Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 2 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 8

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Es war früher Abend. Toni belud seinen Geländewagen im Hof seiner Eltern. Durch die offenen Fenster drang der Lärm aus der Wirtsstube nach draußen.

Bürgermeister Fritz Fellbacher parkte sein Auto neben Tonis Wagen. Er stieg aus und schaute an dem Haus hinauf.

»Grüß dich, Fellbacher!« rief ihm Toni zu. »Was betrachtest du unser Haus?«

»Dein Vater hat des Schild ›Beim Baumberger‹ frisch gestrichen.«

»Ja, des hat er! Er hat den Zusatz ›Zimmer zu vermieten‹ überpinselt.«

»Des seh’ ich, Toni! Warum? Tun deine Eltern keine Zimmer mehr vermieten?«

»Doch, Fellbacher! Aber die Mutter und der Vater sind für den Sommers ausgebucht. Es sind eben meistens Stammgäste, die kommen. Für die Reklame der Gästezimmer, da will der Vater ein anderes Schild machen lassen, das er je nach Bedarf an der Hauswand aufhängen kann.«

»Des ist besser!« nickte der Bürgermeister.

»Was führt dich her, Fellbacher? Bis zum Stammtisch sind es noch gut zwei Stunden.«

Toni schaute auf die Uhr.

»Mei, ich bin aus dem Rathaus geflohen! Mei, hab’ ich mich aufgeregt!«

»Du? Dich aufgeregt? Was ist denn passiert? Du bist doch sonst die Ruhe in Person!«

»Des stimmt! Aber jeder Mensch hat seinen wunden Punkt. Mei, ich hab’ mich gerade eben mit dem Huber Franz gestritten. Es hat nimmer viel gefehlt, dann hätte ich ihn am Kragen gepackt und im hohen Bogen aus dem Rathaus befördert. Zum Glück ist er von alleine gegangen.«

»Was gibt’s denn? Oder kannst net drüber reden?«

»Doch reden kann ich drüber. Der Franz Huber ist ja ein ordentliches Mitglied in unserem Gemeinderat. Des bringt die Demokratie so mit sich. Da kann ich wirklich nix dran machen. Ich habe bis heute net rausfinden können, wie der Ruppert Schwarzer des geschafft hat, seinen Strohmann bei uns in den Gemeinderat zu bringen. Aber es wurde nun einmal ordentlich gewählt, und er hat auch die nötigen Stimmen bekommen.«

Toni lächelte.

»Fritz, des fragst dich doch net wirklich oder?«

»Naa! Es tut nur gut, wenn ich mir Luft mache. Es gibt eben Tage, da wünsche ich den Franz Huber hinauf aufs ›Höllentor‹ und den Schwarzer Ruppert gleich mit.«

Fritz Fellbacher stemmt die Arme in die Seite.

»Toni, ich verspreche dir, daß ich bei der nächsten Wahl in meinem Wahlprogramm festschreibe, daß ich nimmer als Bürgermeister mein Amt antrete, wenn der Franz Huber wieder im Gemeinderat ist.«

»Nun mal langsam! Was hat er jetzt wieder angestellt? Wollen wir reingehen?«

»Naa!«

Toni bat den Bürgermeister zu warten. Er ging hinein und kam mit einer Flasche Schnaps und zwei Gläsern zurück. Die beiden Männer setzten sich im Hof auf die Bank. Toni schenkte ein.

»So, Fellbacher! Prosit!«

Sie tranken. Toni schenkte dem Bürgermeister nach. Er selbst trank nichts mehr. Er mußte noch Auto fahren.

»Also, der Huber Franz hat eigenmächtig – ohne mir etwas davon zu sagen, also heimlich – einen Bergwerksingenieur beauftragt. Dieser ist wohl auch ein Bazi von dem Schwarzer. Es geht um die Höhlen, die es rund um Waldkogel gibt.«

»Was ist mit denen? Die gibt’s doch schon seit Jahrhunderten, wenn net Jahrtausenden. Was hat der Franz damit zu tun?«

»Des ist doch so: Jeder im Gemeinderat hat eine Aufgabe, ein Ressort, wie des in der Amtsprache heißt. Der Franz, der soll auf die Wanderwege achten. Also, wenn zum Beispiel gemeldet würde, daß die Bank oben beim ›Erkerchen‹ beschädigt sei, dann müßte der Franz Huber des kontrollieren. Im Gemeinderat würden wir dann den Beschluß fassen, eine neue Bank beim Weißgerber zu bestellen oder sie reparieren zu lassen. Jetzt hat der Franz Huber aber sein Aufgabengebiet weit überschritten. Er ist zusammen mit dem Ingenieur alle Höhlen abgegangen. Der hat dann einen Bericht geschrieben, das ist fast schon ein richtiges Gutachten. Gekostet hat es nix. Des ist schon mal gut! Aber darin wird vorgeschlagen, daß die Gemeinde Waldkogel einen Höhlenwanderweg anlegen sollte, zum Ausbau des Tourismus.«

»Des hört sich aber doch net schlecht an, Fellbacher.«

»Des ist aber net alles, Toni! Die Gemeinde Waldkogel müßte auch für die Sicherung der Höhlen sorgen. Des heißt Gemeinde müßte die Höhlen sichern. Des kann teuer werden und bedeutet auch eine große Verantwortung. In einigen Höhlen müßten Schutzgitter und Absperrgitter eingezogen werden. Du weißt doch selbst, wie weich des Gestein an manchen Stellen ist. Außerdem liegen die meisten Höhlen unterhalb vom ›Höllentor‹«.

»Richtig, Fellbacher! Doch die sind doch alle zugeschüttet und teilweise sogar vermauert.«

»Ha! Denkste! Der Franz hat die alle einer Prüfung unterzogen, wie er es nennt. Aufgebrochen hat er sie zum Teil oder was er auch sonst noch angestellt hat. Ich muß die Tage einen Trupp zusammenstellen, der des kontrolliert.«

»Was du net sagst, Fritz! Wie kommt der dazu? Ja, sind denn die Eingänge jetzt nimmer verschlossen?«

»Des ist des ja, was ich net weiß.«

Toni gelang es langsam, Bürgermeister Fellbacher zu beruhigen. Und nach und nach erfuhr Antonius Baumberger, der seit seiner Kindheit von allen nur Toni gerufen wurde, wie sich alles zugetragen hatte.

Am Nachmittag hatte Franz Huber den Bürgermeister auf dem Amt besucht. Er hatte ihm den Bericht übergeben, den er aus Interesse am Wohl der Gemeinde Waldkogel hatte anfertigen lassen.

Es tat nichts zur Sache, daß für dieses Gutachten der Gemeinde keine Kosten entstanden waren. Bürgermeister Fellbacher fühlte sich also übergangen und so würden sich auch die anderen Gemeinderatsmitglieder fühlen.

Gleichzeitig wurden in dem Papier Vorschläge gemacht. Ein Förderer des angedachten Höhlenwanderwegs war auch schon gefunden, angeblich ein sehr naturverbundener Baufirmenbesitzer.

»Ein Bazi von Ruppert Schwar-zer!« warf Toni ein.

»Genau, mein Lieber! Du sagst es!«

Bürgermeister Fellbacher und auch Toni waren sich schnell einig, daß es sich dabei nur um einen absolut hinterlistigen und hinterhältigen Versuch Ruppert Schwarzers handeln konnte, wieder einmal auf dreiste Art und Weise Einfluß auf Waldkogel zu nehmen.

Nachdem Franz Huber gegangen war, hatte sich der Bürgermeister Fellbacher noch einmal die Eintragungen im Grundbuch angesehen.

»Zufälligerweise liegen einige der Höhlen am Rand von Grundstücken, die vor kurzem den Besitzer gewechselt haben. Des ist auch heimlich geschehen. Weißt, Toni, es kommt immer mal vor, daß Bauern ein Stück Wald verkaufen oder Felder und Wiesen tauschen. Des war schon immer so. Aber des, was ich da entdeckt habe, des ist seltsam: Diese Grundstücke gehören jetzt alle Fremden.«

Toni grinste.

»Bist schon ein schlauer Bursche, Fellbacher! Hast schnell eins und eins zusammengezählt. Des hört sich nach einem geschickt eingefädelten Komplott an. Die Leute müßten über diese Grundstücke, um zu den Höhlen zu kommen. Dann hätten die Fremden Einfluß darauf.«

Toni erinnerte sich daran, daß in der Nähe von einigen der unteren Höhlen früher einmal Bauernkaten gestanden hatten. Die waren im Laufe von Jahrzehnten verfallen. Aber die Grundstücke galten bis heute als bebaubares Land.

»Der Ruppert Schwarzer will da mitmischen, Fellbacher! Jetzt verstehe ich, warum du so aufgebracht bist. Bis jetzt hatten wir es immer noch in einer gemeinsamen Anstrengung verhindert, daß er mit seiner Tourismusindustrie, wie man sein Tun am besten beschreibt, hier Fuß fassen konnte.«

Bürgermeister Fellbacher nickte. Die beiden Männer saßen eine Weile auf der Bank und schwiegen. Beide dachten an die verschiedenen Versuche von Ruppert Schwarzer, in der Gemeinde Waldkogel Einfluß zu gewinnen. Zuerst hatte er versucht, die Berghütte zu bekommen. Danach gab es mehrere Versuche, Höfe zu kaufen und dort große Immobilienvorhaben zu verwirklichen. Was Schwarzer nicht gelungen war. Jetzt gab es also diesen neuen Versuch.

»Des muß verhindert werden, Fellbacher!«

»Richtig, Toni! Des ist genau meine Meinung! Der Schwarzer hat hier einen kleinen Hof, den er an den Huber Franz vermietet hat. Mehr darf er net erwerben. Schau dir doch mal an, wie sich die Gemeinden in der Umgebung verändert haben, wo der Schwarzer größeren Einfluß hat. Die ganze Schönheit dieser lieblichen Berggemeinden ist beschädigt, wenn net sogar zerstört. Naa, des darf bei uns im schönen Waldkogel net geschehen! Es muß alles getan werden, daß er seine Finger draußen behält.«

»Des machen wir schon, Fellbacher! Die Bergwacht hat bei der Erschließung auch noch ein bisserl mitzureden. Wenn die des für zu gefährlich hält, dann ist leider – leider – des Vorhaben zum Scheitern verurteilt«, grinste Toni. »Ich bin ja mit dem Leo Gasser, dem Leiter der Bergwacht in Kirchwalden, sehr befreundet. Ich werde mit dem Leo einmal ein sehr privates Gespräch führen, wenn es dir recht ist, Fellbacher. Du verstehst, wie ich des meine?«

Bürgermeister Fellbacher strahlte. Dann flüsterte er Toni leise etwas zu. Toni nickte.

»Des kann ich gern versuchen, Fellbacher! Ich muß morgen ohnehin nach Kirchwalden. Ich gehe mit dem Leo meistens zu Mittag eine Kleinigkeit essen. Da red’ ich mit ihm. Mache dir da mal keine Sorgen. Wenn der Schwarzer ein Komplott schmiedet, dann können wir auch dagegenhalten. Bis jetzt haben wir immer den längeren Atem gehabt. Und ohne die Zustimmung der Bergwacht geht gar nix!«

Bürgermeister Fritz Fellbacher stieß einen glücklich Seufzer aus. Toni schmunzelte. Er versprach dem Bürgermeister, ihn gleich am nächsten Tag nach seiner Rückkehr aus Kirchwalden im Rathaus aufzusuchen.

Dann mußte sich Toni verabschieden. Er hatte es eilig, denn er wollte doch noch vor Einbruch der Dunkelheit auf der Berghütte sein.

Bürgermeister Fellbacher entschloß sich heimzugehen. Er war jetzt ruhiger.

»Weißt, Toni, wenn ich im Amt solchen Ärger habe, dann gehe ich net gleich heim. Dann bin zu aufgebracht und bringe meiner lieben Irene den Haushalt durcheinander. Das mag sie nicht, das mag sie gar nicht. Sie sagt immer, daß ich den ›Bürgermeister‹ auf dem Amt lassen soll. Daheim sei ich nur Ehemann und Vater. Aber des geht natürlich net immer, des verstehst. Aber zum Stammtisch gehe ich heute abend auch net. Ich halte mich ein bisserl zurück, bis du morgen mit dem Leo gesprochen hast.«

Die beiden Männer schüttelten sich die Hände und verabschiedeten sich. Toni brachte die Schnapsflasche und die Gläser noch hinein. Dann fuhr er mit seinem Geländewagen hinauf zur Oberländer Alm.

*

Frauke Hennings parkte ihren Sportwagen vor der Villa. Sie stieg aus. Noch bevor sie die Klingel drücken konnte, brummte der Summer. Die Gartentür sprang auf. Aus der Sprechanlage unterhalb des Klingelknopfes drang die Stimme ihrer Freundin Silvia.

»Komm nach hinten! Ich bin im Garten!«

Frauke trippelte auf ihren hohen Absätzen über die Steinplatten. Sie konnte nicht schnell gehen. Das lag nicht nur an den hohen Absätzen, sondern auch an dem engen Rock. Trotz des seitlichen Schlitzes war sie in ihrer Bewegungsfreiheit etwas eingeschränkt. Hinter dem Haus endete der Steinweg. Frauke blieb stehen und betrachtete den Rasen. Sie bewegte sich vorsichtig auf Zehenspitzen weiter, damit die Absätze ihrer teuren Schuhe nicht im Rasen versanken.

»Zieh die Schuhe doch aus!« rief ihr ihre Freundin entgegen.

Silvia saß auf der großen überdachten Hollywoodschaukel und fütterte ihr Baby. Sie trug kurze Shorts und Hemdbluse und war barfuß. Weiter hinten in dem großen Garten spielten Kinder.

Die beiden Frauen begrüßten sich.

»Setz dich besser da drüben auf den Stuhl. Hier auf der Schaukel können noch Schokoladenkrümel sein. Die Kinder haben vorhin Schokoladenkekse gegessen.«

Frauke quittierte diesen freundlichen Hinweis mit einem mißbilligenden Blick. Sie setzte sich.

»Bediene dich schon mal, Frauke. Ich bin gleich fertig!!«

Silvia, die Silvi gerufen wurde, fütterte ihr Baby. Dann ließ sie es ein Bäuerchen machen und legte es in den Kinderwagen, der neben dem Tisch stand.

»Ich dachte, ich besuche dich einmal, Silvi! Wir haben uns lange nicht mehr gesehen! Du machst dich rar.«

»Nun mal langsam, Frauke! Was heißt lange? Du hast mich im Krankenhaus besucht, als der Kleine geboren war. Das ist erst sechs Wochen her.«

»So meine ich das nicht! Du hast kaum noch Zeit!«

Silvia schmunzelte.

»Das ist eben so, wenn man Kinder hat.«

»Ich dachte, jetzt, wo die beiden Älteren in die Schule gehen, kannst du wieder mehr an dich denken, Silvi. Daß du noch mal Mutter werden willst, nein, das kann ich nicht verstehen! Was ist nur aus dir geworden!«

Silvia lachte.

»Eine glückliche Mutter von drei reizenden Kindern!«

»Ja, schon! Dann willst du nicht wieder arbeiten gehen? Was hast du für eine Karriere vor dir gehabt!«

»Frauke! Bitte! Nicht wieder diese Geschichten! Ich bin glücklich. Ich lebe in einer glücklichen Ehe. Wir haben wunderbare Kinder. Ehefrau und Mutter zu sein, ist ein wirklich ausfüllender Beruf. Ich mache meine Karriere, wenn du es so willst. Eine andere Sprache verstehst du ja nicht.«

Frauke trank einen Schluck Limonade.

»Was ist das? Schmeckt gut.«

»Selbstgemachte Zitronenlimonade mit einem Spritzer Waldmeistersirup! Die Kinder mögen es auch!«

Frauke Hennings strich ihren Rock glatt. Sie seufzte.

»Silvi, ich wollte dich nicht nerven! Ich kann es nur nicht verstehen. Nie hätte ich mir vorstellen können, dich einmal in einer ungebügelten Hemdbluse und diesen Shorts zu sehen.«

Silvia lachte.

»Der Kleine spuckt viel. Da lohnt es nicht, die Hemdblusen zu bügeln. Oft wechsele ich drei- bis viermal am Tag das Oberteil. Das ist eben so mit Säuglingen. Du wirst es auch noch erleben. Dann fragst du weniger, was schick ist, sondern was praktisch ist.«

Frauke hob abwehrend die Hände.

»Gott bewahre! Ich und Kinder? Nie und nimmer! Nein, nein! Gunter denkt da genauso wie ich! Außerdem hat er die Zwillinge. Zum Glück sehe ich nicht allzu viel von Patrick. Er ist in einer Ganztagsschule. Am späten Nachmittag wird er von der Haushälterin versorgt. Danach ist er meistens in seinem Zimmer. Ein wirklich pflegeleichter Junge. Außerdem ist er oft bei seiner Mutter. Gunter hat das gut geregelt. Ein Wochenende kommt seine Schwester Polly. Aber dann ist Gunter mit den Kindern alleine. Ein Wochenende geht Patrick zu seiner Mutter und Schwester. Dann sind Gunter und ich alleine. Das nächste Wochenende verbringt Gunter alleine mit seinem Sohn. Ich halte mich da ziemlich raus. Gunter versteht das.«

»Wirklich?«

Der Säugling quengelte. Silvia gab ihm den Schnuller.

»Ja, er versteht es wirklich! Die Kinder haben ihre Mutter. Außerdem sind sie schon zwölf Jahre. Bald sind sie ohnehin flügge, wie man sagt. Dann gehen sie ihre eigenen Wege. Bis dorthin muß ich mich eben arrangieren. Es sind seine Kinder und die Kinder seiner Exfrau. Ich habe damit nichts zu tun.«

Silvia schüttelte den Kopf und schwieg. Sie schaukelte mit einer Hand den Kinderwagen, in dem ihr Jüngster schlief. Silvia kannte Gunter. Sie fragte sich, ob die Beziehung zwischen den beiden wirklich von Dauer sein konnte. Polly und Patrick waren auch ein Teil von Gunters Leben. Silvia fragte sich, wie Frauke es schaffte, sich so von diesem Teil zu distanzieren.

