathaus, die schöne Barockkirche. Das Tor zum Friedhof stand offen. Aus dem Fenster der Kirche fiel Licht auf die Straße. Stimmen drangen an ihr Ohr.

Wohin jetzt? Lioba überlegte kurz. Das blaue Schild mit der Aufschrift Parkhaus, gab den Ausschlag. Lioba fuhr in die Tiefgarage des Hotels »Zum Ochsen«.

Sie schulterte ihren Rucksack und fuhr mit dem Aufzug hinauf in die Empfangshalle. Lioba schaute sich um. Sie erkannte sofort, daß umgebaut worden war. Ja, die Zeit bleibt nicht stehen.

»Haben Sie noch ein Zimmer?« fragte Lioba am Empfang.

Der ältere Herr schaute nach.

»Tut mir leid! Ein Einzelzimmer ist nicht mehr frei! Alle Doppelzimmer sind auch belegt. Es ist nur noch die Suite frei.«

Lioba lachte.

»Zu groß für mich allein und wohl auch zu teuer! Schade!«

Lioba war schon wieder im Gehen, als der Empfangschef sie zurückrief.

»Hier, nehmen Sie! Und tragen Sie sich hier ein! Ich gebe Ihnen die

Suite zum Preis eines Einzelzimmers!«

Lioba schaute ihn überrascht an.

»Aber das können Sie doch nicht machen! Sie werden Ärger bekommen mit Ihrem Chef!«

Auf diesen Satz erntete Lioba schallendes Lachen.

»Madl! Des laß mal meine Sache sein! Des Hotel hat früher mir gehört. Jetzt machen es die Kinder. Ich bin nur ausnahmsweise am Empfang. Mußt dir also keine Sorgen machen.«

Lioba überlegte kurz. Dann trug sie sich in das Buch ein und nahm den Schlüssel.

»Danke! Vergelt’s Gott!« murmelte sie leise.

Die Suite lag ganz oben. Vom Balkon aus hatte Lioba einen schönen Ausblick auf das nächtliche Waldkogel. Sie machte sich frisch. Anschließend aß sie die restlichen Brote aus ihrem Rucksack. Dann beschloß sie, einen Spaziergang zu machen.

Lioba ging die Hauptstraße entlang. Sie sah sich die Auslagen im Schaufenster des Andenken- und Trachtenladens Boller an. Die gab es also auch noch. Damals hatte Lioba dort für Edgars Mutter ein Umschlagtuch gekauft und es ihr zum Geburtstag geschenkt. Lioba ging weiter. Sie kam an der Kirche vorbei und setzte sich auf den Rand des Brunnens und hielt ihre Hand in das Wasser.

Sie schaute sich um. Im Rathaus brannte in einem Raum noch Licht. Vielleicht hat jemand vergessen,

es auszumachen, überlegte Lioba. Doch dann erloschen die beleuchteten Fenster. Kurz darauf verließ eine Gruppe von Männern das Rathaus. Einige machten sich auf den Heimweg. Zwei standen noch eine Weile zusammen und flüsterten, bis sie sich verabschiedeten. Einer kam herüber. In der Dunkelheit erkannte Lioba, daß es ein Geistlicher war. Er ging auf das offene Tor des Friedhofs zu und schloß es.

»Grüß Gott!« sagte er und blieb stehen.

»Grüß Gott!« erwiderte Lioba.

»Das Wasser kann man sogar trinken. Das kommt direkt aus der Quelle.«

»Ich weiß es von früher!« rutschte es Lioba heraus.

»Ah, dann kennst du unser schönes Waldkogel schon. Doch warum sitzt du hier in der Dunkelheit?«

»Weil ich früher, als ich noch jung war, oft hier war – wahrscheinlich aus Sentimentalität.«

»Jung? Naa, so alt bist du net, Madl!«

Sie lachten.

»Ich nehme an, Sie sind hier der Pfarrer.«

»Der bin ich!«

»Mich verbinden gewisse Erinnerungen an Waldkogel. Es ist mehr oder weniger Zufall, daß ich hier bin oder auch Vorsehung. Aber vielleicht können Sie mir Auskunft geben. Es ist immer gut, wenn man ein wenig Bescheid weiß. Ich kannte damals einige Leute, die Baumbergers, den Besitzer des Sägewerks, den Alois und seine Frau von der Berghütte. Den Familiennamen vom Alois weiß ich nicht mehr und eine Familie Pircher. Wie geht es denen jetzt?«

Beim Namen Pircher horchte Pfarrer Zandler auf.