»Silvia, Gunter hat mich eingeladen, mit ihm in die Berge zu fahren. Ich wollte fragen, ob du Zeit hast, meinen Briefkasten zu leeren und nach den Blumen zu schauen?«

»Sicher! Ich fahre ein- bis zweimal in der Woche in die Stadt, dann kann ich gern nach deiner Wohnung sehen. Wann geht es los?«

»Schon zum Wochenende! Er hat zwei Wochen geplant. Diesmal muß ich mit, sonst ist er mir ernsthaft böse! Wie das werden soll, weiß ich auch nicht. Aber Gunter will auf Familie machen. Die Zwillinge kommen auch mit. Sie sind genauso begeistert von den Bergen wie ihr Vater! Es wird ganz schön stressig werden. Aber da muß ich ganz einfach durch.«

»Berge sind nicht deine Leidenschaft, Silvia! Das weiß ich. Du siehst das richtig. Kompromisse muß man in einer Beziehung schon machen! Es ist immer ein Geben und ein Nehmen, Frauke.«

»Stimmt, Silvia! Ich habe Gunters Versprechen, daß er nächstes Mal wieder alleine fährt. Silvia, sei doch mal ehrlich! Kannst du dich mich in den Bergen vorstellen? Aber wie gesagt, Gunter will Familie spielen und da spiele ich mit. Er wird viel mit den Kindern unterwegs sein. Ich bleibe, so weit es geht, auf dieser Berghütte. Die paar Stunden, in denen ich mit den Kindern und ihm zusammen sein muß, die werde ich schon überstehen.«

Silvia schmunzelte.

»So, so! Sag mal ist da etwas geplant? Mir kommt gerade der Gedanke, weil er beide Kinder mitnehmen und auf Familie machen will, wie du sagst. Also, nun rede schon, Frauke.«

Frauke drehte ihren kostbaren Ring am Finger hin und her.

»Ich denke schon, daß Gunter sich mit dem Gedanken trägt, unser Verhältnis zu legalisieren. Dazu muß er natürlich mit den Kindern reden. Gesagt hat er nichts! Ich frage auch nichts! Du weißt ja, daß es ganz schlecht ist, wenn ich ihn bedränge. Gunter macht immer, was er will. Daran ist seine Ehe gescheitert, weil Helen ihn zu sehr eingeengt hatte, denke ich. Nun ja, was des einen Leid, ist des anderen Freud’. Jetzt sind sie fünf Jahre geschieden. Es scheint wirklich so, als wollte sich Gunter wieder binden.«

»Deshalb begleitest du ihn auf die Berge, wie?«

»Bergsteigen, Bergwandern, das ist seine große Leidenschaft. Ich werde diese Leidenschaft nie teilen. Das habe ich ihm auch gesagt. Er gibt sich der Hoffnung hin, daß ich begeistert sein werde, wenn ich die Berge erst einmal richtig erlebe. Er schwärmt mir von taunassen Felsen am Morgen vor, wenn die ersten Sonnenstrahlen die Tautropfen wie Diamanten glitzern lassen. Er träumt von romantischen Sonnenuntergängen mit mir. Gut, ich lasse ihn träumen. Ich liebe ihn, Silvia! Ich werde alles tun, um ihm zu gefallen.«

Silvia lächelte. Sie schenkte sich ein Glas Limonade ein und trank. Sie wünschte Frauke alles, alles Gute für ihre Zukunft. Doch sie war im Zweifel, ob es wirklich Liebe war zwischen den beiden. Liebe ist selbstlos. Liebe ist nicht berechnend. Doch Frauke kalkulierte. Sie war bei Dr. Gunter Volkmann Mitarbeiterin gewesen, als damals seine Ehe auseinanderging. Frauke sah darin die große Chance für ihren gesellschaftlichen Aufstieg. Sie verstand es, sich geschickt als Trösterin anzubieten. Sie wußte, auf was ihr Chef stand, was er mochte. Sie paßte sich an und wurde in Aussehen und Kleidung seiner Exfrau immer ähnlicher. Helen war blond, Frauke war auch blond. Sie ließ sich die Haare wachsen, kaufte in den gleichen Geschäften ein. Sie verwendete sogar dasselbe Parfum wie Helen. Sie versuchte zu dem Typ von Frau zu werden, der Gunter angeblich gefiel. Viele sagten ihr voraus, daß sie damit scheitern würde. Doch Frauke war nicht gescheitert. Sie glich zwar äußerlich immer mehr Helen, wie sie in ganz jungen Jahren war. Doch sie vermied an Gunter Forderungen zu stellen. Im Anfang war das ohnedies nicht möglich und später unterließ sie es bewußt. Sie hatte immer Verständnis, daß er sich an den Wochenenden um seine Kinder kümmern mußte. Sie hielt sich sehr zurück und vermied alles, was zu Konflikten führen konnte. Sie erinnerte ihn sogar an den Geburtstag seiner Exfrau, war sie doch die Mutter seiner Kinder. Sie kritisierte niemals Patrick oder seine Zwillingsschwester Polly.

Kurz, Frauke arbeitete strategisch an einem Plan, der sie eines Tages mit Dr. Gunter Volkmann vor den Traualtar führen würde. Jetzt, so schien es, war es wohl soweit. Zwischen dem angestrebten Ziel stand nur noch der gemeinsame Familienurlaub in den Bergen.

»Du bist so still, Silvia. Was denkst du?«

»Ach, Frauke! Ich hoffe für dich, daß alles gut geht. Ich habe da meine Zweifel.«

»Ja, ich weiß! Aber du wirst sehen, es geht alles gut! Wenn ich zurückkomme, dann kann ich dich zur Hochzeit einladen. Vielleicht heiraten wir auch schon in den Bergen. Ich weiß doch, wieviel Gunter die Berge bedeuten. Was könnte ihm da mehr Freude machen, als daß wir in den Bergen heiraten? Wenn er mich fragt, dann sage ich ja und überrede ihn dazu, gleich zu heiraten – und wenn ich dafür ein Dirndl anziehen muß. Ich will Frau Dr. Gunter Volkmann werden, verstehst du?«

Silvia nahm ihren schlafenden Jüngsten aus dem Kinderwagen und drückte ihn an sich. Silvia verstand Frauke. Doch zugleich war sie sich sicher, daß Frauke ihren Gunter auf eine Art und Weise liebte, die ihr, Silvia, völlig fremd war. Sie liebte ihn wie ein Objekt, in dessen Besitz sie gelangen wollte, koste es, was es wolle.

»Oh! Ich muß rein, die Windel wechseln! Entschuldige mich bitte einen Augenblick, Frauke, oder willst du mitkommen?«

Frauke stand auf.

»Ich wollte ohnehin gehen.«

»Lege deinen Schlüssel hier auf den Tisch!«

»Danke, Silvi! Ich schreibe dir auch eine Email und lasse dich wissen, wie es mir geht.«

»Lieber eine Postkarte! Die Kinder sammeln Ansichtskarten. Am besten du schickst zwei Karten, aber dieselben. Dann gibt es keinen Streit.«

»Auf was du alles achtest, Silvi! Ich weiß nicht. Verwöhnst du die Kinder nicht zu sehr?«

Silvia antwortete darauf nicht. Sie verabschiedete sich schnell von Frauke, denn der Junge auf ihrem Arm weinte jetzt.

Frauke legte den Schlüssel hin. Dann hastete sie auf Zehenspitzen in kleinen Schritte dem Ausgang entgegen.

Nein, Kinder, Haus und Heim, das ist nicht meine Welt. Jedenfalls nicht meine Welt für jeden Tag – Tag für Tag und Jahr für Jahr, dachte Frauke.

Erleichtert einer Welt der Familie entflohen zu sein, stieg sie in ihr Auto und fuhr ab.

*

Helen Volkmann, die nach ihrer Scheidung den Namen ihres Exmannes behalten hatte, saß am Computer und gab die letzten Veränderungen ein. Helen war Architektin.

Während sie ihre Arbeit beendete, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Mit halbem Ohr lauschte sie. Durch das offene Fenster hörte sie die Straßengeräusche. Gunter wollte Polly heimbringen. Die Kinder waren an diesem Wochenende beim Vater gewesen. Wie immer war Gunter nicht pünktlich.

Helen lächelte. Plötzlich fiel ihr ein, wie wenig ihr seine Unpünktlichkeit damals ausgemacht hatte, damals als sie jung und verliebt war.

Helen speicherte die Datei ab. Sie gab den Druckbefehl ein. Während sie auf den Ausdruck der Pläne wartete, ging sie hinaus auf den Balkon. Sie legte die Hände auf die Brüstung und schaute hinunter auf die Straße, als könnte sie Gunters Auto herbeiwünschen.

Wie gut unser Verhältnis heute ist, dachte sie. Warum ist das alles so gekommen? Das fragte sich Helen. In den wenigen Minuten, bis Gunter kam, durchlebte sie in Gedanken die gemeinsame Zeit mit ihm.

Während des Studiums hatte sie Gunter kennengelernt, der an der Technischen Hochschule Ingenieurwissenschaften studierte. Die blonde, zierliche und so elegante Helen gefiel Gunter auf Anhieb. Er warb um sie. Ein ganzes Semester stellte er ihr nach und sprach sie immer wieder und wieder an. Helen ließ sich Zeit.

Sie tanzten auf dem Semester-Abschlußball. Anschließend saßen sie bis zum Sonnenaufgang auf dem Rasen vor dem großen Hochschulgebäude und redeten und redeten. Sie stellten fest, daß sie beide die Berge liebten und beide schon einmal in Waldkogel waren. Spontan beschlossen sie, an dem darauffolgende Wochenende nach Waldkogel zu fahren. Das war der Anfang einer wunderschönen gemeinsamen Zeit. Sie verliebten sich. Gemeinsam wanderten sie in den Bergen und bestiegen im weiten Umkreis alle Gipfel.

Sie machten ihr Examen, heirateten und wurden bald darauf Eltern reizender Zwillinge. Gunter machte neben seiner Berufstätigkeit den Doktor. Helen kümmerte sich um die Kinder.

Doch irgendwann, nachdem die Kinder in der Schule waren, reichten sie die Scheidung ein. Das war vor fünf Jahren gewesen. Sie trennten sich im Guten. Es gab keinen Rosenkrieg. Helen behielt die Eigentumswohnung. Gunter zog aus.

Zu beider Überraschung nahmen es die Zwillinge ruhig auf.

Patrick sagte einige Monate nach der Scheidung zu seiner Mutter:

»Jetzt streitet ihr nicht mehr, wenn ihr euch seht! Warum habt ihr euch früher immer gestritten?«

Helen klangen die Worte ihres Sohnes noch immer im Ohr.

Das Telefon läutete und riß Helen aus ihren Gedanken. Sie nahm ab und meldete sich. Sie lauschte, dann sagte sie knapp:

»Sicher kannst du heraufkommen, Gunter! Bis dann!«

Helen spürte, wie ihr Herz klopfte. Sie konnte nichts dagegen machen. Noch immer pochte ihr Herz, wenn sie ihn sah oder auch nur seine Stimme hörte.

Sie seufzte.

»Helen, nimm dich zusammen! Was vorbei ist, ist vorbei! Weine nicht verschüttetem Wasser hinterher! Hüte dich davor, jetzt alles mit einer rosaroten Brille zu betrachten. Erinnere dich, daß der Himmel am Ende nicht voller Geigen hing, sondern immer schwarz war von dicken Gewitterwolken!«

Helen hörte, wie Gunter vor dem Haus hielt. Allein das Geräusch des Autos versetzte ihr Herz wieder in Schwingungen. Sie ging zur Tür und schaute im Vorbeigehen in den Spiegel.

»Nimm dich zusammen, du dumme Gans! Benimm dich nicht wie ein Teenager! Du bist Mitte dreißig, hast zwei Kinder und weißt, was du willst!«

Der Aufzug öffnete sich. Zuerst kamen die Kinder heraus. Hinter ihnen betrat Gunter etwas unsicher das Treppenhaus. Sie lächelten sich an. Sie schauten sich in die Augen. Helen wich als erste dem Blick aus.

»Wie war es bei Papa, Polly?« fragte sie und nahm ihrer Tochter die Reisetasche ab.

»Wie immer!« brummte Polly und ging an ihr vorbei.

»Hast du dich mit deiner Schwester gestritten?« fragte Helen ihren Sohn, der sie zur Begrüßung zärtlich umarmte.

»Mama, du weißt doch, Mädchen sind schwierig in diesem Alter!« sagte Patrick mit einem altklugen Augenrollen.

Dann lief er seiner Schwester hinterher.

Helen und Gunter mußten lachen. Sie begrüßten sich und schüttelten sich die Hände.

»Gibt es etwas zu bereden, Gunter?« fragte Helen direkt. »Willst du reinkommen?«

Gunter schüttelte den Kopf.

»Ich wollte dir nur kurz sagen, daß ich zwei Wochen in die Berge fahre. Ich würde beide Kinder gerne mitnehmen.«

»Hast du es ihnen denn schon gesagt?«

»Nein, Helen! Wir haben doch vereinbart, daß wir immer alles erst miteinander bereden. Also, gibst du mir Polly mit?«

»Wann soll das sein?« fragte Helen.

Gunter nannte das Datum.

»Gut! Einverstanden!«

Helen und Gunter beredeten kurz die Einzelheiten. Dann rief Gunter nach Patrick. Dieser bat noch um einen Augenblick.

»Da waren die beiden, das ganze Wochenende zusammen und man denkt, sie hätten sich alles gesagt.«

»Du vergißt, Gunter, daß es Zwillinge sind. Sie haben ein besonderes Verhältnis zueinander!«

Endlich kam Patrick.

»Tschüß, Mama!« sagte Patrick und ging an seinem Vater vorbei zum Aufzug.

»Danke, Helen!« bemerkte Gunter leise.

Helen lächelte nur. Sie verspürte diese Herzklopfen. Es kostete sie viel Kraft, sich nichts anmerken zu lassen. Sie winkte Patrick zu und wartete, bis sich die Aufzugtür schloß.

»Mama!« rief Polly.

»Ja, was gibt es?«

Helen schloß die Wohnungstür und betrat das Kinderzimmer.

Polly stand am Fenster und winkte Patrick nach.

»Was gibt es? Polly, du hast doch etwas!«

»Ich, Mama, ich habe nichts! Es ist Patrick! Er fühlt sich bei Papa nicht so gut! Er sieht ihn kaum. Muß Patrick bei Papa wohnen?«

»Müssen? Nein! Erinnere dich, daß es Patricks Wunsch war, bei Papa zu leben!«

»Ja, ich weiß es ja! Aber jetzt gefällt es ihm nicht mehr. Er ist dort ziemlich allein. Papa sieht er manchmal nur beim Frühstück und ein- bis zweimal in der Woche beim Abendessen. Kann Patrick nicht wieder hier bei uns wohnen?«

Helen schaute ihre Tochter überrascht an.

»Ich wußte nicht, daß Patrick sich bei Gunter nicht wohl fühlt.«

»Mama, es ist viel schlimmer! Patrick ist wirklich unglücklich.«

»Aber warum spricht er nicht mit mir oder mit seinem Vater?«

»Du kennst doch Patrick! Es dauert immer, bis er redet. Ich mußte ihm versprechen, nichts zu sagen. Also verrate mich nicht! Patrick hat Angst, es Papa zu sagen. Er denkt, daß Papa dann traurig ist.«

Helen legte den Arm um ihre Tochter.

»Vielleicht gab es nur noch keine Gelegenheit, darüber zu reden. Übrigens, Gunter, hat mich gefragt, ob du mit ihm in Urlaub fährst. Er will mit Patrick und dir in die Berge.«

»Super! Patrick, Papa und ich in den Bergen! Das wird schön. Weißt du, wo es hingehen soll?«

Helen schüttelte den Kopf. Sie dachte an Waldkogel, an die gemeinsamen Aufenthalte, als die Kinder noch klein waren. Für einen Augenblick war Helen ganz in Gedanken.

»Wir sollten alle vier wieder einmal einen Urlaub in den Bergen machen, Mama! Es war früher immer sehr schön.«

Helen lächelte.

»Ja, das war es! Doch jetzt ist alles anders. Du weißt das, Polly.«

»Heißt das, daß, wenn dich Papa einladen würde, dann würdest du nicht mitkommen?«

Helen lachte laut.

»Sicher würde ich mitkommen, auch wenn ich sicherlich nicht neben ihm auf dem Hüttenboden schlafen würde. Verliere dich aber nicht in Träumereien, Polly. Dein Vater und ich sind geschieden. Er lebt sein Leben und ich lebe mein Leben. Jetzt freue dich doch einfach, daß er dich mitnimmt. Es wird bestimmt sehr schön werden.«

»Noch schöner wäre es, wenn du auch dabei sein könntest!«

Helen fuhr ihrer Tochter über das Haar.

»Wir sind doch alle froh, daß es so ist, wie es jetzt ist. Findest du nicht auch?«

Polly verstand ihre Mutter genau. Das Leben hatte sich eingependelt. Es gab gemeinsame Wochenenden bei Gunter und bei Helen. Es gab Wochenenden, da hatte Helen Patrick alleine und Polly war bei ihrem Vater am anderen Ende der Stadt.

Helen und Gunter bemühten sich, den Zwillingen alles zu geben, was möglich war. Vor einem Jahr hatte Patrick den Wunsch geäußert, bei seinem Vater zu leben. Polly war damals sehr traurig gewesen. Doch Helen erklärte ihr, daß Patrick ein Vorbild brauche und sie es deshalb gut fand, wenn er bei Gunter lebte. Er könnte jederzeit wieder zurückkommen.

Jetzt ist es wohl bald soweit, dachte Helen. Damals hatte sich Helen nicht dagegengestellt. Patrick mußte seine eigenen Erfahrungen machen.

Helen begann, Pollys Reisetasche auszupacken.

»Sag mal, Mama, hast du Papa noch lieb?«

Helen erschrak. Sie zuckte zusammen.

»Das ist schwer zu sagen, Polly! Gehören zur Liebe nicht immer zwei? Gunter und ich hatten die Chance. Wir haben euch, zwei wunderbare Kinder. Wir haben es geschafft, Freunde zu werden, Gunter und ich. Das ist viel, sehr viel! Mehr als viele geschiedene Eltern schaffen. Freundschaft ist auch ein Gefühl,was etwas mit Liebe zu tun hat. Aber es ist eine andere Art von Zuneigung, Polly!«

Helen stellte Pollys Reisetasche ins Regal.

»Das Wetter ist so schön, Polly! Ich habe den ganzen Tag am Computer gearbeitet. Ich würde mich gern etwas bewegen. Wie wäre es mit einer Radtour am Fluß entlang? Kommst du mit?«

Polly bemerkte, daß ihre Mutter das Thema gewechselt hatte. Das Mädchen war sehr feinfühlig. Und Mama liebt Papa noch, dachte Polly. Statt dessen sagte Polly:

»Prima Idee! Wir nehmen aber Abendessen mit und bleiben am Fluß, bis die Sonne untergegangen ist.«

»Ja, das machen wir! Du richtest die Decken und was wir sonst noch brauchen und ich kümmere mich um das Essen und die Getränke. Wir treffen uns gleich vor dem Haus.«

Polly band ihren Pullover um die Hüfte und verschwand. Helen atmete tief durch. In diesem Augenblick wünschte sie, Polly wäre älter und sie könnte mit ihr von Frau zu Frau reden, – ihr sagen, wie sehr sie Gunter liebte oder wieder liebte, – ihr eingestehen, wie falsch es war, einen so radikalen Schlußstrich zu ziehen, – ihr gestehen, daß Gunter der einzige Mann war, den sie jemals geliebt hatte und liebte. Aber Polly war erst zwölf Jahre alt. Helen wollte ihre Tochter damit nicht belasten. So schwieg sie. Es ist nun einmal so, wie es ist, dachte Helen und seufzte still. Ihr Herz war voller Wehmut.