»Ja! Die Baumbergers, ich denke, du meinst den Xaver und die Meta, die haben immer noch das Wirtshaus mit der Pension. Der Weißgerber hat das Sägewerk von seinem Onkel geerbt. Der hat net geheiratet. Der Alois ist schon viele Jahre Witwer. Anfangs hat er die Berghütte noch Jahre allein bewirtschaftet, jetzt gehört sie Toni und Anna Baumberger. Der Alois lebt mit auf der Berghütte. Der Edgar Pircher ist auch seit fünf Jahren Witwer und hat eine erwachsene Tochter.«

»So, Witwer ist er! Das wußte ich nicht! Man verliert sich aus den Augen!« sagte Lioba leise, denn sie bemerkte, wie genau sie der Geistliche betrachtete.

»Hast du die Pirchers näher gekannt?«

»Ja! Wir waren eine Gruppe junger Leute, einzelne und auch Pärchen, die alle den Edgar gekannt haben. Oft waren wir auch alle zu Gast auf dem Pircher Hof. Nun ja, das ist alles lange her. Edgars Eltern, die müßten jetzt schon sehr alt sein….«

»Die leben beide schon nicht mehr!«

»Das dachte ich mir schon. Ich habe sie als reizende Leute in Erinnerung! Danke für die Auskunft, Herr Pfarrer!«

Pfarrer Zandler machte sich so seine Gedanken. Er wollte aber nicht direkt fragen. So sagte er:

»Wo kommen Sie her? Sie sind nicht aus der Gegend.«

»Nein! Ich bin nicht aus der Gegend. Mich zieht es aber immer wieder in die Berge. Man wird älter, da ist es vielleicht verständlich, daß es einem an Orte der Jugend zieht, so sagt man doch?«

»Ja, so sagt man!«

»Gute Nacht, Herr Pfarrer!«

»Gute Nacht! Und noch einen schönen Aufenthalt!«

Lioba stand auf und ging weiter.

Pfarrer Zandler sah ihr nach. Er sah, wie Lioba das Hotel betrat. Ein bissel höre ich da einen Akzent raus, auch wenn es nimmer viel ist, dachte er. Das ließ ihm keine Ruhe. Er wartete einen Augenblick, dann folgte er ihr. Von der Straße aus sah er, wie sie am Empfang den Schlüssel nahm und zum Aufzug ging.

Pfarrer Zandler betrat das Hotel. Zielstrebig ging er auf den Empfang zu.

»Grüß Gott, Norbert! Da hab’ ich ja ein unverschämtes Glück, daß du am Empfang bist!«

»Grüß dich, Heiner! Ich bin nur eingesprungen. Der Empfangschef ist krank und mein Bub hat auch zu tun. Wir haben eine große Gesellschaft. Da greife ich der näch-

sten Generation schon mal unter

die Arme. Nett, daß du mich besuchst. Hast mich von draußen gesehen?«

»Naa! Ich bin einer Frau gefolgt. Die ist eben hier rein, die mit den hellblonden Haaren!«

»Mei, Heiner! Ich dachte Geistliche müssen das Zölibat befolgen. Was läufst du einem Weiberrock nach?«

»Rede net so einen Blödsinn! Auch net zum Scherz, es könnte jemand hören. Wer war sie?«

»Des fällt unter Datenschutz!«

»Schmarrn! Des fällt unter des Beichtgeheimnis! Jetzt zeigst du mir des Buch. Sagen mußt du ja nix! Ich kann lesen!«

Norbert Seeberger zierte sich etwas.

»Die Frau heißt Lioba Schmidt und wohnt in Kirchwalden. Weiß der Geier, warum die ein Hotelzimmer suchte. Die könnte genausogut heimfahren«, bemerkte Norbert.

Pfarrer Zandler schmunzelte.

»Des kann ich dir sagen, Norbert! Weil der Himmel sie heute nach Waldkogel geführt hat und der Rest von der Geschichte, der fällt unter des Beichtgeheimnis. Grüß Gott und eine schöne Nacht! Grüß mir deine Frau!«

Während Pfarrer Zandler schon zur Tür ging, rief ihm Norbert Seeberger noch einen Gruß hinterher.

Pfarrer Zandler war hochzufrieden. Da war doch ein Stein ins Rollen gekommen. Nun, das wird alles schon werden, dachte er voller Zuversicht, wie es sich für einen Geistlichen gehörte.

*

Lioba schlief fest und traumlos. Sie schlief jedenfalls lange. Der Glockenklang des sonntäglichen Mittagsläutens weckte sie. Sie streckte sich und hüpfte aus dem Bett. Sie fühlte sich leicht, beschwingt und auf eine geheimnisvolle Art zuversichtlich. Lioba bestellte sich ein Frühstück auf das Zimmer. Ein Vorteil, wenn man eine Suite gebucht hat, dachte sie. Dann bekommt man auch um zwölf Uhr noch ein Frühstück. Bis es kam, nahm Lioba ein Bad. Sie zog sich an und aß.

Ich hätte schon längst einmal Waldkogel besuchen sollen. Es war falsch, es vor mir herzuschieben. Es lastete mir auf der Seele, wie eine unangenehme Arbeit, vor der man sich gern drückt. Ich muß Klarheit in mein Leben bringen. Das bin ich auch Urban schuldig. Er muß wissen, daß ich keine Einwände habe, wenn er sein Glück in Waldkogel findet. Sei es, daß er die Liebe seines Lebens findet oder auch nur einen Praktikumplatz.

Lioba kaute den Mund leer und trank einen Schluck Kaffee. Sie nahm ihr Handy und wählte die Nummer ihres Sohnes. Das Handy war abgeschaltet, nur der Anrufbeantworter sprang an.

Lioba sprach darauf:

Hallo Urban! Ich habe mein Band abgehört und die beiden Neuigkeiten mit Freude vernommen. Ich hoffe, du hast ein schönes Wochenende mit deiner Petra. Ich wünsche dir alles Glück der Welt. Das gilt auch für deinen Praktikumplatz. Gib mir Bescheid, ob alles klappt. Am besten fängst du sofort an. Deine Sachen bringe ich dir. Es ist auch für mich an der Zeit, daß ich meinen Frieden mit Waldkogel mache.

Ich hab’ dich lieb, mein Bub! Grüße mir unbekannterweise deine Petra.

Bis bald!

Lioba lächelte vor sich hin. Sie war ganz ruhig und froh, daß sie endlich die Kraft gefunden hatte, ihre Vergangenheit abzuschließen, wie immer es auch ausgehen würde.

Nach dem Frühstück warf Lioba ihren Pullover um die Schultern und fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter in die Tiefgarage. Sie stieg ins Auto und steuerte es direkt zum Pircher Hof.

Edgar Pircher saß am Küchentisch und aß. Er hatte sich das Essen bei den Baumbergers geholt. Er wollte daheim essen, in Ruhe. Edgar schaute aus dem Fenster, als auf der Straße ein kleines Lieferauto anhielt. Er schenkte ihm wenig Beachtung und aß weiter.

Lioba blieb erst einmal eine Weile hinter dem Steuer sitzen. Die Augen hinter der Sonnenbrille verborgen, betrachtete sie den Pircher Hof.

»Es ist, als sei die Zeit stehengeblieben«, flüsterte sie vor sich hin.

Ihr Herz klopfte. Ihr Puls raste. Ihr Atem ging stoßweise. Ihr Hände wurden feucht.

»Ich muß jetzt da durch! Entweder er hört mir zu oder er wirft mich raus! Ganz gleich, was geschieht, ich muß es tun. Ich muß da hineingehen.«

Mit zittrigen Knien stieg Lioba aus dem Auto. Sie betrat den Hof. In dem Augenblick, als sie vor der Haustür des Wohnhauses stand, ging die Tür auf. Edgar stand ihr gegenüber.

Sie erkannten sich sofort. Dann schwanden Lioba die Sinne. Sie schwankte. Sie versuchte mit der Hand den Türrahmen zu fassen. Dann wurde es ihr schwarz vor den Augen.

Als sie kurze Zeit später wieder langsam zu sich kam, lag sie auf der Bank vor dem Haus. Edgar Pircher kniete neben ihr. Sie schauten sich an. Lioba sah, daß er Tränen in den Augen hatte.