*

Dann kam der Tag der Abreise in die Ferien. Patrick war noch stiller an diesem Tag als gewöhnlich. Er kaute beim Frühstück lustlos an seinem Hörnchen und rührte seine Schokolade immer und immer wieder um.

Sein Vater, der ihm gegenüber saß, blickte einige Male über den Rand seiner Zeitung.

»Patrick, schmeckt es dir heute morgen nicht? Soll ich dir etwas anderes zubereiten?« fragte die alte Haushälterin besorgt. »Soll ich dir schnell ein Müsli mit Obst machen?«

»Nein, danke! Ich meine, es schmeckt. Ich möchte kein Müsli!« sagte Patrick leise.

Dr. Gunter Volkmann ließ die Zeitung sinken. Er faltete sie zusammen und legte sie neben sein Frühstücksgedeck.

»Hast du schlecht geschlafen? Nun, das kann ich verstehen. Ich habe auch kaum geschlafen. So freue ich mich auf die Ferien.«

Patrick warf seinem Vater einen Blick zu. Typisch Papa, dachte der Junge. Er stellt mir eine Frage und redet gleich wieder von sich. Er will gar keine Antwort. Immer geht es nur um ihn.

»Wenn es dir nicht schmeckt, dann lasse es stehen.«

Gunter schaute auf die Uhr.

»Wir müssen auch aufbrechen. Es wird Zeit. Wir können ja unterwegs anhalten und einen Imbiß zu uns nehmen.«

Gunter trank seinen Kaffee aus.

»Hast du alles gepackt?«

»Ja, die Sachen sind bereits im Auto, Herr Dr. Volkmann«, antwortete die Haushälterin an Patricks Stelle.

Volkmann stand auf. Er rieb sich die Hände.

»Wunderbar! Dann kann es ja losgehen. Wir fahren zuerst zu Helen und laden Polly ein. Anschließend holen wir Frauke ab.«

»Frauke?« schrie Patrick heraus.

Sein Vater nahm den Schrei aus tiefstem Kinderherzen nicht wahr. Nur die Haushälterin hörte den Schmerzenschrei.

»Ja natürlich, Frauke! Habe ich dir nicht gesagt, daß Frauke mitkommt? Doch, das habe ich bestimmt, Patrick. Du kannst dich sicherlich nicht mehr daran erinnern.« Schon wieder, dachte Patrick. Er redet und redet, sieht alles nur durch seine Brille. Frauke! Was soll Frauke in den Bergen? Die mag die Berge nicht, wirklich nicht. Was soll sie in den Bergen? Was soll sie da? Wie konnte Papa das nur tun, dachte der Junge.

Sein Vater beobachtete ihn.

»Ist noch etwas, Patrick? Laß uns gehen! Gehst du schon einmal zum Auto? Ich rufe Helen an und sage, daß wir gleich da sind.«

»Nein, das mache ich! Ich rufe Mama und Polly an!«

Patrick sprang auf, daß der Stuhl hinter ihm zu Boden stürzte. Er rannte aus dem Frühstückszimmer, quer durch die Halle, nahm die Treppe nach oben, immer zwei Treppenstufen auf einmal.

»Wissen Sie, was er heute hat?«

»Herr Doktor, Patrick kommt in die Pubertät. Da werden die Kinder schwierig. Ich kenne das von meinen, auch wenn es schon eine Zeitlang her ist. Bald sind meine Enkelkinder auch soweit. Wissen Sie, die Kinder sind in dieser Zeit am unglücklichsten. Die Gefühle spielen mit ihnen Achterbahn. Das wird schon wieder, Herr Doktor.«

Die Haushälterin begann, den Tisch abzuräumen. Sie war voller Mitleid für Patrick. Der Junge kommt sich hier doch vor wie das fünfte Rad am Wagen. Dabei vergöttert er seinen Vater. Sie erinnerte sich, wie fröhlich Patrick war, als er vor einem Jahr einzog. Er war ein fröhlicher und lebhafter Junge. Doch inzwischen war er still und in sich gekehrt. Er war verschlossen, redete kaum noch etwas. Geduldig wartete er auf die wenigen Augenblicke, die sein Vater Zeit für ihn hatte. Doch diese Augenblicke waren für den Jungen angefüllt mit Enttäuschungen. Dr. Gunter Volkmann hörte Patrick nie zu. Sicherlich verwöhnte er ihn mit allen Dingen, die käuflich waren. An den Wochenenden, an denen Polly hier war, war es für Patrick besser. Doch an diesen Wochenenden hatte Gunter auch nur wenig Zeit für die Kinder. So spielten die Zwillinge zusammen und vertrieben sich alleine die Zeit. An diesen Tagen drang dann schon auch einmal Patricks fröhliches Lachen durch die obere Etage der großen Villa.

Dr. Gunter Volkmann fuhr den großen Wagen aus der Garage und klappte das Verdeck zurück. Er setzte sich ans Steuer und wartete. Als es ihm zu lange dauerte, hupte er. Patrick kam oben ans Fenster. Er hielt noch den Telefonhörer ans Ohr.

»Nun komm endlich! Du siehst Polly doch gleich!« rief sein Vater.

Es dauerte dann doch noch eine ganze Weile, bis Patrick kam. Er kletterte wortlos auf den Rücksitz und schnallte sich an. Sein Vater beobachtete den Jungen im Rückspiegel. Als Patrick das bemerkte, setzte er seine Sonnenbrille auf.

Dr. Gunter Volkmann ließ sich nichts anmerken. Er war etwas verärgert. Dabei war es so ein schöner Tag, ein besonderer Tag. Er würde mit den Zwillingen und Frauke zum ersten Mal gemeinsam in Urlaub fahren. Wie sehr hatte er sich darauf gefreut. Es bedeutete ihm sehr viel. So wollte er keine Mißstimmung aufkommen lassen. Er verstand zwar nicht, warum Patrick ihn so lange hatte warten lassen. Doch vielleicht hatte die Haushälterin recht: Patrick kam ins Flegelalter.

Er fuhr los.

Polly wartete schon vor dem Haus.

»Guten Morgen, Papa!« sagte sie artig.

»Alleine? Ist Helen nicht da?«

»Mama ist oben! Ich soll dich grüßen! Sie wünscht uns eine schöne Zeit. Sie hat zu tun!«

Dr. Gunter Volkmann verstaute Pollys Reisetasche im Kofferraum. Den Rucksack behielt Polly bei sich und stellte ihn in den Fußraum. Die Zwillinge umarmten sich. Dann schnallte sich Polly an. Sie fuhren los.

Unterwegs läutete Gunters Handy. Er fuhr rechts ran und nahm das Gespräch an. Es war Frauke Hennings. Sie wartete auf Gunter. Dieser erklärte ihr, daß er auf dem Weg sei. Die Zwillinge schlossen aus den vielen Entschuldigungen, die ihr Vater ins Telefon säuselte,daß Frauke ungeduldig war, ja, mehr als ungeduldig, sie war ärgerlich.

»Das kann ja heiter werden«, flüsterte Patrick seiner Schwester ins Ohr.

Polly neigte ihren Kopf zu Patrick und schirmte ihre Lippen ab.

»Patrick, es wird sehr lustig werden! Wir machen alles wie besprochen! Diesen Urlaub wird sie niemals vergessen. Das verspreche ich dir! Sie wird nie wieder in die Berge fahren, auch nicht Papa zuliebe, das verspreche ich dir, Brüderchen. Außerdem wirst du nach dem Urlaub wieder bei mir und Mama einziehen. Das bekommen wir schon hin.«

Die Zwillinge reichten sich die Hände. Es war die Bekräftigung ihres gegenseitigen Versprechens.

Gunter hielt vor dem schicken Apartmenthaus. Frauke Hennings stand auf der Terrasse ihrer Penthauswohnung. Sie winkte. Dann verschwand sie.

»Ihr bleibt im Auto! Ich hole Frauke ab!«

Die Zwillinge nickten nur. Sie sahen ihrem Vater nach, wie er durch die gläserne Drehtür verschwand. Ungeduldig wartete Gunter vor dem Aufzug. Endlich kam er. Frauke trat heraus.

Gunter stellte seinen Fuß auf die Schwelle des Aufzuges, damit die Tür sich nicht schloß. Er nahm Frauke in den Arm und küßte sie leidenschaftlich.

»Hast du schon mit den Kindern geredet?« fragte sie.

»Nein!«

»Du wolltest es doch tun!«

»Ja, sicherlich! Es gab keinen günstigen Moment dazu. Wir wollen doch beide, daß sie einverstanden sind.«

»Hängt unsere gemeinsame Zukunft vom Einverständnis der Kinder ab?«

»Nein, Helen! Doch wir wollen doch nicht ihren Widerstand wecken oder? Die beiden können ganz schön schwierig sein. Deshalb habe ich mir gedacht, daß du noch mehr ihr Herz erobern könntest, Frauke. Wenn sie dich mögen, dann wird alles viel leichter für uns.«

Frauke griff nach ihrer Handtasche.

»Ich lehne die Zwillinge nicht ab, das habe ich dir schon oft gesagt, Gunter. Ich bin nur nicht der Muttertyp. Das weißt du doch. In dieser Beziehung habe ich immer klare Stellung bezogen. Du liebst mich doch auch deswegen oder?«

Gunter nahm Frauke erneut in die Arme.

»Ja, deswegen liebe ich dich! Wir haben die gleichen Ziele und Wünsche, was das Leben angeht. Ich weiß, daß du kein Helen-Typ bist und auch kein Silvi-Typ. Keine Kinder! Vielmehr keine weiteren Kinder, das ist unsere Abmachung. Aber die Zwillinge sind nun einmal aus der Verbindung mit Helen da. Ich kann sie nicht verschwinden lassen. Außerdem liebe ich meine Kinder, Frauke. Das weißt du. Streß soll es doch nicht geben. Das wäre auch ganz unnötig. Also bitte – bitte – sei nett zu ihnen. Weißt du, es ist doch strategisch wirklich besser, wenn sie dich schätzen. In ein paar Jahren sind sie erwachsen und gehen ihre eigenen Wege. Die paar Jahre gehen schnell vorbei. Was sollen wir uns deshalb Streß machen? Du bist doch so eine verständnisvolle Frau! Du bist nicht nur atemberaubend schön…«

Gunter sah an Frauke herab. Sie sah aus wie ein Modell in ihren engen Hosen und dem schulterfreien Top.

»Du bist doch auch eine kluge Frau!«

Frauke schmollte ein wenig.

»Ich liebe dich, Gunter! Ich habe Angst, dich zu verlieren.«

»Alles wird gut werden, Frauke! Die Zwillinge lieben die Berge. Da kommen sie ganz nach ihrer Mutter. Wenn sie glücklich sind, dann ist alles leichter für uns. Ich weiß ja, daß die Berge nicht gerade das sind, was dir Freude macht.«

»Das ist milde untertrieben, Gunter! Ich kann die Berge nicht ausstehen die Leute dort! Ein Alptraum an Trachten und Traditionen. Das ist nicht meine Welt!«

»Liebste Frauke! Es sind nur zwei Wochen! Was bedeuten schon zwei Wochen, zwei Wochen im Vergleich zu dem, was wir beide gewinnen können. Du bist die, die ich liebe! Doch meine Kinder liebe ich auch! Also, können wir nicht das Beste daraus machen? Du wirst sehen, wie wunderbar der Urlaub wird. Und wenn es dir auf der Berghütte nicht gefällt, dann ziehen wir ins Hotel. In Waldkogel gibt es ein wirklich sehr gutes Hotel. Es hat sogar vier Sterne. ›Zum Ochsen‹ heißt es. Die Inhaberfamilie sind Kunden von mir. Ich habe mit ihnen telefoniert. Sie halten eine Suite für uns bereit, falls etwas schief geht.«

Gunter schaute Frauke tief in die Augen.

»Bitte, Frauke! Ich will dich glücklich machen! Du willst doch auch, daß ich glücklich bin! Das geht nur, wenn die Kinder auch glücklich sind!«

Frauke Hennings schaute Gunter in seine blauen Augen. Sie war verrückt nach diesem Mann. Er bot ihr ein Leben, wie sie es sich erträumt hatte. Er war vermögend, Inhaber eines riesigen Ingenieur – und Architekturbüros. Er wollte sein Leben nicht mit weiteren Kindern belasten. Kinder wollte Frauke auf keinen Fall. Ihre Freundin Silvi war dafür ein abschreckendes Beispiel. Kinder, das bedeutete Rücksichtnahme vierundzwanzig Stunden am Tag, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr – und das Jahr für Jahr. Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder, große Sorgen! Nein, das war nicht der Lebensinhalt, den Frauke anstrebte.

Frauke schlang die Arme um Gunters Hals und drückte ihren Körper an den seinen. Sie küßte ihn voller Leidenschaft auf den Mund.

»Du kannst dich auf mich verlassen! Wie hast du gesagt: Ich bin nicht nur atemberaubend schön – ich bin auch klug! Ich bin eben kein Muttertyp! Aber ich kann perfekt den Muttertyp spielen. Die Kinder werden mich mögen! Aber du mußt mir versprechen, daß wir nie mehr zu viert in Urlaub fahren!«

Gunter küßte Frauke.

»Ich verspreche dir alles, was du willst! Jetzt müssen wir aber gehen!«

Gunter griff sich die beiden großen Reisetaschen. Sie waren sehr schwer. Frauke trug ihre Handtasche und den Kosmetikkoffer. Sie gingen zum Auto.

Während Gunter Fraukes Gepäck im Kofferraum verstaute, begrüßte Frauke die Zwillinge und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Gunter stieg ein.

»Alle angeschnallt? Alle fertig? Dann geht es los! Auf in die Berge! Auf ins schöne romantische Waldkogel!«

Gunter ließ den Zwölfzylindermotor aufheulen. Sie fuhren los.

Während der ganz Fahrt sprachen die Kinder kaum mit ihrem Vater. Sie tuschelten und flüsterten nur miteinander. Die Fahrt dauerte mehrere Stunden. Gunter brauste fast nur auf der Überholspur in Richtung Berge. Unterwegs hielten sie einmal an und nahmen einen kleinen Imbiß ein. Es war ein Schnellimbißlokal bei einer Tankstelle. Polly und Patrick waren begeistert. Frauke ging nicht mit hinein. Sie lief auf dem Parkplatz auf und ab. Nein – Hamburger aß sie nicht. Dieses fettige Zeug macht nur dick, war ihre Meinung. Außerdem waren solche Lokale wirklich nicht ihr Stil. Statt dessen trank sie stilles Mineralwasser, das sie sich an der Tankstelle gekauft hatte.

Es dauerte eine Weile, bis Gunter mit den Kindern wiederkam. Sie trugen große Tüten mit Hamburger, Pommes frites, Bechern mit Limonade und Eiscreme vor sich her.

»Ihr wollt doch wohl nicht im Auto essen?« entfuhr es Frauke entsetzt. »Jeder Krümel gibt einen Fettfleck auf dem weißen Lederpolster! Und erst die Tomatensoße!«

Sofort bemerkte sie, daß sie besser geschwiegen hätte. Von den Kindern erntete sie zutiefst ablehnende Blicke.

»Wir haben schon öfter Pommes im Auto gegessen! Wir sind keine Babys mehr, die alles vollkleckern!« giftete sie Polly an.

»Polly! Bitte nicht in diesem Ton! Frauke war nur um das Auto besorgt! Paßt bitte auf! Ich gehe noch mal rein und hole noch weitere Papierservietten – nur zur Sicherheit!«

»Auf einmal! Sonst sagst du doch auch nichts!« brummte Patrick. »Aber wenn deine liebe – liebe – liebe Frauke etwas dagegen hat, dann essen wir eben nicht im Auto! Komm, Polly, wir setzen uns an einen Tisch dort drüben!«

»Das müßt ihr nicht, Kinder! Wir wollen doch noch heute in Waldkogel ankommen! Wir müssen doch auch noch rauf zur Berghütte! Steigt schon ein!«

Patrick und Polly lockerten ihre Sonnenbrillen, blickten sich über den Rand der Brillen zu, nickten und gingen zu dem Tisch. Sie setzten sich. Sie packten das Essen aus. Dann aßen sie. Sie aßen langsam, betont langsam, wie in Zeitlupe. Jede einzelne Pommes frites wurde zum Mund geführt und gekaut.

Ihr Vater stand zuerst beim Auto und redete mit Frauke, dann kam er zu ihnen.

»Frauke will los! Seid ihr bald fertig?«

»Bald, Papa! Mama sagt immer, man soll nicht so schlingen!« antwortete Polly.

»Das stimmt schon! Trotzdem solltet ihr euch etwas beeilen.«

Polly trank einen Schluck Limonade. Sie sah ihren Vater an.

»Papa! Es war keine gute Idee, Frauke mitzunehmen! Wie bist du nur darauf gekommen?«

»Polly, das war eine sehr gute Idee! Ich liebe die Berge, ihr liebt die Berge! Was liegt da näher, als daß wir drei Frauke die Berge zeigen? Es wird bestimmt nett werden! Wir hatten doch immer so viel Spaß in den Bergen. Erinnert ihr euch?«

»Das war mit Mama!« brummte Patrick. »Nicht mit Frauke!«

Gunter seufzte ganz leise. Er setzte sich zu seinen Kindern an den Tisch. Von ferne sah er, wie Frauke sich kopfschüttelnd ins Auto setz-

te.

»Polly! Patrick! Ja, es stimmt. Wir hatten immer viel Freude, wenn wir alle in den Bergen waren. Doch das ist schon eine Zeitlang her. Doch Helen und ich sind kein Paar mehr! Es läuft im Leben manchmal nicht alles so rund, wie man es sich erträumt. Ihr wißt doch, daß wir am Schluß nur noch gestritten hatten.«

»Aber jetzt streitet ihr nicht mehr!« warf Patrick ein.

»Stimmt! Wir streiten nicht mehr! Wir sind richtig gute Freunde. Mehr aber auch nicht!«

»Du hast jetzt Frauke an Stelle von Mama!« sagte Patrick leise.

»Ja, ich habe jetzt Frauke. Helen wird auch jemanden haben!«

Polly und Patrick rissen die Augen auf.