»Lioba, geht es dir wieder besser? Ist alles in Ordnung? Soll ich unseren Doktor rufen? Wir haben hier einen tüchtigen jungen Arzt, den Doktor Martin Engler. Es ist sicher besser, wenn er nach dir schaut. Kann ich dich einen Augenblick allein lassen? Ich gehe nur kurz ins Haus, um ihn anzurufen.«

Er wollte ihre Hand loslassen. Doch Lioba hielt sie fest. Sie richtete sich auf.

»Danke, Edgar, für deine Besorgnis! Ich brauche keinen Doktor! Es geht schon wieder. Es war nur die Aufregung. Tut mir leid, daß ich dir solche Umstände mache.«

»Mei, Lioba! Hauptsache, dir geht es wieder gut! Ich gebe zu, ich bin ganz schön erschrocken.«

»Erschrocken, weil ich in Ohnmacht fiel oder plötzlich vor dir stand?«

»Wohl beides! Daß dir die Beine versagt haben, des war schon noch ein weiterer Schreck! Mir haben auch die Knie gezittert. Willst mit reinkommen? Ich denke, das Beste wird sein, wir beide genehmigen uns jetzt einen Schnaps.«

»Danke für die Einladung! Du bist sehr freundlich, Edgar!«

Sie schauten sich an. Lioba wollte ihre Hand zurückziehen. Doch jetzt war es Edgar, der sie nicht mehr losließ. Er führte Lioba in die Küche und bot ihr einen Platz an. Dann holte er eine Flasche Obstler und schenkte ein. Sie tranken.

»So, jetzt hast du wieder mehr Farbe im Gesicht«, bemerkte Edgar.

Er schaute Lioba an und konnte die Augen nicht von ihr lassen. Sein Herz klopfte.

»Mei, Lioba! Daß du da plötzlich vor meiner Tür gestanden bist, das war wirklich eine Überraschung! Was habe ich gerade in der letzten Zeit an dich gedacht! Des kannst mir glauben!«

Edgar griff zur Bekräftigung seiner Worte in die Innentasche seiner leichten Lodenjacke, die er sonntags trug. Er holte seine Brieftasche heraus und legte das Foto auf den Tisch. Er strahlte Lioba an.

»Schaust noch genauso aus wie damals!«

»Jetzt tust du übertreiben, Edgar! Die Jahre sind net spurlos an mir vorbeigegangen. Es war net immer leicht.«

»Des Leben ist net immer leicht. Vieles kann man sich aussuchen, anderes muß man einfach so annehmen, wie es kommt.«

»Richtig!« sagte Lioba leise und schaute unter sich. »Wenn man sich falsch entscheidet, dann leidet man unter Umständen ein ganzes Leben.«

»Ja, des ist so! Aber ist es net auch so, daß es Augenblicke gibt, da kann man nur wählen zwischen Pest und Cholera? So sagt es doch der Volksmund.«

Lioba seufzte tief.

»Ja, das ist wahr! Wie sich einer auch entscheidet – es ist immer falsch.«

Lioba schaute Edgar direkt an. Er sah, daß ihre Augen feucht glänzten.

»Edgar, es hat einen Grund, daß ich gekommen bin. Ich will mit der Vergangenheit abschließen. Ich lebe schon seit zehn Jahren in Kirchwalden. Ich habe Waldkogel immer vermieden. Ich wollte von mir aus nicht entscheiden, den ersten Schritt zu tun. Gleichzeitig hoffe ich, daß dich das Schicksal mir in Kirchwalden über den Weg schickt.«

Lioba holte ihr Foto aus dem Rucksack.

»Schau!« flüsterte sie und legte es neben das andere Foto.

»Ja, des waren glückliche Zeiten damals. Es wird nie mehr so werden, Edgar. Ich bin nur vorbeigekommen, um dir zu sagen, daß ich jetzt öfters in Waldkogel sein werde. Ich hielt es für besser, wenn wir uns erst einmal so begegnen, als auf der Straße.«

Edgar stimmte zu.

Dann unterhielten sie sich. Edgar erzählte von seiner verstorbenen Frau und seiner Tochter. Er sprach davon, wie schwierig es für ihn ist, dem Madl die Mutter zu ersetzen.