»Nein!« riefen die Zwillinge wie aus einem Mund. »Mama hat niemanden!«

Gunters Herz klopfte. Er verdrängte es gleich wieder.

»Vielleicht wird Helen irgendwann jemanden kennenlernen. Aber eines wird immer bleiben: Ihr seid unsere Kinder. Ich will, daß ihr glücklich seid. Helen will, daß ihr glücklich seid. Jeder Mensch will glücklich sein. Ich war damals nicht sonderlich glücklich am Ende meiner Ehe mit Helen.«

»Bist du jetzt glücklich mit Frauke?« fragte Polly.

»Ja, ich verstehe mich mit Frauke gut!«

»Ich mag Frauke nicht!« zischte Polly.

»Das kann ich dir nicht verdenken, Polly! Du kennst sie erst wenig. Deshalb dachte ich mir, daß es eine gute Idee ist, wenn wir alle einmal gemeinsam einen Urlaub verbringen. Dann könnt ihr sie besser kennenlernen. Ich lege nämlich großen Wert auf euer Urteil. Es war übrigens Fraukes Vorschlag mit dem Urlaub in den Bergen. Sie wollte euch eine Freude machen. Sie mag die Berge nicht. Aber sie weiß, wie sehr ihr die Berge liebt. Ist das nicht nett von ihr? Damit will sie euch zeigen, wie sehr sie euch mag!«

Das war zwar gelogen, aber in dieser Situation hielt Gunter diese Notlüge für angebracht. Hoffte er doch dadurch, wieder etwas Harmonie zu gewinnen.

»Wirklich?« fragte Polly.

Sie warf einen Blick in Richtung Auto. Frauke sah es. Sie winkte.

»Wirklich, Polly! Frauke ist nur etwa unbeholfen mit Kindern! Sie meint es nicht so! Ich werde mit ihr reden! Versprochen! Nun packt den Rest der Pommes ein! Wir fahren weiter. Und wenn es Flecken gibt, dann lasse ich die Polster reinigen!«

Die Zwillinge stopften die restlichen Pommes Frites in sich hinein und tranken die Limonade aus. Mit den Eisportionen in den Händen stiegen sie wieder ein.

»Hast du keinen Hunger, Frauke?« fragte Polly.

»Ich werde später etwas essen! Ich mag solches Zeug nicht. Das macht dick!«

Patrick bemerkte keß.

»Du kannst ruhig etwas zunehmen. Mir bist du viel zu dünn!«

Frauke lief vor Wut rot an. Gunter mußte lachen.

»Dir muß Frauke nicht gefallen, Patrick! Es reicht doch, daß sie mir gefällt.«

»Mama hat die bessere Figur! Mama ist auch schlank. Aber sie hat mehr Busen! Mama ist viel schöner!«

Frauke nahm die Hände vor die Brust. Gunter lachte wieder. Er warf Frauke einen Blick zu.

»Patrick wird langsam erwachsen! Orientiert sich nicht jeder Junge erst einmal an seiner Mutter, Frauke?«

Frauke Hennings schwieg. Sie kämpfte mit den Tränen. Patricks kindliche Bemerkung hatte sie tief verletzt.

Polly gab ihrem Zwillingsbruder mit der Hand ein Zeichen. Dies bedeutete so viel, wie: gut gemacht – das hat gesessen.

Der Rest der Fahrt verlief schweigend.

*

Am späten Nachmittag erreichten die vier Waldkogel. Frauke saß angespannt auf dem Beifahrersitz. Mit weiten Augen schaute sie hinauf zu den Gipfeln. Nein, nein! Das ist nicht meine Welt, sagte sie sich. Doch ihr Ehrgeiz und die Aussicht auf eine dauerhafte Verbindung mit Gunter hielten sie von negativen Bemerkungen ab.

Sie hielten auf der Wiese hinter der Oberländer Alm. Polly und Patrick sprangen aus den Auto und liefen davon.

»Hilda!«

»Wenzel!«

Die Kinder schrieen, so laut sie konnten.

»Mei, die Zwillinge!« sagte Hildegard Oberländer, die von allen Hilda gerufen wurde.

Die alte Frau wischte sich die Hände ab, breitete die Arme aus und drückte die beiden an sich.

»Mei, seid ihr groß geworden!«

Wenzel Oberländer, Hildas Mann kam aus der Almhütte.

»Grüß Gott! Mei, Hilda schau dir des an! Was ist die Polly schon für ein fesches Madl! Und der Patrick, wie ist der erst gewachsen!«

Wenzel strich mit seiner Hand Patrick durch das Haar.

»Was freu’ ich mich, daß ihr da seid! Der Toni hat uns erzählt, daß ihr kommen tut! Schau, Patrick, was ich hier für dich habe.«

Wenzel Oberländer griff in seine Hosentasche und holte eine Schleuder hervor.

»Erinnerst dich noch dran?«

»Meine Steinschleuder! Du hast die aufgehoben?«

»Freilich! Du hast die des letzte Mal liegen lassen! Wir haben gewußt, daß du mal wiederkommst!«

»Danke, Wenzel! Meinst, sie geht noch?«

»Des Gummi von dem alten Fahrradschlauch war in der langen Zeit schon etwas bröcklig geworden. Ich hab’ dir ein neues drangemacht. Willst es net gleich mal ausprobieren?«

Patrick schaute den alten Wenzel mit strahlenden Augen an. Er bückte sich und hob einen Stein auf. Er legte ihn in die Lasche, hob die Arme, spannte und schoß. Der Stein flog hoch in die Luft hinauf, über das Dach der Almhütte.

»Au! Au!« schrie jemand.

Polly und Patrick schauten sich an. Patrick ließ die Steinschleuder hinter seinem Rücken verschwinden. Im gleichen Augenblick kam Gunter mit Frauke um die Ecke bei der Almhütte. Frauke jammerte und rieb sich den Kopf. Wenzel trat hinter Patrick, nahm ihm die Steinschleuder ab und ließ sie wieder in seiner Hosentasche verschwinden.

Gunter grüßte Hilda und Wenzel nur kurz. Er führte Frauke zu einer Bank. Sie setzte sich und rieb sich noch immer die Schädeldecke.

»Was ist passiert?« fragte Wenzel mit Unschuldsmiene.

»Ich weiß nicht! Frauke muß etwas am Kopf getroffen haben. Aber was?«

»Es tat weh! Es brennt noch immer!« jammerte Frauke.

Hilda trat hinzu und schaute nach.

»Des ist eine kleine Beule und die Haut ist ein bisserl angekratzt. Aber des ist nix Schlimmes! Ich hole von der Ella Waldner ihrer Kräutertinktur! Da tun wir was drauf! Des ist unser Hausmittel. Des hilft außen genauso gut wie innen!«

Hilda ging ins Haus und kam kurz darauf mit einer Flasche, einem Glas und einem kleinen Lappen zurück.

»Lieber nicht!« wehrte sich Frauke. »Ich nehme das Auto und fahre zurück. Gibt es im Ort einen Arzt? Wer weiß, was mich da auf dem Kopf getroffen hat! Ich will keine Blutvergiftung bekommen.«

»An der Kräutertinktur von der Ella ist noch niemand gestorben. Hier trink!«

Frauke roch daran.

»Nein! Nein! Was ist das?«

»Was da drin ist? Des weiß niemand außer der guten Ella! Des ist ein Geheimrezept. Alle schwören darauf! Sogar unser guter Dr. Engler!« sagte Hilda.

Sie gab etwas davon auf den kleinen Lappen und betupfte damit Fraukes Kopf. Das erfolgte so schnell, daß Frauke sich nicht wehren konnte. Sie schrie auf.

»Mei, Madl! Des brennt ein bisserl. Des ist der Alkohol drin. Aber des hilft.«

Frauke Hennings rang nach Atem. Sie holte tief Luft.

»Gunter! Ich will jetzt nach Waldkogel runter! Ich will zu einem Arzt. Außerdem will ich sofort zurück. Das ist ja lebensgefährlich hier! Was kann das gewesen sein?«

Wenzel schaute in den Himmel.

»Wir haben Adler hier! Die haben dort oben ihr Nest. Vielleicht haben die einen Stein im Gefieder gehabt.«

»Raubvögel? Adler?« hauchte Frauke fast tonlos.

Sie wurde immer blasser. Sie lehnte sich auf der Bank zurück und schloß die Augen. Gunter legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Frauke! Das ist nur der Schock. Du bist erschrocken. Es ist doch nichts passiert! Komm, trinke den Kräuterschnaps. Dann geht es dir gleich besser!«

»Sag mal, Gunter! Habe ich mich nicht klar ausgedrückt! Ich will das Zeug nicht. Ich will fort.«

Die Zwillinge schauten sich an. Dann bemerkte Polly spitz:

»Mama hätte sich nicht so angestellt! Frauke ist eben lange nicht so stark wie Mama!«

Frauke hörte es. Sie kochte vor Wut.

»Polly!« sagte Gunter.

Seine Stimme hatte einen tadelnden Unterton.

»Sei dem Madl net bös’, Gunter! Kindermund tut Wahrheit kund! So heißt des Sprichwort. Die Polly hat nur die Wahrheit gesagt. Die Helen, die ist aus anderem Holz geschnitzt«, bemerkte Wenzel.

»Muß ich mir das gefallen lassen?«

Gunter gab keine Antwort.

»Beweis uns, daß du auch Mumm in den Knochen hast und tue trinken!« sagte der alte Wenzel und hielt Frauke das Glas hin.

Frauke erkannte, daß sie jetzt nur gewinnen oder verlieren konnte. Trank sie, dann hatte sie gewonnen. Trank sie nicht, dann würde sie bei den Zwillingen einen weiteren Minuspunkt einfahren. Es schmerzte sie sehr, daß Gunter so gar nicht auf ihrer Seite war.

Ich will Gunter haben! Ich werde trinken! Ich werde ihm beweisen und seinen Gören auch, daß ich mit Helen mithalten kann. Aber warte, wenn ich erst mal Gunters Frau bin, dann habt ihr Satansbraten nichts mehr zu lachen. So dachte Frauke. Sie griff nach dem Glas und leerte es in einem Zug. Sie verzog das Gesicht und schüttelte sich.

»Schon ganz gut für den Anfang, Patrick! Aber eine richtige Berglerin wird Frauke nie, was meinst du?«

»Des wird sie nie! Jetzt kommt erst mal der Aufstieg rauf auf die Berghütte. Vielleicht wird Papa sie tragen müssen?« flüsterte Patrick seiner Schwester zu.

»Papa! Gehen wir?« fragte Polly.

Dr. Gunter Volkmann lächelte Frauke an.

»Besser? Geht es?«

»Ja, besser! Aber wenn ich morgen noch Beschwerden habe, dann will ich zum Arzt!«

Gunter nickte nur. Dann ging er auf Wenzel und Hilda zu. Er bedankte sich für die Hilfe. Er erklärte, daß Frauke zum ersten Mal in den Bergen sei. Da wäre ihr alles noch etwas fremd. Dafür habe er aber Verständnis.

»Ist des deine Neue?« fragte Wenzel Oberländer unverblümt.

»Ja, das ist meine Frauke! Ich mag sie sehr! Deshalb will ich ihr jetzt die Berge zeigen!«

»Des ist fein, Gunter! Dann wünsche ich euch eine schöne Zeit.«

»Danke, Wenzel!«

Hilda steckte Polly und Patrick noch Kuchen zu. Dann verabschiedete sie sich auch von Gunter.

»Gunter, wir kennen dich jetzt schon viele Jahre. Du weißt, wie des hier ist in Waldkogel. Da redet niemand hinten herum. So will ich es dir ins Gesicht sagen«, flüsterte Hilda Oberländer. »Hüte dich davor, mit der Frauke hinauf in den ›Paradiesgarten‹ zu gehen.«

»Warum?« staunte Gunter.

»Weil des net passen tut! Vielleicht paßt es nur jetzt noch net. Vielleicht paßt es später, wenn ihr des nächste Mal kommen tut.«

»Gunter! Wovon spricht diese Frau?«

»Wir reden über Wanderziele. Sie meinte, daß es nicht gut sei, ganz hinaufzugehen. Das wäre noch zu… nun vielleicht beim nächsten Mal. Du mußt dich ja erst noch an die Berge gewöhnen.«

So redete sich Gunter heraus. Dabei verstand er genau, was ihm die alte Hilda damit hatte sagen wollen. Sie hielt nichts von Frauke. Sie lehnte sie ab. Sie warnte ihn. Sie war davon überzeugt, daß die Liebe zwischen ihm und Frauke weder wirkliche Tiefe hatte, noch von Dauer sein würde. Gunter versuchte diese Gedanken zu verdrängen.

»Ha! Ich bezweifele, daß es ein nächstes Mal gibt! Gunter, ich habe dir versprochen, daß ich mit dir fahre. Ich wollte dir und deinen Kindern eine Freude machen. Aber nur ein einziges Mal. Ein zweites Mal? Nein!«

Frauke stand auf. Sie griff nach ihrer Handtasche und ihrem Kosmetikkoffer.

»Laßt uns gehen!« sagte sie entschlossen.

Polly und Patrick schulterten ihre Rucksäcke und griffen ihre kleinen Reisetaschen. Gunter hatte alle seine Sachen in einem großen Rucksack auf dem Rücken. In beiden Händen trug er je eine der großen Reisetaschen von Frauke.

Ganz allmählich kamen ihm auch Zweifel, ob es wirklich so eine gute Idee war, mit Frauke und den Kindern in die Berge zu fahren. Er nahm sich vor, mit den Kindern bald eine schöne Wanderung zu machen. Dabei wollte er noch einmal mit ihnen sprechen.

*

Für den Aufstieg von der Oberländer Alm zur Berghütte benötigten Gunter, Frauke und die Zwillinge fast die dreifache Zeit. Das lag sicherlich nicht an Gunter, obwohl er an Fraukes beiden schwergewichtigen Reisetaschen viel zu tragen hatte. Auch Polly und Patrick machte der Aufstieg keine Schwierigkeiten. Frauke machte die Schwierigkeiten. Sie konnte in ihren offenen Stadtsandalen mit den zierlichen Riemchen nur langsam laufen. Dazu kam, daß ihre viel zu engen röhrenförmigen Jeans für eine Bergwanderung sehr unbequem waren. So schleppten sie sich von Rast zu Rast. Dazwischen lagen oft nicht mehr als hundert Meter.

»Ich habe nicht erwartet, daß dieser Weg so steinig, steil und unwegsam ist. Du hast von einem schönen Wanderweg gesprochen, Gunter«, beklagte sich Frauke. »Das hier ist Wildnis.«

So jammerte Frauke den ganzen Weg. Die Zwillinge schwiegen. Doch ihre Blicke sprachen mehr als tausend Worte. Auf der anderen Seite hatten sie Mitleid mit ihrem Vater. Fraukes Unfähigkeit, sich den Bergen anzupassen oder sich auch nur in die Umstände zu fügen, war Gunter schon peinlich. Er konnte die Gedanken seiner Kinder aus ihren Blicken lesen. Immer öfter dachte er während der Pausen und während des Aufstiegs an Helen. Ihm kamen die vielen gemeinsamen Aufstiege in den Sinn. Sie waren nicht nur bei schönem Wetter aufgestiegen. Sie hatten den Aufstieg auch schon im strömenden Regen bewältigt. Einmal wurden sie unterwegs von einer plötzlich aufziehenden Nebelwand überrascht. So ein Wettersturz im Gebirge, das brachte Helen nicht aus der Fassung. Sie sahen damals fast die Hand vor den Augen nicht. Aber sie schafften es, wie man es von echten Bergfreunden eben erwarten konnte.

»Leuchtet dahinten etwas, Papa?« riß Patrick seinen Vater aus den Gedanken.

»Das müssen die Lichter der Berghütte sein!«

Gunter bat die Kinder bei Frauke zu bleiben. Er ging voraus und kam bald mit Toni und zwei Stablampen zurück. Toni und Gunter stützten Frauke während der letzten Meter.

Anna hatte bereits ein Bett für Frauke gerichtet. Völlig erschöpft sank sie in die Federn.

*

Es war früher Morgen. Gunter saß mit seinen Kindern auf der Terrasse der Berghütte und frühstückte.

»Steht Frauke nicht auf?« fragte Patrick leise.

»Frauke will im Bett bleiben und sich ausruhen. Ich nehme an, sie ist gleich wieder eingeschlafen.«

Gunter trank einen Schluck Kaffee.

»Was machen wir heute? Wollt ihr eine Wanderung machen?«

Patrick zuckte mit den Schultern.

»Was ist, wenn Frauke aufsteht und du nicht da bist, Papa?« fragte Polly.

»Sie wird warten, bis wir wiederkommen. Wo wollt ihr hin?«

»Den ›Pilgerpfad‹ rauf, bis zum Bergsattel, wo es auf der anderen Seite wieder runtergeht. Weißt du noch, wie wir mit Mama dort waren?«

»Ja!« antwortete Gunter leise.

Er trank einen Schluck Kaffee. Wieder mußte er an Helen denken. Wieder drängte sich der Vergleich zwischen Frauke und Helen auf. Wie schön war die Aufstiege mit Helen immer gewesen! Hand in Hand hatten sie die Schönheit der Berge in ihre Herzen aufgenommen und die Begeisterung geteilt für den weiten Blick über das Tal bis hinauf zu den Berggipfeln des ›Engelsteigs‹ und des ›Höllentors‹. Gunter erinnerte sich an den Aufstieg mit Frauke am vorherigen Tag. Sie hatte nur geklagt und jeden Schritt bedauert. Ihr Blick war nicht voller Glück gewesen, sondern nur ein stiller Vorwurf.

»Papa!« Polly riß Gunter aus seinen Gedanken.

»Ja?«

»Papa, wann gehen wir?«

»Sofort, liebste Polly! Ihr zieht eure Anoraks an und vergeßt auch Mütze und Schal nicht. Der Wind ist heute etwas kühl. Weiter oben wird es noch frischer sein. Ich rede mit Toni und Anna wegen des Proviants.«

Gunter stand auf.

»Nehmt eure Teller und Becher mit und stellt sie drinnen auf den Tresen. Anna und Toni haben schon genug Arbeit.«

»Danke, Kinder! Das ist lieb!« sagte Anna freundlich. »Wollt ihr mit Sebastian und Franziska spielen? Sie sind in ihren Zimmern.«

»Nein! Papa will mit uns eine Wanderung machen«, erklärte Patrick stolz. »Das wird toll werden. Frauke bleibt hier!«

Polly und Patrick gingen in ihre Kammer. Gunter schaute ihnen nach.

»Darfst nicht schlecht von den beiden denken, Anna. Die beiden kommen ganz gut mit Frauke aus. Na ja, vielleicht sehe ich es optimistischer, als es ist. Aber es könnte schlimmer sein.«

Anna lächelte Gunter an.