»Die Polly hat wenigstens gute Erinnerungen an ihre Mutter. Mein Urban…«

»Du hast deinen Bub Urban genannt?«

»Nicht nur Urban, sondern Urban Edgar!«

»Mei, des ist ja eine Überraschung. Da könnte ich ja direkt Vermutungen anstellen.«

Lioba errötete tief.

»Daran kann ich dich nicht hindern. Reden können wir später darüber, Edgar. Mir ist schon wieder ganz schummerig! Es ist doch alles ein bissel viel! Alles, was ich dir sagen will, ist, daß ich jedesmal, wenn ich meinen Buben angeschaut und seinen Namen gerufen habe, an dich – an den Pircher Hof – an deine Eltern gedacht habe.«

Edgar dachte sich seinen Teil. Oder war es eine unausgesprochene Hoffnung, die er in seinem Herzen bewegte?

Er hörte aufmerksam zu, als Lioba erzählte. Sie sprach von dem Druck der Eltern, Schmidt zu heiraten. Sie sprach von dessen Spielerkrank-

heit und von der Trennung. Sie redete von ihrem Leben in Kirchwal-

den.

»Dann sucht dein Bub jetzt einen Praktikumplatz? Mei, den kann er haben.«

»Edgar, denke bitte nicht, daß ich dich deswegen aufgesucht habe.«

»Naa, des denke ich nicht. Deine Augen sagen mir etwas anderes.«

Edgar stand auf. Er kochte Kaffee, holte Tassen, Milch und Zucker.

»Lioba, es ist seit damals viel Zeit vergangen. Ich habe nach dem Tode meiner Frau oft an dich gedacht. So oft habe ich mich gefragt, was du machst, wie es dir geht. Weißt du, die Alwine, sie hat gewußt, daß du vor ihr meine große Liebe gewesen bist. Sie sagte einmal, daß ich nach dir sehen soll, wenn ihr einmal etwas passiert. Aber ich konnte mich dazu nicht durchringen. Ich habe Alwine nie so geliebt wie dich. Das wußte sie. Sie liebte mich auch nicht so, wie den Burschen, mit dem sie vorher zusammen war. Es war eine andere Liebe zwischen uns. Jetzt bin ich frei! Jetzt bist du frei!«

Sie schauten sich in die Augen.

»Meinst, wir könnten neu anfangen?« Edgar griff nach Liobas Hand. »Lioba, als ich das Foto bekommen habe, da wußte ich es tief in meinem Herzen. Lioba, im Grunde habe ich nie aufgehört, dich zu lieben. Ich liebe dich immer noch – und ich werde dich immer lieben.«

Lioba errötete.

»Ich empfinde auch so, Edgar! Ich liebte dich still und heimlich die ganzen langen – langen Jahre. Deshalb bin ich dir wohl auch aus dem Weg gegangen. Ich hatte Angst. Ich schämte mich wegen meiner Entscheidung, dafür, mich damals nicht für dich entschieden zu haben.«

Edgar schüttelte den Kopf.

»Äußerlich hast du dich net für mich entschieden. Aber ich bin in deinem Herzen gewesen. Wie heißt es? Wer sollte wagen, den ersten Stein zu werfen? Ich weiß nicht, wie ich gehandelt hätte, wenn ich die Existenz unseres Hofes durch eine gute Heirat hätte retten können.«

»Danke, Edgar! Danke für dein Verständnis! Mein Opfer war vergebens. Der Mann hat alles zerstört letzten Endes!«

Edgar stand auf. Er zog Lioba vom Stuhl auf und nahm sie in die Arme. Sie sahen sich in die Augen. Edgar fühlte, wie Lioba zitterte.

»Meine Liebste!« flüsterte Edgar. »Ich lasse dich jetzt nie mehr los. Willst du?«

»Ja, Edgar! Das ist alles, was ich will: Für den Rest meines Lebens immer ganz in deiner Nähe sein!«

Dann fanden sich ihre Lippen zu einem ersten scheuen Kuß – nach so langer Zeit. Sie waren so aufgeregt. Noch aufgeregter als beim ersten Kuß damals, vor mehr als fünfundzwanzig Jahren. Sie hatten sich wieder. Beide fühlten die lang ersehnte Nähe des anderen und dessen Zuneigung. Ihre Herzen hielten innige Zwiesprache.

So ging das eine ganze Weile. Sie konnten nicht damit aufhören, sich immer und immer wieder ihrer Liebe zu versichern.

*

Edgar wollte keine Zeit verlieren und sofort heiraten. Lioba war einverstanden und dankbar für seine

Initiative. Sie ließ ihn alles regeln.

So kam es, daß Polly an Nachmittag eine SMS auf ihrem Handy vorfand und Urban eine von seiner Mutter.

»Was ist das?« schrie Polly laut.

Alle Hüttengäste auf der Terrasse der Berghütte drehten sich nach Polly um. Sie starrte auf das Display ihres Handys.

»Achim! Toni! Anna! Alois! Hier, schaut mal! Tut des mal lesen! Des kann doch nur ein Witz sein? Oder?«

Auf Pollys lautem Geschrei eilten alle herbei! Ihr Handy wanderte von einem zum anderen. Da stand:

Liebste Polly!

Mir geht es gut! Ich habe mich heute entschlossen, wieder zu heiraten und feiere mit meiner Braut heute abend meine Verlobung.

Ich würde – naa – wir würden uns sehr freuen, wenn du kommen würdest.

Dein Vater

»Der hat eine Geliebte gehabt. Aber ich habe nichts bemerkt! So ein Heimlichtuer! Ich habe wirklich nichts bemerkt!«

Joachim legte seinen Arm um Polly und lachte:

»Des ist net verwunderlich in der Familie Pircher! Da hält wohl jeder seine Liebschaften geheim. Aber jetzt ist wohl alles klar. Wir sind uns einig, Polly! Ich dulde jetzt keine Ausflüchte mehr. Packe deine Sachen. Wir machen uns sofort auf den Weg. Dann gibt es heute abend eine Doppelverlobung auf dem Pircher Hof!«

Polly schaute in die Runde.

»Das ist kein Witz, nicht wahr? Wer wird sie sein? Immerhin wird sie meine Stiefmutter.«

»Mei, Polly! Des kommt alles in Ordnung! Schau hinauf zum ›Engelssteig‹. Wie schön leuchtet der Gipfel heute. Er leuchtet besonders schön. Die Engel werden droben sein und ein Auge auf den Pircher Hof haben. Nun lauf schon, Polly!« ermunterte sie der alte Alois.

Polly rannte davon und packte ihre Sachen. Kaum zehn Minuten später war sie zusammen mit Joachim auf dem Weg ins Tal. Diesmal versteckte sie ihren Ring nicht.

*

Urban, dem Toni Wandersachen geliehen hatte, saß mit seiner Petra in den Bergen auf einem Felsbrocken. Er war glücklich. Petra war ein Madl, wie er es sich nicht besser hätte erträumen können.

Er schaltete sein Handy ein, um nachzusehen, ob seine Mutter ihm eine Nachricht geschickt hatte.

»Meine Mutter hat sich gleich zweimal gemeldet, Petra! Bin gespannt, wie sie es aufgenommen hat, daß ich in Waldkogel bin.«

Zuerst hörte Urban die Nachricht auf dem Anrufbeantworter ab. Er freute sich, daß seine Mutter endlich ihren Frieden mit der Vergangenheit machen wollte.

Dann las er die SMS laut vor. Da stand:

Mein lieber Bub!

Bin gut in Waldkogel angekommen und habe alles geklärt, was mich die Jahre über so bedrückt hat – jedenfalls fast alles. Ich werde auch für immer in Waldkogel bleiben. Komme bitte so bald es dir möglich ist auf den Hof von Edgar Pircher. Edgar und ich werden so schnell wie möglich heiraten. Bringe deine Petra mit, wenn du magst.

Fühle dich umarmt.

Grüße an Petra

Deine Mama

PS. Wir feiern heute abend Verlobung!

Urban schloß für einen Augenblick die Augen. Er lächelte. Dann sagte er leise.

»Gott sei Dank! Dann wird Mutter endlich glücklich! Dann fügt sich alles zusammen. Kommst du mit mir, Petra? Bitte!«

Petra schaute ihm in die Augen.

»Das ist eine Familienangelegenheit! Willst du wirklich, daß ich mitkomme?«

Urban legte den Arm um Petra.