»Es ist für Kinder nie leicht, wenn sich die Eltern trennen. Hier in Waldkogel ist es selten, daß sich zwei scheiden lassen. Aber ich habe so etwas daheim oft mitbekommen – daheim…« Anna lachte laut. »Ich meine, vor meiner Heirat mit Toni. Da lebte ich in Hamburg und arbeitete in einer Bank. Da gab es schon Kollegen, die in Scheidung lebten. Für die Kinder war das nicht leicht. Kinder leben auch in der Illusion, daß die Eltern für ewig zusammenbleiben müssen. Oft stellt es sich später heraus, daß die Geschiedenen sich wieder ganz gut verstehen, später, wenn der Druck des Konfliktes raus ist. Es ist doch meistens der Alltag, der den Menschen zu schaffen macht. Unter der Last des Alltags wird die Liebe zueinander verschüttet. Dann sehen sie nur noch die Fehler und Unzulänglichkeiten des anderen und es kommt zum Streit.«

»Genauso war es bei mir und Helen. Manchmal frage ich mich, wie es dazu kam und ob es wirklich notwendig war…«

Gunter seufzte.

»Nun ja, vorbei ist vorbei! Jedenfalls haben wir es geschafft, wieder sehr gute Freunde zu sein. Wir können jetzt besser reden als früher.«

Gunter räusperte sich. Wieder stiegen Erinnerungen in ihm auf. Wehmut und eine tiefe Sehnsucht und Trauer über das zerbrochene Glück breitete sich in seinem Herzen aus. Er rief sich selbst zur Vernunft.

»Kannst du uns Proviant geben, Anna? Die Kinder wünschen sich eine Wanderung hinauf bis zum Sattel, dort wo der ›Pilgerpfad‹ auf der anderen Seite hinunterführt. Die Kinder sind gut zu Fuß. Wir schaffen das. Ich denke bis zum Nachmittag – höchstens später Nachmittag – sind wir wieder hier.«

Anna bat Gunter in die Küche. Sie stellte Flaschen mit süßem Tee, Flaschen mit klarem Quellwasser, Brote, Käse, Obst und Süßigkeiten zusammen. Währenddessen hörte sie Gunter zu, wie er von früher erzählte. Damals, als er mit Helen zum ersten Mal auf die Berghütte gekommen war, bewirtschaftete der alte Alois noch die Berghütte mit seiner Frau. Ihnen war Gunter und Helen bekannt. Daß aus den beiden ein Paar wurde, daran hatten Alois und seine Frau großen Anteil genommen.

»Ihr seid eine gute Seilschaft, sagte der alte Alois damals zu mir und Helen. Eine gute Seilschaft in den Bergen und das wird euch auch im Leben helfen.«

Wehmut lag in Gunters Stimme.

»Doch es hat nicht gereicht. Jetzt habe ich Frauke. Frauke findet keine Freude an den Bergen. Vielleicht werde ich mit ihr im Leben glücklicher. Schade ist es schon, daß sie den Bergen so gar nichts abgewinnen kann.«

»Das wird vielleicht noch, Gunter. Toni und ich erleben viele, die erst mal einige Tage zum Eingewöhnen brauchen. Die Höhe und die dünnere Luft, die macht ihnen zu schaffen. Weißt du, Gunter, ich wollte auch nie in die Berge. Doch dann habe ich mich nicht nur in Toni verliebt, sondern auch in seine Heimat. Heute möchte ich nicht mehr fort. Vielleicht wird es Frauke auch so gehen. Laß sie sich erst einmal ausschlafen und eingewöhnen. Das wird schon! Die Schönheit der Berge, die Weite, diese Stille, die hat noch niemals jemanden unberührt gelassen. Der Macht der Berge kann sich niemand entziehen. Sie zwingen jeden, die Hektik des Alltags abzuschütteln und die neue Ruhe und den Frieden ins Herz aufzunehmen. Das wird mit deiner Frauke auch geschehen. So ein Sonnenuntergang auf der Terrasse oder die Sterne am Nachthimmel lassen niemanden unberührt. Auch deine Frauke wird dem Zauber der Berge erliegen, Gunter.«

»Das klingt gut, Anna! Das hört sich ungeheuer tröstlich und hoffnungsvoll an.«

Anna lächelte Gunter an. Sie bot ihm an, sich etwas um Frauke zu kümmern, sollte sie aufstehen, während Gunter mit den Kindern noch unterwegs war. Gunter war ihr dafür dankbar. Er hatte Frauke gegenüber nämlich ein bißchen ein schlechtes Gewissen. Er bedankte sich bei Anna für den Proviant.

Er holte auf leisen Sohlen den Rucksack aus der Kammer. Frauke schlief tief und fest.

Bald war Gunter mit seinen Zwillingen unterwegs.

*

Nachdem Gunter mit den Kinder gegangen war, versorgte Anna weiter die anderen Hüttengäste, die noch beim Frühstück auf der Terrasse der Berghütte saßen. Nach und nach beendeten alle ihr Frühstück und machten sich zu Bergwanderungen auf. Anna und Toni hatten viel zu tun.

Endlich wurde es ruhiger. Bis zum Mittag waren noch gut zwei Stunden Zeit. Bevor sich Toni und Anna an die Vorbereitungen für das Mittagessen machten, legten sie jeden Morgen eine kleine Pause ein. Dann saßen sie nebeneinander auf der Terrasse ihrer Berghütte und tranken einen Kaffee.

Toni legte den Arm um Anna.

»Des haben wir alles gut gemacht, Anna! Findest nicht auch?«

»O ja, Toni! Welch ein herrliches Leben!«

Anna legte ihren Kopf an Tonis Schulter. Toni drückte ihr einen Kuß auf das Haar.

»Wir tun auch schön aufeinander aufpassen und geben acht, daß unsere Liebe bei der Arbeit nicht unter die Räder kommt.«

»Das ist richtig, Toni! Diese kleinen Pausen und seien sie auch nur so lange, wie es dauert einen Kaffee auszutrinken, sind wichtig.«

»Richtig, aber man muß sie auch zelebrieren! Ich nehme dich in den Arm. Du spürst, daß ich dich liebe. Ich spüre deine Liebe. Wir denken nur an uns und freuen uns, daß wir zusammen sind und glücklich sind.«

»Ja, Toni! Das sind wir! Es tut gut, es sich einmal am Tag bewußt zu machen!«

Anna schaute Toni tief in die Augen. Sie lächelten sich an und küßten sich.

»Gunter ist nicht so glücklich, Toni! Der alte Alois hat mir gestern Abend noch von Helen erzählt. Gunter und Helen waren wirklich ein besonderes Paar. Alois findet es sehr schade, daß sie sich getrennt haben. Ihnen ist ihre Liebe verloren gegangen.«

»Ja, das ist wirklich schade. Ich habe mir Frauke angesehen. Sie sieht auch nicht so glücklich aus. Das kann nicht nur daran liegen, daß sie sich in den Bergen nicht wohl fühlt. Ihr fehlt das Funkeln in den Augen.«

»Meinst du, Frauke liebt Gunter nicht, Toni?«

»Das will ich nicht sagen! Sicherlich ist das Liebe zwischen den beiden. Doch es gibt da nicht diese tiefe Verbundenheit, wie man sie wirklich Liebenden ansieht. Bestimmt sind sie auf die eine oder andere Art und Weise glücklich miteinander. Aber es fehlt nach meiner Meinung die wirkliche Hingabe eines tief liebenden Herzens.«

Anna kuschelte sich an Toni.

»Vielleicht sind beide überarbeitet, Gunter, wie auch Frauke. Der Alltagsstreß muß erst von ihnen abfallen. Sie wollen zwei Wochen bleiben. Die Ruhe wird ihnen gut tun. Vielleicht hat Frauke auch Angst vor den Kindern. Immerhin wird sie durch die Kinder immer daran erinnert, daß es Helen gibt.«

Anna gab ihrem Toni einen Kuß auf die Wange.

»Wir werden es erleben. Es ist nicht das erste Mal, daß ein Paar auf die Berghütte kommt und Spannungen zwischen ihnen bestehen. Dann finden sie inmitten der schönen Berge doch zur wahren Liebe.«

Toni schaute Anna an.

»Ja, die Berge zwingen Menschen dazu, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, alles so zu sehen, wie es ist. Alles ist so klar in den Bergen oder wird so klar. Es kann auch vorkommen, daß sie erkennen, daß sie doch nicht so zusammenpassen, wie sie es sich vorgestellt hatten. Sie mögen sich sicher, haben die gleichen Interessen, aber Liebe – Liebe ist mehr als nur Gemeinsamkeiten! Liebe verlangt bedingungslose Hingabe! Wahre Liebe ist endlos und ewig. Sie ist selbstlos. Sie rechnet nicht auf und nicht an. Das einzig wahre Glück in der Liebe liegt darin, den anderen glücklich zu machen.«

Toni und Annas Lippen berührten sich zärtlich und doch voller Hingabe. Sie hatten die wahre Liebe gefunden.

Toni und Anna tranken ihren Kaffee aus. Sie gingen wieder an die Arbeit.

*

Gunter und die Kinder waren den schmalen Bergpfad entlanggelaufen, der am ›Erkerchen‹ vorbeiführte. Die Kinder waren von der Aussicht begeistert.

»Wollen wir hier rasten?« fragte Polly.

Ihr Vater schüttelte den Kopf. Er schaute auf die Uhr. Sie waren noch nicht einmal eine halbe Stunde unterwegs. Für eine Rast war es noch zu früh. Außerdem wollte Gunter auf keinen Fall beim ›Erkerchen‹ eine Rast einlegen. Die Erinnerungen an Nächte unter dem Sternenhimmel mit Helen waren ihm plötzlich wieder ganz bewußt. Hier beim ›Erkerchen‹ hatten sie sich zum ersten Mal ihre Liebe gestanden und geküßt. Hier beim ›Erkerchen‹ hatte Gunter seiner Helen den Heiratsantrag gemacht. Hier erzählte ihm im Jahr nach der Hochzeit Helen, daß sie Eltern werden würden und einige Monate später sagte sie ihm, daß sie Zwillinge erwartete.

»Laßt uns weitergehen!« sagte Gunter leise.

Die Zwillinge blieben stehen.

Polly schaute ihren Vater an.

»Denkst du jetzt an Mama? Stimmt es?«

Gunter wurde rot. Sein Herz schlug kräftiger und schneller in seiner Brust.

»Ja, ich habe einen Augenblick an Helen gedacht. Mit diesem Ort sind sehr schöne Erinnerungen verbunden. Auch ihr seid ein wunderbarer Teil dieser Erinnerungen.«

»Papa! Wirst du mit Frauke auch hierher gehen?«

Patrick schaute seinem Vater in die Augen.

»Würde es dich stören, Patrick?«

»Ja!«

Gunter atmete tief durch.

»Gut, ich verspreche dir, ich verspreche euch, daß ich mit Frauke nicht hierher gehen werde! Zufrieden?«

»Mmm!« brummte Patrick und setzte sich auf die Bank.

Sein Vater betrachtete ihn. Er seufzte. Gunter setzte sich neben seinen Sohn. Polly nahm ebenfalls Platz.

»Gut, machen wir eine kleine Pause, an diesem besonderen Ort. Ich spüre, daß du etwas auf dem Herzen hast, Patrick. Das spüre ich schon länger. Wollen wir nicht offen darüber reden? Oder willst du nur mit mir nicht darüber reden?«

»Patrick! Nun rede schon mit Papa!« ermunterte ihn seine Schwester.

Patrick spielte mit der Kordel an seinem Anorak.

»Sag du es ihm, Polly!«

Polly verzog das Gesicht. Patrick drückt sich mal wieder, dachte sie. Trotzdem empfand sie Mitleid mit ihrem Zwillingsbruder. Sie wußte, wie unglücklich er war.

»Papa! Patrick vermißt mich! Wir sind eben Zwillinge! Wärst du ihm sehr böse, wenn er wieder zu mir und Mama zurückkommt? Wärest du sehr traurig?«

Gunter legte seinen Arm um seinen Sohn und streichelte ihm über das Haar.

»Das ist es also! Du vermißt Polly! Deshalb bist du in den letzten Wochen und Monaten immer stiller geworden. Warum hattest du nicht den Mut, mit mir darüber zu reden?«

Statt einer Antwort zuckte Patrick mit den Schultern.

»Hör mal! Wenn wir aus dem Urlaub zurück sind, rede ich mit Helen. Sie hat sicherlich nichts dagegen«, lächelte Gunter wehmütig.

»Ich habe schon mit Mama geredet! Sie hat nichts dagegen, daß Patrick wieder zu uns zieht!« verkündete Polly mit strahlenden Augen.

»Dann ist ja alles geregelt, Patrick! Und wenn du es hören willst, dann sage ich es dir ganz deutlich! Ich bin weder böse, noch traurig darüber! Wir sehen uns ja an den Vaterwochenenden. Und wenn ich einmal mit dir etwas unternehmen soll, was eben nur Väter und Söhne machen, dann kannst du es mir sagen. Ich möchte, daß du glücklich bist und Polly ebenso – okay?«

Patrick nickte.

»Können wir jetzt weitergehen?« fragte Gunter.

Patrick vergrub seine Hände in den Taschen seines Anoraks.

»Wird Frauke immer bei dir bleiben?« fragte der Junge leise.

»Dir gefällt Frauke nicht?«

»Mußt du immer eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten?« motzte Patrick. »Also ich muß das wissen? Wird Frauke – ich meine wird sie – wird sie Mamas Stelle einnehmen?«

»Oh, Patrick! Frauke kann niemals Mamas Stelle einnehmen. Aber ich ahne, was du fragen willst und dich nicht traust.«

»Ich traue mich, dich zu fragen!« warf Polly ein. »Willst du Frauke heiraten?«

»Wie kommst du darauf, Polly?«

»Papa, du weichst aus! Du küßt Frauke doch oder? Ihr seid doch ein Liebespaar! Und der ganze Urlaub, der ist doch eine Art Familienurlaub zur Probe oder? Uns kannst du nichts vormachen, Papa!«

Gunter konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

»Bist ein schlaues Mädchen, Polly! Ich gebe es zu! Ich wollte euch die Chance geben, Frauke näher kennenzulernen und Frauke möchte euch auch näher kennenlernen. Ist das schlimm?«

»Dann willst du Frauke heiraten?« fragte jetzt Patrick.

»Also, ich liebe Frauke! Ich kann mir schon richtig vorstellen, wieder zu heiraten. Ich hoffe, daß ihr euch dann, wenn es soweit ist, mit mir freut!«

»Ich kann Frauke nicht leiden! Sie ist doof!« flüsterte Patrick.

»Willst du es mir nicht überlassen, das zu beurteilen? Ich will sie heiraten. In zehn Jahren vielleicht oder sogar noch früher verliebst du dich vielleicht in ein Mädchen, Patrick. Dann würdest du dich doch auch freuen, wenn es mir gefällt. Oder? Ich kann mir vorstellen, glücklich mit Frauke zu werden. Ich kann euch nicht zwingen, sie zu mögen. Aber es wäre wirklich nett, wenn ihr sie nicht ablehnen würdet. Es wäre noch netter, wenn ihr sie es nicht so spüren lassen würdet. Ich kann ja verstehen, daß ihr euch mit dem Gedanken, daß ich wieder heiraten möchte, nicht anfreunden könnt. Doch es ist mein Leben! Ich will auch glücklich sein. Glaubt ihr denn, ich will für den Rest meines Lebens alleine sein?«

Die Zwillinge schwiegen.

Gunter redete und redete. Er war verunsichert, weil sie nichts sagten. Auch Polly, die immer mehr redete als ihr Bruder, schwieg ebenfalls. Mit Engelszungen warb Gunter um Verständnis. Er ließ aber auch keinen Zweifel daran, daß er an Frauke festhalten wollte. Es war ein langer Vortrag, den er seinen Kinder hielt. Zum Schluß bat er sie darum, die Chance zu nutzen und Frauke einfach näher kennenzulernen.

»Ich verlange nicht, daß ihr sie liebt! Über etwas Toleranz würde ich mich sehr freuen. Meint ihr, ihr bringt das fertig? Ihr würdet mir eine große Freude machen.«

Die Zwillinge schauten sich an. Patrick murmelte leise:

»Mal sehen!«

Gunter wußte, daß dies die Antwort seines Sohnes war, wenn er zustimmte. Patrick konnte nie richtig ja sagen! Er wollte sich nie festlegen, wenn es um Gefühle ging. Er zeigte nie eine spontane Freude. Er behielt sich immer ein Hintertürchen offen. Wahrscheinlich tut er es aus Selbstschutz, um sich selbst vor Enttäuschungen zu schützen. Zu dieser Erkenntnis war Gunter gekommen.

Sie sind eben Scheidungskinder, dachte Gunter. Die Scheidung hat ihre Welt in zwei Teile geteilt. Sie sind noch so jung. Sie müssen erst noch älter werden und selbst lieben, dann können sie mich besser verstehen. Vielleicht sollte ich mit Helen darüber reden, dachte Gunter. Vielleicht würde helfen, wenn Helen und ich gemeinsam mit den Kindern über Frauke sprechen. Wenn Patrick sieht, wie Helen damit umgeht, daß sie Verständnis hat für mein neues Glück, dann finden die Zwillinge vielleicht auch einen Zugang zu Frauke.

Als könnte Polly die Gedanken ihres Vater lesen, frage sie leise:

»Weiß Mama, daß du in Frauke verliebt bist, Papa?«

»Mama hat mich und Frauke schon einige Male zusammen gesehen. Frauke arbeitet ja seit Jahren in der Firma. Sie ist schon viele Jahre da, schon damals, als Helen und ich noch verheiratet waren. Eure Mutter ist eine ausgezeichnete Architektin. Ihr ist es sogar gelungen, mir einige Aufträge wegzuschnappen. Ihr wißt ja, daß Aufträge bei großen Ausschreibungen ausgeschrieben werden. Dann werden an einem Tag alle Architekten eingeladen und präsentieren ihre Vorschläge. Bei solchen Treffen gehe ich dann mit einem ganzen Team hin. Frauke ist immer dabei. Bei solchen Terminen sahen sich Frauke und eure Mutter öfter. Sie redeten auch miteinander. Natürlich sprachen sie nicht über uns oder euch. Aber ich nehme an, daß eure Mutter schon bemerkt hat, daß Frauke mehr als nur eine Mitarbeiterin ist. Eine Bemerkung über mein Verhältnis zu Frauke hat eure Mutter nie gemacht. Das würde sie auch von sich aus nie tun. Aber ich werde mit Helen über Frauke reden. Ich werde es ihr sagen, daß ich Frauke heiraten will. Dann weiß sie es und ihr müßt kein Geheimnis daraus machen. Gut so?«

Die Zwillinge schauten sich an. Gunter forderte keine Antwort von ihnen auf seinen Vorschlag. Sie sind Kinder. Sie brauchen Zeit, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dachte er. Er stand auf.

»Wollen wir jetzt weitergehen?«

Patrick schüttelte den Kopf.

»Ich habe keine Lust mehr. Können wir zurückgehen?«

»Was ist mir dir, Polly?«

»Ist okay! Wir können ja mit Sebastian und Franziska spielen. Die scheinen ganz nett zu sein. Gestern abend haben sie uns ihre Zimmer gezeigt. Basti hat viele Modellbauten, Papa. Er will vielleicht auch mal Architekt werden. Die baut er aus kleinen Holzspänen und viel Pappe. Dann malt er sie bunt an. Die sind ganz toll. Du mußt sie dir mal ansehen! Er hat ein Modell der Berghütte gebaut, mit einem abnehmbaren Dach. Das Geländer der Terrasse ist aus lauter Streichhölzern.«

»Gut, dann gehen wir zurück! Wir können ja an einem anderen Tag zusammen eine Wanderung machen. Ich bin sicher, daß Frauke nichts dagegen hat, wenn wir alleine losziehen.«

»Du mußt nicht mit uns kommen, Papa! Du kannst ruhig alleine wandern gehen. Wir laufen den Pfad bis zur Berghütte zurück. Frauke schläft bestimmt bis zum Mittag.«

Gunter schaute Polly mit großen Augen an. Sie wird ihrer Mutter sehr ähnlich, dachte Gunter in diesem Augenblick. Helen wußte auch immer, wann ich allein sein wollte.

»Das ist vielleicht keine schlechte Idee…«

»Nun mach schon, Papa! Wir stürzen schon nicht ab!«

Gunter brachte seine Kinder dann doch noch ein Stück zurück. Als die Berghütte in Sichtweite kam, verabschiedete er sich und kehrte um. Polly und Patrick gingen alleine über das Geröllfeld zur Berghütte.

»Basti! Franzi! Da kommen Polly und Patrick!« rief der alte Alois.

Er saß auf der Terrasse der Berghütte. Die Bichler Kinder liefen den Zwillingen entgegen, gefolgt von Bello.

Der Tag wurde für Polly und Patrick doch noch sehr schön. Sie spielten zuerst mit den Bichler Kindern und Bello auf dem Geröllfeld fangen. Mittags liefen sie hinunter zur Oberländer Alm, um noch Sahne für Anna zu holen.

Frauke schlief bis nach dem Mittagessen. Anschließend saß sie auf der Terrasse der Berghütte und sonnte sich.

Als Gunter am frühen Abend von seiner einsamen Wanderung zurückkam, hatte er den Eindruck, daß die Kinder sein Geständnis nicht mehr allzusehr bedrückte. Auch Frauke schien besserer Laune zu sein.

Nach dem gemeinsamen Abendessen verschwanden Polly und Patrick mit Basti und Franzi in deren Zimmer zum Spielen. Es war schon spät, als Gunter die Zwillinge ermahnte, schlafen zu gehen.

*

Am nächsten Morgen frühstückten Gunter und Frauke alleine.

»Daß die Kinder so lange schlafen?« Gunter war beunruhigt.

Frauke lächelte ihn an.

»Laß sie! Sie sind gestern spät ins Bett gegangen. Außerdem macht die Bergluft müde. Bei dem einen wirkt sie früher, wie bei mir, bei den Kindern eben erst heute. Laß sie ausschlafen!«

»Sicher hast du recht, Frauke!«

Gunter trank seinen Kaffee aus.

»Übrigens, wie gefällt es dir hier auf der Berghütte, Frauke?«

Frauke Hennings warf Gunter einen flüchtigen Blick zu. Sie trank einen Schluck Kaffee.

»Gunter, ich will ehrlich zu dir sein!«

»Ich bitte darum! Mißverständnisse auf Grund von Vorspiegelung falscher Tatsachen, das habe ich im Leben genug erlebt. Ich wollte Helen schonen, sie mich. Am Schluß lebten wir in zwei verschiedenen Welten und es gab keine Brücke mehr dazwischen.«

»Willst du jetzt über Helen reden oder interessiert es dich, wie es mir hier gefällt?« zischte Frauke mit eifersüchtigem Unterton.

Gunter griff nach Fraukes Hand.

»So habe ich es nicht gemeint. Ich wollte dir doch nur zu verstehen geben, welch großen Wert ich auf Offenheit und Ehrlichkeit lege.«

Er lächelte Frauke an.

»Nun sag’ schon!«

Frauke Hennings seufzte.

»Gut! Dann will ich schonungslos offen und ehrlich sein! Gunter, die Berge sind nicht meine Welt. Damit sage ich dir nichts Neues. Das wußtest du schon. Ich bin mitgekommen, um dir eine Freude zu machen. Aber ich fühle mich hier völlig fehl am Platz. Ich kann den Bergen nichts Schönes abgewinnen.«

»Du bist erst kurz hier! Laß dir Zeit!«

Frauke Hennings schüttelte den Kopf.

»Gunter! So wichtig kann es für dich doch nicht sein oder? Müssen in einer Beziehung beide immer für das gleiche schwärmen? Ist das nicht langweilig? Ich respektiere deine Liebe zu den Bergen. Ich habe auch keine Einwände, wenn du alleine in die Berge fährst. Ganz im Gegenteil! Ich weiß, daß du dann glücklich bist! Aber ich bin es nicht und ich werde es mit Sicherheit nicht sein, niemals sein. Ich komme mir fehl am Platz vor! Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, Gunter. Ich will dich nicht verletzen. Aber mir gefällt es hier nicht.«

»Das ist schade, Frauke! Wie auch immer, damit muß ich wohl leben«, seufzte Gunter tief.

»Ja, Gunter, das mußt du!« Frauke lächelte Gunter an. »Machen wir das Beste aus der Situation. Du bist glücklich hier! Deine Kinder sind glücklich hier! Also werdet ihr hier einen wunderschönen Urlaub verbringen. Doch bitte – bitte – verschone mich davon. Ich will nicht wandern gehen! Ich könnte nur hier auf der Terrasse sitzen und mir die Berge anschauen.«

Frauke blickte in die Weite.

»Ich gebe zu, daß der Blick sehr eindrucksvoll ist. Er gibt mir nur bei weitem nicht das innere Gefühl, von dem du mir erzählt hast. Ich kann mich auch nicht mit den anderen Hüttengästen unterhalten. Alle reden nur vom Bergsteigen und Bergwandern. Das ist nicht meine Welt, Gunter.«

»Das ist sehr schade, Frauke!« sagte Gunter leise. »Was wollen wir also machen? Abreisen?«

Frauke Hennings schüttelte den Kopf.

»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht, Gunter. Ich will den Kindern den gemeinsamen Urlaub mit dir nicht verderben. Das wäre auch strategisch mehr als ungeschickt. Also…«

Frauke holte tief Luft.

»Ich reise ab!«

Gunter schaute Frauke mit großen Augen an.

»Willst du nicht wenigstens eine Woche versuchen?«

»Gunter! Was macht das für einen Unterschied? Ich bin hier nicht glücklich, auch wenn ich in deiner Nähe bin. Es ist einfach nicht meine Welt. Wenn ich mich noch eine Woche herumquäle, dann leide ich nur. Wenn ich nicht glücklich bin, dann bist du es sicherlich auch nicht. Den Kindern kann ich ohnehin nichts vormachen. Außerdem will ich es nicht. Ich will nicht in einen Wettbewerb mit ihrer Mutter treten. Das ist mir klargeworden. Das wäre sicherlich der falsche Weg – der falsche Weg für die Kinder und für mich. Ich wünsche mir, daß sie mich so akzeptieren, wie ich bin. Ich bin anders als ihre Mutter. Ich muß sie nicht kopieren. In der Verschiedenheit zwischen mir und Helen kann auch eine Chance für die Kinder liegen. Also, Gunter! Du bleibst mit den Gören hier! Ich fahre derweilen ans Meer. Ich habe eine Freundin an der Côte d’Azur. Ich schlage vor, daß ich heute noch fahre. Ich könnte dein Auto nehmen und hole euch am Ende des Urlaubs in Waldkogel ab.«

Frauke griff über den Tisch nach Gunters Hand. Sie setzte ihr zauberhaftestes Lächeln auf.

»Ja, wahrscheinlich ist es das Beste! Schade ist es trotzdem!«

Frauke atmete tief durch. Sie schaute Gunter in die Augen.

»Gunter, ich bin Frauke – nicht Helen! Du liebst mich doch, weil ich anders als Helen bin! Das hast du mir jedenfalls gesagt.«

»Ja, das habe ich! Wann willst du fahren?«

»Ich werde gleich packen! Es ist auch nicht nötig, daß du mich runter zur Oberländer Alm bringst. Ich habe nicht viel Gepäck. Die meisten Sachen in den Reisetaschen sind für die Berge. Die brauche ich am Meer nicht. Ich nehme nur ganz wenige Kleidungstücke mit und meinen Kosmetikkoffer. Meine Freundin wird mir schon etwas ausleihen oder ich kaufe mir ein paar neue Kleider.«

Frauke sah Gunter lächelnd an.

»Mache nicht so ein Gesicht, Gunter! Es ist das Beste. Meinst du nicht auch?«

Statt einer Antwort griff Gunter in seine Hosentasche und legte Frauke den Autoschlüssel hin.

Sie nickten sich zu. Frauke stand auf und ging in die Berghütte.

Gunter blieb sitzen und dachte nach. Frauke ist eine kluge Frau, sie weiß, wann sie nicht gewinnen kann und sucht nach einem anderen Weg. Ich sollte mich glücklich schätzen, Frauke zu haben.

Es dauerte nicht lange, dann kam Frauke mit Anna und Toni aus der Berghütte. Toni trug einen Rucksack und spannte Bello vor den kleinen Aluminiumwagen, den er extra für Bello hatte anfertigen lassen. Damit konnte Bello viele Lebensmittel und andere Sachen auf die Berghütte heraufziehen.

»So, wir haben gehört, daß die Frauke net bleiben will. Reisende soll man net aufhalten, Gunter. Ein bisserl schade ist es schon, daß ihr die Berge net gefallen tun. Aber des kommt vielleicht noch, wenn sie Abstand hat. Die Berge können schon einen gewaltigen Eindruck machen. Sie können so überwältigend sein, daß man sich als Mensch ganz winzig und unbedeutend vorkommt. Des muß so mancher erst mal verarbeiten. Des ist net einfach. Vielleicht freundet sich die Frauke später einmal mit den Bergen an, Gunter. Ich nehme sie mit runter auf die Oberländer Alm. Dann kannst hier bleiben. Ist dir des so recht?«

»Danke, Toni! Das ist lieb von dir!«

Frauke verabschiedete sich von Gunter. Sie küßten sich. Gunter spürte in Fraukes Kuß die Erleichterung, daß sie fort kam. Sie küßte ihn nicht so leidenschaftlich wie gewöhnlich, sondern eher flüchtig. Gunter tat, als bemerkte er es nicht. Er wünschte Frauke eine schöne Zeit. Dann ging sie mit Toni davon. Gunter schaute ihr nach.

Der alte Alois trat neben Gunter auf die Terrasse.

»Da geht des Madl hin! Des muß dich net bedrücken, Gunter. Außerdem hast du zu viel gewollt!«

Gunter drehte sich um und schaute den alten Alois mit großen Augen an.

»Wie meinst du das jetzt, Alois?«

Alois legte die Hand auf Gunters Schultern.

»Wolltest alles auf einmal haben, die Harmonie mit den Kindern und Fraukes Liebe zu den Bergen. Des ist ein bisserl viel, denke ich. Es wäre besser gewesen, erst mal alleine mit der Frauke in die Berge zu kommen.«

»Da wäre sie nicht mitgekommen, nicht einmal über das Wochenende. Nur unter dem Vorwand, daß ich den Kinder sagen will, daß ich und Frauke…« Gunter konnte es plötzlich nicht mehr aussprechen.

»Ich wollte den Kinder damit Gelegenheit geben, die Frauke näher kennenzulernen und Frauke ebenso den Kindern näherzukommen.«

»Des war eine gute Absicht! Aber es war dumm!«

»Dumm?«

»Ja, des war saudumm, Gunter, wenn ich des sagen darf. Des war eine große Dummheit, auch wenn eine gute Absicht dahintersteckte. Die Frauke ist net die Helen und sie wird auch nie so werden, net einmal im Ansatz.«

»Du magst die Frauke nicht leiden, Alois?«

»Wenn du so direkt fragst, dann sollst auch eine direkte Antwort erhalten. Ich kann nix Schlechtes über die Frauke sagen, Gunter. Dazu kenne ich sie zu wenig. Und des bisserl Eindruck, des ich von ihr bekommen hab’, des gefällt mir net, Bub! Gunter! Du bist ein Bursch’ der Berge. Die Frauke ist ein Püppchen, des net zu dir passen tut. Wenn du mit einer schönen Puppe spielen willst, dann mußt wissen, daß sie kein Kuschelbär ist und nie einer wird. Verstehst, was ich dir damit sagen will?«

Gunter schaute den alten Alois lange an. Er seufzte.

»Ja, ich verstehe.«

Gunter wandte sich ab. Er ging die Stufen der Terrasse hinunter und überquerte das Geröllfeld. Weiter oben setzte er sich an den Gebirgsbach und dachte nach.

Alois Worte hatten ihn tief getroffen. Doch die Wut auf Alois’ offenes Wort verrauchte bald. Die Wut wich einer Nachdenklichkeit, in die sich leise Zweifel einschlichen, ob Frauke wirklich die Frau ist, die zu ihm paßte. So vergingen die nächsten Stunden wieder mit gedanklichen Vergleichen zwischen Frauke und Helen.

*

Erst nachdem sich nach dem Mittagessen die meisten der Hüttengäste verzogen hatten, stand Gunter auf und ging die wenigen Schritten zur Berghütte zurück.

»Magst was essen, Gunter?« fragte Toni.

Gunter schüttelte den Kopf. Er schaute sich um.

»Hast du die Kinder gesehen? Die müssen doch inzwischen schon aufgestanden sein.«

Toni, der hinter dem Tresen in der Wirtstube stand, stellte den Bierhahn ab. Er setzte den halbgefüllten Bierkrug hart auf die Arbeitsplatte. Dann stürmte er zur Kammer von Polly und Patrick. Toni riß die Tür auf.

»Anna, die Zwillinge sind fort!« schrie er, so laut er konnte.

Anna, Basti und Franzi kamen sofort herbei. Der alte Alois beobachtete alles von seinem Schaukelstuhl aus, der am Kamin stand. Gunter lehnte sich an den Türrahmen. Er war weiß wie eine frisch gekalkte Wand.

»Toni, was hat das zu bedeuten?« flüsterte er fast tonlos.

Toni schlug die Bettdecken zurück. Es war deutlich zu sehen. Die beiden Betten waren unbenutzt. Toni schaute sich in der Kammer um.

»Die Rucksäcke sind fort, die Jacken sind net da! Die festen Schuhe haben die beiden an!«

Toni rieb sich das Kinn.

»Mei, des schaut net gut aus! Jetzt weiß ich auch, was mich den ganzen Morgen so unruhig gemacht hat. Irgend etwas habe ich gespürt, des wie so eine Bedrohung war.«

Toni setzte sich auf den Hocker am Tisch. Er schaute Sebastian und Franziska an. Ein Blick genügte ihm, um zu wissen, daß die beiden genauso überrascht waren.

»Ihr wißt nix, wie?«

»Naa, Toni! Die beiden haben nix gesagt, daß sie abhauen wollen!« sagte Sebastian.

»Ich hab’ schon mehrmals an die Tür geklopft, weil ich mit Polly spielen wollte, aber sie ist net gekommen«, sagte die kleine Franziska und drückte ihre Puppe an sich.

»Die werden wir schon finden!« betonte Toni.

Toni stand auf. Er legte den Arm um Gunter und führte ihn zu einem Stuhl am Kamin. Dort drückte er ihn auf den Sitz. Gunter war wie in Trance.

»Die Kinder sind fort! Die Kinder sind abgehauen! Die Kinder sind nicht da! Die Kinder sind verschwunden«, flüsterte er immer und immer wieder vor sich hin.

Wie eine Litanei wiederholte Gunter immer wieder diese Sätze. Toni holte Gläser und den guten klaren Obstler. Normalerweise schenkte Toni den nur ein, wenn es etwas zu feiern gab. Aber für Gunter machte er eine Ausnahme. Er schenkte Gunter gleich ein halbes Wasserglas davon ein.

»Trink!« befahl Toni.

Gunter nahm einige Schlucke.

»Trink!« wiederholte Toni.

Gunter gehorchte. Er trank aus. Der klare selbstgebrannte Obstler brannte in der Kehle und ergoß sich warm bis hinunter in den Magen. Langsam wich die bleiche Gesichtsfarbe aus Gunters Antlitz.

»Warum? Wo sind sie hin? Wann sind sie fort? Wieso habe ich nicht gleich nach ihnen gesehen?« fragte sich Gunter laut.

»Die Fragen kann ich dir net beantworten, Gunter! Jetzt müssen wir sie eben suchen.«

Toni setzte sich auf den Holzkorb beim Kamin. Er rief Sebastian und Franziska herbei.

»Setzt euch bitte! Ich muß mit euch reden!«

Die Bichler Kinder warfen sich Blicke zu.

»Net, daß ich glaub’, daß ihr lügen tut! Aber ich muß euch noch mal fragen? Wißt ihr, wo die beiden sind, oder wo sie sein könnten?«

Sebastian und Franziska schüttelten die Köpfe. Dann befragte Anna die beiden Kinder. Sie sollten ganz ausführlich erzählen, was sie gespielt hätten. Anna wollte auch wissen, über was die vier gesprochen hatten. Nach und nach, nicht geordnet, doch in Bruchstücken erfuhren Gunter, Anna, Toni und der alten Alois, daß Sebastian und Franziska mit Polly und Patrick über die Ereignisse nach dem Unfall gesprochen hatten, bei dem ihre Eltern gestorben waren.

»Wir haben ihnen gesagt, wieviel Angst wir vor dem Kinderheim hatten und daß wir dann weggelaufen sind und ihr uns dann oben beim ›Paradiesgarten‹ gefunden habt.«

»Die Zwillingen haben doch keinen Anlaß wegzulaufen!« warf Gunter ein.

Die kleine Franziska schüttelte heftig den Kopf.

»Des stimmt net! Die wollen net ins Internat! Weil des so ist wie im Kinderheim!«

Anna setzte sich und zog Franziska auf den Schoß.