»Ja, das will ich! Ich bin so froh, dich gefunden zu haben. Ich habe gleich gespürt, daß du das richtige Madl bist.«

Petra lachte.

»Dabei war ich es, die dich zum Tanz geholt und zuerst geküßt hat.«

»Ja, du wußtest auch, wen du willst.«

»Ja, das wußte ich. Ich komme gern mit.«

Sie küßten sich. Dann standen sie auf und schlugen den Rückweg ein.

*

»Vater! Vater! Wo bist du?« schrie Polly aus Leibeskräften und rannte über den Hof.

»Wir sind im Wohnzimmer!«

Polly stoppte im Türrahmen. Sie sah sich um.

Der große massive Tisch war ausgezogen und festlich dekoriert mit frischen Blumen und Gräsern aus dem Garten.

»Da bist du ja, mein Madl! Schön, daß du da bist!«

Edgar Pircher ging auf Polly zu.

»Ja, wie soll ich dir das erklären?« sagte er leise und nahm seine Tochter an beiden Händen.

»Nix mußt du mir erklären, Vater! Ich sehe in deinen Augen, wie glücklich du bist. Doch sage mir, wer es ist?«

»Erinnerst du dich an das Foto? An des junge Madl?«

»Ah, du meinst die Lioba Schmidt! Sag nur, daß ihr euch endlich gefunden habt?«

»Woher weißt du, daß sie Schmidt heißt? Ich habe dir nur gesagt, daß ihr Mädchenname ›Fischer‹ ist«, staunte ihr Vater.

Polly nahm ihren Vater um den Hals und küßte ihn auf die Wan-

ge.

»Ich freue mich so! Woher ich das weiß? Das erzähle ich dir später! Ich sage dir erst, was ich noch alles weiß. Die Lioba hat einen Buben, der heißt Urban Edgar! Er ist in Waldkogel auf der Berghütte. Ich habe ihn hergebracht. Er hat Landwirtschaft studiert. Ich wollte dich bitten, daß er auf unserem Hof ein Praktikum machen kann. Aber das hat sich inzwischen ja von selbst geregelt. Wie wunderbar!«

Polly löste sich von ihrem Vater.

»Wo ist Lioba? Also, Mutter kann ich nicht zu ihr sagen!«

»Das verlangt auch niemand von dir!« sagte eine weibliche Stimme hinter Polly.

Polly drehte sich um.

Nach einem kurzen gegenseitigen Mustern lagen sich die beiden Frauen in den Armen.

»Willkommen auf dem Pircher Hof, Lioba!«

»Danke, Polly! Vielen Dank! Sage ruhig weiterhin Lioba zu mir!«

»Oh, Lioba! Ich freue mich so, daß ihr euch gefunden habt. Ich bin sicher, daß du Vater eine wunderbare Frau sein wirst. Dann ist er nicht mehr allein, wenn ich gehe!«

»Polly, was soll das heißen?« fragte Edgar Pircher verwundert.

Polly bekam einen hochroten Kopf.

»Augenblick!«

Polly lief hinauf auf den Hof und zog Joachim Vorbauer an der Hand hinter sich herein.

Sie streckte ihrem Vater die Hand hin, mit dem Ring, den ihr Joachim geschenkt hatte.

»Vater, ich liebe Joachim schon lange. Wir sind uns einig, daß wir heiraten wollen. Achim erbt von seinem Vater den Hof und ich werde dann dort leben. Ich konnte bisher dem Joachim nicht mein Jawort geben, weil ich dich nicht allein lassen wollte. Aber jetzt hast du Lioba. Und ihren Buben bekommst du auch. Da muß ich mir um dich und den Pircher Hof keine Sorgen mehr machen.«

Edgar Pircher war völlig überrascht.

»Lioba, was sagst du dazu?« fragte er fast tonlos.

Lioba lachte.

»Nun, Edgar! Da sagst du am besten ›Glückwunsch‹ und nimmst dein Madl in die Arme. Sie ist bestimmt genauso glücklich wie du.«

So geschah es dann auch. Polly wurde zuerst von ihrem Vater umarmt. Dann nahm Lioba sie in den Arm. Edgar schüttelte Joachim die Hand.