»Liebste, Franzi! Was redest du da?«

»Doch, Anna, des stimmt! Des hat der Patrick erzählt.«

Gunter wurde wieder blaß.

»Was geht dem Buben nur im Kopf herum? Ich schwöre, ich hatte nie die Absicht, die beiden in ein Internat zu geben!«

Toni hielt Gunter die Flasche mit dem Obstler hin.

»Hier, nimm noch einen Schluck, aber nur einen kleinen. Es ist ein weiter Weg bis rauf zum ›Paradiesgarten‹! Anna richte den Proviant. Ich kümmere mich um die Sachen für das Biwak! Möglich, daß wir über Nacht oben biwakieren müssen. Es ist schon spät. Wir schaffen es nicht mehr rauf und heute noch zurück!«

Anna hielt Toni am Handgelenk fest.

»Laß die Kinder erst mal erzählen! Auf eine Minute kommt es jetzt nicht an!«

Anna strich der kleinen Franziska liebevoll über das Haar.

»So, Franzi! Jetzt tust du schön erzählen. Versuche dich genau zu erinnern. Wie war das?«

»Sie mögen die Frauke nicht! Wenn der Gunter die Frauke heiraten tut, dann tut die Frauke die Kinder ins Internat.«

»Das ist Unsinn!« schrie Gunter. »Wie kommen die darauf?«

Toni bat Gunter, sich zu beruhigen.

Dann erzählte Sebastian, daß er von Patrick wisse, daß andere Eltern von Mitschülern in Patricks und Pollys Schulklasse auch geschieden seien. Wenn ein Elternteil wieder geheiratet hatte, dann kamen die Kinder meistens in ein Internat.

»So ein Unsinn!« brüllte Gunter. »Wie kommt Patrick nur darauf? Davon war nie die Rede! Ich weiß, daß Patrick unglücklich war in den letzten Wochen. Vor einiger Zeit wollte er nicht mehr bei Helen wohnen. Er kam dann zu mir. Jetzt will er wie-

der zurück. Er vermißt wohl Polly sehr!«

»Und er hat Angst, daß er ins Internat muß, wenn du Frauke heiraten tust!« sagte die kleine Franziska mit Nachdruck.

Gunter war verzweifelt.

»Franzi, da irrt sich Patrick! Da irrt er sich gewaltig! Helen würde nie ihre Zustimmung geben, daß die Kinder ins Internat kämen. Das ist wirklich Unsinn! Wie kommt der Junge nur auf so etwas?«

Toni legte Gunter die Hand auf die Schulter.

»Versuche dich zu beruhigen, Gunter. Kinder reimen sich oft etwas zusammen. Jetzt müssen wir sie erst mal finden.«

Ein dunkles Geräusch hallte zwischen den Bergwänden.

»Mei, des hört sich nach dem Leo an! Den schickt uns der Himmel!« rief Toni freudig.

Toni lief hinaus auf die Terrasse der Berghütte. Alle folgten ihm. Sie hatten sich nicht geirrt. Der Hubschrauber der Bergwacht näherte sich der Berghütte.

»Ja, ja! Wenn die Not am größten, da ist Gottes Hilfe am nächsten!« murmelte der alte Alois.

Noch bevor die Rotorblätter stillstanden, rannte Toni gebückt zum Hubschrauber.

»Grüß Gott, Toni! Mei, hast du es aber eilig! Ist kein Bier mehr hier? Ich wollte dir ja schon Anfang der Woche die Fässer bringen. Aber wir hatten in dieser Woche extrem viele Rettungseinsätze. Die Leut’ werden immer leichtsinniger. Da war keine Zeit für einen Übungsflug unter der Ansage Schwertransport!«

Leo blinzelte Toni zu. Seit Toni und Anna die Berghütte übernommen hatten, flog ihnen Leo die vollen Bierfässer herauf und nahm die leeren Fässer mit. Das Ganze wurde in den Büchern der Bergwacht als Übungsflüge bezeichnet. Sicherlich waren Übungsflüge vorgeschrieben, aber damit war nicht der Transport von Bier auf eine Berghütte gemeint. Toni und Anna bedankten sich oft mit einem schönen Hüttenfest, zu dem sie alle Mitglieder der Bergwacht in Kirchwalden einluden.

»Grüß Gott, Leo! Dem Himmel sei Dank, daß du da bist! Es geht net ums Bier! Trotzdem danke! Komm, laß uns schnell ausladen, hier auf dem Geröllfeld. In den Schuppen bringe ich sie später. Ich wollte dich gerade anrufen, als ich dich hab’ anfliegen hören. Zwei kleine Hüttengäste, zwölf Jahre sind sie alt, Zwillinge, sind heute nacht oder heute morgen ganz früh abgehauen. Sie treiben sich alleine in den Bergen herum. Ich vermute, sie könnten rauf zum ›Paradiesgarten‹ sein. Laß uns schnell mal rauffliegen, vielleicht sehen wir etwas.«

»Toni, des hört sich net gut an!«

Während Toni mit Leo die vier großen Bierfässer aus dem Helikopter hob, erzählte Toni kurz was vorgefallen war. Dann stiegen sie ein. Leo verständigte über Funk die Zentrale der Bergwacht in Kirchwalden. Anschließend hoben sie ab.

Leo flog den Fußweg zum ›Paradiesgarten‹ in geringer Höhe entlang. Toni saß angeschnallt auf dem Sitz neben Leo. Er suchte zusätzlich das Gelände unter ihnen mit dem Fernglas ab.

»Da ist nix, Toni!« brüllte Leo wegen des Lärms in der Hubschrauberkanzel.

Er zeigte mit dem Daumen nach unten. Das bedeutete so viel wie, ich fliege zurück und lande. Toni nickte.

Augenblicke später setzte der Hubschrauber wieder auf dem Geröllfeld vor der Berghütte auf. Inzwischen hatte Gunter mit einigen anderen Hüttengästen und unter Anweisung von Anna und dem alten Alois die Bierfässer im Schuppen verstaut.

»Was ist? Habt ihr die Kinder gesehen?« rief Gunter aus tiefstem Herzen gegen den Wind, der sich langsam ausdrehenden Rotorblätter.

Toni schüttelte den Kopf. Dann stellte er Leo Gunter vor.

»Die Kinder können net im ›Paradiesgarten‹ sein. In den Bergen ist heute nacht Schnee gefallen. Der Weg war weiter oben verschneit. Da ist niemand gegangen. Da gab es keine Fußspuren. Die hätten wir gesehen! Also die Kinder können net rauf zum ›Paradiesgarten‹ sein. Wo könnten sie noch hin sein? Runter zur Oberländer Alm?« fragte Leo.

Seine sachliche Art, die Sache anzugehen, beruhigte Gunter etwas. Leo setzte sich mit allen an einen großen Tisch in der Berghütte. Anna brachte Kaffee und Kuchen. Leo stellte Gunter viele Fragen. Danach befragte er ausführlich die Bichler Kinder. Langsam rundete sich das Bild für Leo ab.

»Die Kinder sind net zum ersten Mal in den Bergen! Ich glaube nicht, daß sie leichtsinnig sind. Trotzdem werde ich eine Suchaktion einleiten. Vielleicht sind sie rauf zum Sattel, dort wo der ›Pilgerweg‹ auf der anderen Seite hinunterführt. Ich werde gleich noch einmal mit dem Hubschrauber aufsteigen. Finde ich sie, lande ich wieder. Sehe ich sie nicht, drehe ich ab nach Kirchwalden. Dann stelle ich dort eine Suchaktion zusammen. Du kannst hier nix machen, Gunter! Bleib hier! Am besten nimmst du dir ein Stück Papier und schreibst alles auf, was ihr gemacht habt, was ihr geredet habt, seit ihr von daheim aufgebrochen seid. Wenn man etwas aufschreiben tut, dann fallen einem oft noch Details ein, die man beim Reden vergißt. Des ist eine Erfahrung.«

Dann wandte sich Leonhard Gasser, an die Bichler-Kinder.

»Das gilt auch für euch! Jeder geht jetzt in sein Zimmer und schreibt alleine alles auf.«

Sebastian und Franziska rannten davon.

Toni begleitete Leo zum Hubschrauber.

»Wenn die Kinder und Gunter mit den Berichten fertig sind, dann gehe sie durch, Toni. Vielleicht stehen noch Sachen drin, die sie noch net erzählt haben. Dann laß es mich sofort wissen!«

Toni versprach es. Er ging zur Berghütte zurück. Von dort aus sah er dann Leo nach, wie er mit dem Hubschrauber über den Bergen kreiste.

So ging das eine ganze Weile. Dann drehte Leo ab und flog in Richtung Kirchwalden.

»Ich habe Frauke eine SMS geschickt«, sagte Gunter nachdenklich. »Sie hat nicht geantwortet.«

Toni schaute Gunter an.

»Sie wird schon noch! Vielleicht kann sie unterwegs auf der Autobahn nicht anhalten.«

Es war für Gunter nur ein schwacher Trost.

»Wie steht es mit Helen? Hast du sie schon informiert?«

»Nein! Ich hoffte, es würde nicht nötig sein! Ich hoffte, Leo würde die Kinder entdecken. Jetzt muß ich sie wohl anrufen. Sie wird sehr erschrecken. Ich weiß nicht, wie ich ihr das sagen soll.«

Toni nahm Gunter sein Handy aus der Hand.

»Nummer gespeichert?« fragte Toni knapp.

Gunter nannte ihm die Ziffer, hinter der die Nummer von Helens Handy gespeichert war.

Toni wählte. Helen meldete sich sofort. Sie freute sich zunächst, Tonis Stimme zu hören. Doch dann stocke ihr der Atem, als ihr Toni sagte, was passiert war. Das Gespräch war nicht lang. Es wurde von Helen abgebrochen.

»Was ist?« fragte Gunter.

»Helen ist natürlich sehr beunruhigt! Sie will sofort kommen! Sie

will versuchen noch heute zu kommen!«

»Das war alles? Keine Vorwürfe? Keine Schimpftiraden?«

»Naa! Sie war erschrocken. Besorgt! Beunruhigt! Aber dann ganz sachlich! Sie sagte nur, daß ich dir sagen soll, sie komme so schnell wie es ginge, wenn möglich sogar noch heute.«

Gunter schaute auf die Uhr.

»Fraglich, ob sie das schafft.«

»Wenn die Helen sagt, daß sie kommt, dann kommt sie! Die Helen ist die Helen und net die Frauke!« bemerkte der alte Alois hart.

Alle sahen sich an.

»Ich komme mir so hilflos vor! Was soll ich nur tun?«

»Des hat der Leo dir doch gesagt! Du hast uns erzählt, daß du gestern mit den beiden beim ›Erkerchen‹ ein langes Gespräch hattest. Nimm dir Papier und einen Stift und lauf rüber zum ›Erkerchen‹. Setz dich dort hin und schreibe alles auf. Vielleicht fällt dir dort mehr ein als hier. Wenn es etwas Neues gibt, dann rufe ich dich an!«

Toni legte Gunter die Hand auf die Schulter.

Nach einigem Nachdenken stimmte Gunter zu.

*

Nach Tonis Anruf war Helen erst mal für einige Sekunden wie gelähmt. Erst als sie aufgelegt hatte, wurde ihr die ganze Tragweite des Anrufs bewußt. Sie faßte sich aber schnell wieder. Binnen Minuten hatte sie alles geregelt.

Zuerst packte sie schnell ihren Rucksack und zog ihre Wandersachen an. Dann rief sie auf dem Flughafen an und buchte ein kleines zweimotoriges Flugzeug, das sie direkt nach Kirchwalden flog. Den Leihwagen in Kirchwalden bestellte sie über das Internet. Er sollte zum Flughafen gebracht werden. Anschließend sagte sie alle Termine mit ihren Bauherrn ab.

Nach einer halben Stunde saß Helen bereits im Flugzeug und die Maschine hob ab. Es war klares Wetter. Sie hatten Rückenwind. So kamen sie noch schneller voran. Nach drei Stunden erreichten sie Kirchwalden. Von dort aus ging es sofort mit dem Auto weiter nach Waldkogel.

Helen schlug nicht den Milchpfad ein, der sie direkt hinauf zur Oberländer Alm bringen würde. Die Sonne stand tief. Den Fußweg hinauf bis zur Berghütte würde sie nicht mehr schaffen, so lange es hell war. Doch Helen hatte eine andere Idee. Sie kannte alle Wege um Waldkogel wie ihre Westentasche.

Mit hoher Geschwindigkeit brauste Helen über den Waldweg im Wildbachtal Richtung Forsthaus. Das Schild mit der Aufschrift »Privatweg – Durchfahrt verboten« übersah sie einfach. Was kümmerten sie jetzt Verkehrschilder? Es ging um ihre Kinder!

Laut hupend stoppte Helen das Auto vor dem Forsthaus mit einer Vollbremsung!

Förster Lorenz Hofer kam mit seiner ganzen Familie aus dem Forsthaus gelaufen.

»Grüß dich, Hofer! Kennst mich noch? Ich bin’s, die Helen Volkmann!

»Mei, die Helen! Des ist eine Überraschung! Da will ich mal ein Auge zudrücken! Du weißt, daß der Weg nur für Forstfahrzeuge freigegeben ist?«

Sie schüttelten sich die Hände. Helen begrüßte schnell Lydia Hofer und die Kinder Paul und Ulla.

»Lorenz, du mußt mir helfen! Die Kinder sind mit Gunter und seiner neuen Flamme auf die Berghütte. Sie wollten dort zwei Wochen Urlaub machen. Jetzt hat mich der Toni angerufen, die Kinder sind fortgelaufen.«

»Ich weiß, der Leo von der Bergwacht hat mich schon verständigt. Wir brechen morgen früh mit einem Suchtrupp auf, sobald es hell wird. Weißt des schon? Willst sicher mitkommen?«

»Nein, das weiß ich nicht! Mitkommen will ich nicht! Ich will rauf zur Berghütte, noch heute. Ich bin mit dem Flugzeug nach Kirchwalden gekommen. Aber mit diesem Leihwagen komme ich nur bis zur Oberländer Alm. Der Bergpfad bei völliger Dunkelheit ist mir etwas zu gefährlich – alleine. Wenn du mich mit einem Forstfahrzeug den Pilgerpfad rauffahren könntest. Dann würde ich den Querweg nehmen am ›Erkerchen‹ vorbei – rüber zur Berghütte, verstehst?«

Lorenz Huber rieb sich das Kinn.

»Mei, Lorenz, was mußt du da noch lange überlegen?« stieß ihn seine Frau an.

»Gut, dann stelle dein Auto dahinten hin. Hier mitten auf dem Weg kannst es net stehen lassen!«

Helen parkte ihren Leihwagen und gab Lydia den Schlüssel und ihre Handynummer. Dann stieg sie auf den schmalen Traktor der Försterei. Lorenz fuhr sofort ab. Er wählte den kürzesten Weg bis zum Pilgerpfad durch eine junge Schonung und über die Wiesen. Dann ging es im Abendlicht hinauf.

Helen sprach während der ganze Zeit kein Wort. Sie dachte an ihre Kinder. Sie machte sich große Sorgen. Wie konnte das nur geschehen? Was war passiert, daß Polly und Patrick so etwas machten? Sie waren doch sonst so vernünftig.

Die Sonne stand jetzt als großer goldener Ball über den Bergen im Westen und berührte mit ihrem unteren Rand die Bergspitzen. Ihre Strahlen färbten die Felsen rot und der Schnee lag wie bunte Zuckerwatte überall an den Hängen.

Helen hob den Kopf und schaute hinauf. Ihr Blick blieb an dem Gipfelkreuz des ›Engelsteigs‹ hängen.

Ja, ich bin hier auf dem ›Pilgerpfad‹. Seit Tausenden von Jahren sind Menschen zu Fuß, auf Eseln, auf Reittieren, teilweise sogar auf den Knien dem Weg gefolgt. Alle hatten Kummer im Herzen. Alle richteten ihren Blick hinauf auf die Spitze des ›Engelsteigs‹. Sie glaubten daran, daß die Engel von dort oben ihre Gebete, Wünsche und Sehnsüchte hinauf in den Himmel trugen. Schaden kann es nichts, wenn ich es auch probiere, dachte Helen, die sich als sachliche moderne Frau sah.

So versuchte sie unbeholfen, all das in Sätze zu fassen, was sie bewegte und schickte es mit flehentlichen Blicken und wundem Herzen hinauf zu den Engeln auf den ›Engelssteig‹.

»Helen, du schaust hinauf zum Gipfel des ›Engelssteig‹. Des ist gut. Die Engel um Hilfe zu bitten, des hat schon immer geholfen. Heute ist ein besonders schöner Abend, da sind die Engel bestimmt dabei, direkt in den Himmel aufzusteigen.«

»Klingt, als würdest du fest daran glauben, Lorenz?«

»Ja, des schadet auch nix! Schau, drüben des ›Höllentor‹, da hängt eine schwarze Wolke über dem Gipfel. Der Satan lüftet seine Hölle, sagt man hier in Waldkogel, wenn direkt über dem Gipfel so eine Wolke hängt.«

»Sieht wirklich bedrohlich aus, Lorenz!« sagte Helen leise und ängstlich.

Sie dachte an das, was sich die Waldkogeler seit alters her über den Berg erzählten. Seinen Namen ›Höllentor‹ hatte er der Sage nach davon, daß es dort ein Tor zu Hölle gäbe. Wenn der Teufel durch dieses Tor schaute, dann geschah ein Unglück. Und war jetzt nicht ein Unglück geschehen? Ihre Kinder irrten irgendwo in den Bergen umher. Oder lagen sie schon verletzt am Fuße eines Abhangs?

Helen seufzte.

»Wir sind da!« riß sie Lorenz aus ihren Gedanken. »Hast eine Stablampe? Es wird bald ganz dunkel sein.«

»Danke, Lorenz! Vielen Dank! Ja, ich habe eine Stablampe dabei!«

Helen stieg aus. Sie gab Lorenz die Hand.

»Des wird schon! Schau, wie schön des Gipfelkreuz im Abendlicht leuchtet. Des sehen deine Kinder auch. Des wird sie heimfinden lassen! Da bin ich mir ganz sicher. Die haben Schutzengel! Alle Kinder haben Schutzengel!«

Helen lächelte zaghaft. Sie schulterte ihren Rucksack und ging weiter. Rechts des Pilgerwegs bog der schmale Pfad ab, der am ›Erkerchen‹ vorbei zur Berghütte führte. In einer halben Stunde bis einer Dreiviertelstunde bin ich dort, wenn ich mich beeile. Helen beschleunigte ihren Schritt.

*

Dr. Gunter Volkmann war zum ›Erkerchen‹ gewandert. Statt sich Notizen zu machen, ein Gedächtnisprotokoll aufzuschreiben, wie ihn Leo gebeten hatte, saß er unruhig auf der Bank. Er hielt sein Handy in den Händen und starrte auf das Display. Inzwischen hatte Gunter unzählige SMS an Frauke Hennings geschickt. Sie hatte aber nicht geantwortet.