»Daß du meine Polly nur glücklich machst! Hörst du!«

»Das werde ich! Das werde ich sicher! Und dir auch alles, alles gute mit deiner Lioba!«

Edgar holte die Schnapsflasche und stieß mit seinem Schwiegersohn an.

»So, ihr Mannsbilder! Jetzt lassen wir Weiber euch allein! Ich entführe dir jetzt deine Braut, Vater! Die Lioba trägt Wanderkleidung. Damit kannst du mit ihr net durch das Dorf gehen. Ich gebe ihr etwas von mir! Wir haben die gleiche Größe.«

Polly nahm Lioba bei der Hand und zog sie fort.

Es dauerte eine Weile, bis die beiden wiederkamen. Polly trug ihr hellblaues Lieblingsdirndl. Sie hatte Lioba ein dunkelgrünes Dirndl herausgesucht.

»Mei! Schau, Achim! Sehen sie net fesch aus, unsere Weiber?«

»Mei, des kannst laut sagen, Pircher Vater!«

»Mit unseren Burschen können wir uns auch sehen lassen, Lioba, meinst net auch? Wenn ich mir die beiden so betrachte, dann sage ich, daß die beiden Mannsbilder richtig Staat machen.«

»Ja, das tun sie! Und du gefällst mir auch, Polly! Ich bekomme nicht nur endlich den Mann meines Herzens, sondern auch eine Tochter.«

»Und wo bleibt der Urban?« fragte Edgar. »Der gehört doch auch zur Familie.«

Wie auf das Stichwort hörten sie Schritte vor dem Haus auf dem Hof. Polly eilte hinaus. Sie brachte Urban herein.

»Vater, des ist der Urban!«

Urban lächelte und sah seine Mutter an. Das Blut schoß Lioba in die Wangen. Sie trat zu ihrem Sohn, sah ihm in die Augen, nahm seine Hand und legte sie in Edgars Hand. Dann sah Lioba Edgar in die Augen. Es bedurfte keiner Worte, weder von Urban, noch Edgar, noch Lioba oder Polly! Die unausgesprochene Frage war beantwortet worden. Edgar schloß seinen Sohn in die Arme.

Nachdem sich alle verstohlen die Tränen aus den Augenwinkel gewischt hatten, brachen sie auf. Wie es in Waldkogel Sitte war, gingen die beiden Paare auf der Hauptstraße spazieren. Sie grüßten jeden freundlich und bekundeten, daß sie zusammengehörten. Es erregte Aufsehen, daß Edgar Hand in Hand mit einer so schönen Frau daherschritt. Wo kam sie her? Wer war sie?

Edgar genoß ihre Blicke und schwieg. Auf unserer Hochzeit werde ich es schon verkünden, dachte er.

Die darauffolgende Woche war sehr turbulent auf dem Pircher Hof. Lioba hatte einen Pächter für ihren Kiosk in Kirchwalden gefunden. Sie zog mit Urban auf den Hof. Dazu wurden Zimmer renoviert und Möbel gerückt. Polly verstaute schon viele ihrer Sachen in Kisten und lagerte sie in der Scheune. Denn bis zur Hochzeit mit Joachim war es nicht mehr lange.

Eine Doppelhochzeit wollte Polly nicht. Zuerst heiraten wollte sie auch nicht.

»Vater muß zuerst versorgt sein!« sagte sie.

Edgar Pircher heiratete Lioba zehn Tage später. Sie feierten groß auf dem Pircher Hof. Wie glücklich Edgar war, das konnte jeder sehen. Polly und Urban verstanden sich gut. Urban packte tüchtig mit auf dem Hof an.

Dann war es endlich soweit. Joachim Vorbauer führte zwei Wochen später seine Polly zum Traualtar. Polly sagte laut und deutlich Ja, als sie gefragt wurde. Alles war geregelt und zwar auf eine Art und Weise, wie es sich Polly nicht in ihren kühnsten Träumen hätte vorstellen können.

Polly lebte danach als Jungbäuerin auf dem Vorbauer Hof. Doch so oft es ihr möglich war, besuchte sie ihren Vater und seine Lieben. Urban bestand seine Examen mit Auszeichnung und heiratete im Jahre darauf seine Petra.

Toni der Hüttenwirt Paket 2 – Heimatroman

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