Kann sie nicht antworten?

Will sie nicht antworten?

Fragen über Fragen huschten Gunter durch den Kopf. Er wußte, daß sich Frauke keinen Meter ohne ihr Handy bewegte.

Warum antwortet sie nicht?

Gunter versuchte sich damit zu trösten, daß Frauke ihr Handy vielleicht im Kofferraum hatte und es nicht hörte. Gleichzeitig hielt er es für sehr unwahrscheinlich. Ganz langsam schlich sich der Verdacht in sein Herz, daß Frauke nicht antworten wollte.

Sie will frei sein?

Sie will einen schönen Urlaub fernab der Berge erleben?

Sie will mit den Kindern nichts zu tun haben?

Sie sagt sich, es geht sie nichts an!

Sie sagt sich, es sind Gunters Kinder!

Sicherlich sind es meine Kinder. Sie gehören zu mir, immer werden sie zu mir gehören. Wenn ich Frauke heirate, dann wird sie damit leben müssen, daß die Kinder ein Teil meines Lebens sind und immer bleiben werden.

In Gunter wuchs das Gefühl der Verlassenheit. Er fühlte sich einsam. Er sehnte sich nach jemanden, der ihn tröstete, ihm Mut machte, die ungewissen Stunden mit ihm durchlebte, durchwachte, durchlitt.

Gunter dachte an das Eheversprechen, daß er und Helen sich einmal gegeben hatten…

…in guten wie in schlechten Tagen…

Frauke will nur gute Tage. Bei schlechten Tagen taucht sie ab. Das war Gunter plötzlich klar. Er dachte nach.

Plötzlich erinnerte er sich oder er sah an Frauke Verhaltensweisen, die er bisher übersehen hatte. Oder hatte er sie verdrängt? Einfach nicht wahrgenommen?

Ja, Gunter mußte es sich eingestehen. Frauke war sehr eitel, egoistisch, egozentrisch, oberflächlich, unreif und vieles mehr. Sie war nicht warmherzig, mitfühlend, einfühlsam, geduldig, hilfsbereit und gütig. Das alles war Helen. Und sie war noch viel mehr. Helen war darüber hinaus tüchtig, mutig und strebsam, ohne von Ehrgeiz besessen zu sein. Helen war eine gute Zuhörerin. Sie war Kumpel, Geliebte, Freundin und Frau gewesen. Helen hatte viele Rollen ausgefüllt.

In diesem Augenblick sehnte sich Gunter sehr nach Helen. Oh, wäre sie doch schon hier, dachte er. Sie versteht mich. Sie weiß, was zu tun ist. Helen wußte immer, was zu tun war.

Gunter schaltete sein Handy aus. Es war ihm plötzlich klargeworden, daß er vergeblich auf einen Anruf oder eine Nachricht von Frauke wartete. Sie mußte seine Nachrichten gelesen haben. Sie meldete sich nicht, weil sie sich nicht melden wollte. Sie wollte damit nichts zu tun haben. Es waren nicht ihre Kinder.

Gunter steckte das Handy ein. Er lehnte sich auf der Bank zurück und schloß die Augen. Sein Herz war so voller Sehnsucht nach Helen. Feuchtigkeit sammelte sich unter seinen Wimpern und lief bald als Tränen seine Wangen herunter. Gunter wischte die Tränen mit seinem Handrücken ab. Dann beugte er sich nach vorne über und barg sein Gesicht in den Händen. Sein Herz klopfte. Er spürte jeden Schlag. Es rief nach Helen, der einzigen große Liebe seines Lebens. Gunter spürte, daß es da immer noch eine Verbindung gab. Es waren nicht nur die Kinder, die ihn mit Helen verbanden.

Warum haben wir uns nur getrennt?

Warum ist das alles geschehen?

Warum? Warum?

Plötzlich war Gunter klar, daß er das alles nicht gewollt hatte. Wie war das damals gewesen, versuchte er sich zu erinnern.

Gunter hatte nie darüber nachgedacht. Alle Probleme, Fragestellungen, die das Leben, auch das alltägliche Leben von Helen und den Kinder betrafen, waren verdrängt worden, zugeschüttet unter grenzenlosem Ehrgeiz, maßloser Geldgier, ziellosem Expansionsdrang. Dabei waren nicht nur Helen und die Kinder auf der Strecke geblieben, sondern auch er selbst. Das wurde Gunter in diesem Augenblick mitten in den Bergen über Waldkogel bewußt.

Ja, er saß auf der Bank beim ›Erkerchen‹. Hier an diesem magischen, ja fast heiligen Ort ihrer Liebe traf ihn die Erkenntnis wie ein Fausthieb ins Gesicht.

Ich habe mein Glück, unsere Liebe mit Füßen getreten. Ich habe alles, was ich liebte, unter Tonnen von Stahlbeton begraben. Ich habe Trennwände aus Panzerglas errichtet, nicht nur in den Gebäuden, die ich gebaut habe, sondern auch in meinem Herzen. Ich wollte der Größte sein, der Beste, der Erfolgreichste, die Nummer Eins.

Gunter seufzte tief und schneuzte in sein Taschentuch. Es war, als schmelze der Gletscher in seinem Herzen. Ich war ein Narr! Helen hat mir so oft die Hand gereicht. Sie hat mich ermahnt, mir mehr Zeit für mich zu nehmen, für die Kinder, für sie. Die Botschaft war nicht angekommen, damals. Sie erreichte weder mein Ohr, noch mein Herz, dachte Gunter.

Er holte ein Bonbon aus seiner Jackentasche und packte es aus. Während er es langsam lutschte, versuchte er aus dem kleinen Einwickelpapier ein winziges Schiff zu formen. Auch bei dieser Tätigkeit dachte er an Helen. Sie war diejenige, die aus jedem Stückchen Papier Figuren falten konnte für Polly und Patrick.

Endlich nach vielen Versuchen gelang es Gunter zwei winzige Schiffe zu falten. Er hob etwas losen, trockenen Sand auf und ließ ihn auf die Holzbretter der Bank rieseln. Mit seinem Fingernagel formte er Wellen. Dann setzte er die beiden Schiffchen darauf.

Helen hat es so gemacht, dachte er.

Gunter schaute sich um. Unweit der Sitzbank lag ein kleiner Zweig auf dem Boden. Er hob ihn auf und brach ein Stückchen davon ab. Damit schob er die beiden Schiffchen hin und her und ließ sie so fahren. Dabei dachte er unentwegt an Helen und die Kinder. Stundenlang hatte Helen so mit den beiden gespielt. Dabei erzählte sie ihnen Geschichten von abenteuerlichen Fahrten über das Meer, von Piraten und Walfischen, von Delphinen und Fischern.

In Gunters Herz lebten diese Geschichten neu auf. Er erinnerte sich an immer mehr Details. Damals hörte ich nur mit einem Ohr zu. In Gedanken war ich damals nie dabei. Ich habe mich nie wirklich auf das Spiel eingelassen, nie Anteil genommen. Immer war ich mit meinen Gedanken bei meinen Zeichnungen und Baustellen. Es wäre nichts geschehen, wenn ich weniger daran und mehr an die Kinder und Helen gedacht hätte. Sicherlich wollte ich auch für die drei viel erreichen. Doch um welchen Preis? In gleichem Maße wie unser Bankkonto nach oben schnellte, verfiel der Aktienkurs unserer Liebe und unsere Familie brach in Stücke.

Die Einsamkeit nach der Scheidung habe ich mit weiterer Arbeit gefüllt. Ich wurde zum Tag- und Nacht, Sonn- und Feiertagsarbeiter. Gunter war ehrlich zu sich selbst. So ehrlich, wie er es nie vorher war. Er dachte an Frauke.

Wie war das?

Wie kam das mit Frauke?

Was ist das eigentlich für eine Beziehung?

Gunter taten sich immer mehr Fragen auf.

Eigentlich wollte er Aufzeichnungen über die Reise machen, aber die Unruhe in seinem Innern trieb ihn an, sich diesen Fragen zu stellen.

Die Sonne war über den Bergen nur noch halb zu sehen. Gunter schaute in die Weite. Voller Sehnsucht dachte er an Helen. Mit ihr würde er so gerne diesen Anblick der majestätischen Schönheit der Berge teilen. Ein warmes Gefühl der Erinnerung stieg in seinem Herzen auf. Voller Wehmut erinnerte er sich an gemeinsame Augenblicke, hier auf der Bank, im Abendrot und später unter dem Sternenhimmel. Ihnen erschien es damals, als sei das ganze Universum ausgefüllt mit Liebe und er und Helen seien der Mittelpunkt.

*

Toni suchte Sebastian und Franziska auf. Die beiden hatten sich ins Wohnzimmer der Berghütte gesetzt.

»Nun, wie weit seid ihr? Was habt ihr alles aufgeschrieben?«

Sebastian und Franziska gaben Toni ihre Zettel.

Toni überflog sie kurz. Dann setzte er sich zu ihnen auf das Sofa.

»Basti, du hast aufgeschrieben, ihr hättet über Höhlen geredet.«

»Ja, den Patrick hat’s interessiert. Ich hab’ ihm auch erzählt, daß es viele Höhlen rund um Waldkogel gibt. Die meisten sind aber gesperrt. Doch das könnte sich ändern, wenn es den neuen Höhlenwanderweg gibt. Davon reden doch jetzt alle, Toni!«

»So, so! Was glaubst, Basti? Könnte es sein, daß die Zwillinge sich in einer Höhle verstecken?«

Sebastian zuckte mit den Schultern.

»Des weiß ich net. Dem Patrick gefallen Höhlen gut. Die Polly, die mag Höhlen nicht so. Einmal, das muß aber schon lange her sein, da müssen Polly und Patrick noch klein gewesen sein. Da waren sie mit ihren Eltern hier wandern. Des ist gewesen, bevor sie geschieden wurden. Auf der Wanderung wurden sie von einem Unwetter überrascht. Es muß ein kolossaler Wettersturz gewesen sein. Bis zur nächsten Schutzhütte haben sie es nicht mehr geschafft. Aber sie fanden eine Höhle, in der sie Schutz fanden. Polly fand das eklig, weil es so viele Spinnen gab. Aber Patrick hat es gefallen. Sein Vater hat sogar ein Feuer gemacht.«

Toni lauschte aufmerksam Sebastians Erzählung. Er rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Konnten sich Patrick und Polly noch erinnern, wo diese Höhle war?«

»Naa, nimmer genau!«

»Es gibt oben am Sattel, da wo der ›Pilgerpfad‹ auf der anderen Bergseite hinunterführt einige Höhlen und Felsüberhänge.«

»Den ›Pilgerpfad‹ rauf und zum Sattel, da wollten sie doch hin, gleich am zweiten Tag, als sie auf der Berghütte waren. Doch dann sind sie nur bis zum ›Erkerchen‹ gegangen.«

»Richtig, Basti! Die Zwillinge sind zurückgekommen und Gunter war alleine wandern«, sagte Toni nachdenklich.

»Meinst, die sind dort, Toni?« fragte Basti.

»Mit Bestimmtheit kann das niemand sagen. Aber möglich wäre es schon. Außerdem könnte das die Erklärung sein, daß sie der Leo vom Hubschrauber aus nicht gesehen hat. Sie haben sich versteckt.«

Toni stand auf und ging zu Anna in die Küche. Die Kinder folgten ihm.

»Anna, sag! Vermißt du etwas aus der Speisekammer?«

Anna schmunzelte.

»Unsere Vorratskammer ist prall gefüllt. Wenn sich die Zwillinge dort eingedeckt haben, ist das schwerlich festzustellen. Aber ich glaube, daß sie schon etwas haben mitgehen lassen: Schokolade, Kekse!«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich habe in Bellos Körbchen Krümel gefunden. Sie müssen ihn damit bestochen haben. Bello hätte sonst gebellt. Aber du weißt ja, was er für ein Schleckermaul ist. Er weiß, daß er nicht in die Vorratskammer darf.«

»Anna, das ist so gut möglich!«

»Haben sich Sebastian und Franziska an noch etwas erinnert?«

Toni reichte Anna die Zettel der Kinder. Er erzählte ihr, was ihm die beiden noch erzählt hätten.

Anna schaute Toni an.

»So abwegig ist diese Möglichkeit nicht! Die beiden sind ziemlich schlau. Sie dachten sich, daß zuerst in den Schutzhütten gesucht würde. Wer käme denn schon auf die Idee, die Höhlen abzusuchen?«

»Dann werde ich gleich mal Gunter anrufen und ihm davon berichten.«

»Laß das, Toni! Gunter ist im Stande, alleine in der Dunkelheit hinauf zum Sattel zu gehen. Er hat keine Wanderausrüstung dabei, keinen Proviant. Am Ende geschieht noch ein größeres Unglück! Es ist gleich dunkel. Gunter wird bald kommen. Dann redest du mit ihm. Ich stelle inzwischen Proviant zusammen. Du sorgst für Isomatten, Biwaksäcke und Lampen. Dann zieht ihr zusammen los. Bello kannst du mitnehmen. Wenn er die Kinder auch nicht suchen kann, denn ein ausgebildeter Spürhund ist er nicht. Aber seine Nase führt ihn mit Sicherheit dem Geruch von Schokolade und Kekse nach.«

»Ich könnte Dr. Martin Engler anrufen! Seine Mira ist eine gute Spürhündin.«

»Das stimmt! Ich würde auf jeden Fall Leo anrufen. Auch solltest du Fellbacher informieren. Er wollte doch ohnehin alle Höhlen kontrollieren und sichern lassen.«

»Ja, die beiden rufe ich sofort an. Dann richte ich die Sachen. Du wirst viel Arbeit haben, Anna, wenn du hier alleine auf der Berghütte bist. Es wird bestimmt später Vormittag

werden, bis ich mit Gunter zurück bin.«

»Das schaffe ich schon, Toni. Außerdem ist noch Alois da! Er wird die Arbeit hinter dem Tresen übernehmen. Mach dir bitte darüber keine Gedanken. Sebastian und Franziska packen auch mit an.«

Toni telefonierte mit dem Bürgermeister Fritz Fellbacher. Dieser war von Leo schon informiert worden, daß zwei Kinder gesucht wurden. Er bot sofort an, am nächsten Tag die Höhlen absuchen zu lassen. Es könnte ja auch gut sein, daß die beiden sich in einer anderen Höhle versteckt hatten. Danach telefonierte Toni mit seinem Freund Leo.

Anschließend richtete Toni die Biwakausrüstung und verstaute alles in zwei großen Rucksäcken.

»Jetzt muß Gunter bald kommen!« sagte Toni und schaute auf die Uhr. »Die Sonne ist bereits untergegangen. Vielleicht soll ich ihn doch anrufen? Ich habe es ihm versprochen!«

Doch Anna riet Toni noch eine kleine Weile damit zu warten, sicherlich würde Gunter bald kommen.

*

Helen kam am ›Erkerchen‹ vorbei. Sie war in Gedanken und achtete nicht darauf, wer da saß. Außerdem war es schon ziemlich dunkel. Im Vorbeigehen warf sie aus Höflichkeit und weil es unter Bergkameraden üblich war, einen Gruß dem Mann zu.

Gunter erkannte die Stimme sofort. Er sprang auf.

»Helen! Helen, bist du es wirklich?«

Helen blieb wie angewurzelt stehen.

»Gunter? Du hier? Ich dachte, ich treffe dich auf der Berghütte.«

Sie gingen aufeinander zu. Gunter schloß Helen fest in die Arme.

Sie fühlte, wie er leicht zitterte.

»Gunter! Gunter, du bist ja völlig fertig! Du zitterst ja!«

»Die Kinder… die Kinder…«, stammelte Gunter. »Ich mache mir solche Vorwürfe! Aber es gab kein Anzeichen, daß sie eine solche Dummheit machen würden. Helen, bitte glaube mir! Die Bergwacht ist schon verständigt. Sie werden morgen eine große Suchaktion starten.«

Helen hielt Gunters Hand fest. Der sonst so starke Gunter war nur noch ein Häufchen Elend. Sie führte ihn zur Bank. Sie setzten sich. Helen streifte ihren Rucksack ab. In einer Thermoskanne hatte sie noch einen Rest Kaffee. Er war noch ziemlich heiß. Gemeinsam tranken sie aus einem Becher.

Währenddessen erzählte Gunter:

»Helen, bitte glaube mir! Ich dachte, die Kinder schlafen länger!«

»Du meinst, Frauke hat nichts damit zu tun?«

»Nein, Helen! Frauke gibt sich nicht mit den Kindern ab. Sie ist nicht der mütterliche Typ. Außerdem will sie nicht mit dir in einen Wettbewerb treten.«

»So? Hat sie das gesagt?«

Gunter trank einen Schluck Kaffee und nickte.

»Nun, das wundert mich nicht. Frauke wußte schon immer, wo und wie sich ein Einsatz lohnt«, bemerkte Helen leise.

Plötzlich starrte Gunter Helen an.

»Hältst du es für möglich, daß Frauke wußte… Ich meine, daß sie wußte, daß die Kinder weggelaufen sind?«

»Wie kommst du darauf, Gunter?«

»Nun, wir redeten beim Frühstück darüber! Ich wunderte mich, daß sie noch schlafen. Sie war der Meinung, ich sollte sie nicht wecken. Vielleicht wußte sie es? Das wäre… Vielleicht wollte sie deshalb so schnell fort… Sie wollte auch nicht, daß ich mit zur Oberländer Alm gehe… Helen, was meinst du?«

Helen seufzte.

»Was soll ich dazu sagen, Gunter? Du kennst sie besser als ich! Es ist deine Angelegenheit. Ich bin wegen der Kinder hier! Ich will die Kinder finden. Sonst nichts! Rede also bitte mit mir nicht über Frauke. Frauke ist dein Problem! Nicht das meine!«

»Entschuldige, Helen! Es war taktlos von mir, dich zu fragen.«

»Schon gut! Ich weiß ja, daß du oft erst etwas sagst und dann dein Hirn einschaltest. Jedenfalls im privaten Bereich ist es so mit dir. Hinterher tat es dir dann immer leid. Aber irgendwann war ich es auch leid, es zu ertragen.«

»Ich war wohl ein schrecklicher Mann, wie?«

Helen spürte ihr Herz klopfen. Soll ich ihm antworten? Soll ich es ihm sagen? Ja, entschied sie sich.

»Du bist ein schrecklicher Mensch, Mann und Vater gewesen, Gunter!« Helen lächelte. »Aber auch schrecklich lieb!«

Gunters Herz setzte vor Freude aus. Er griff sich an die Brust.

»Wir waren auch einmal sehr glücklich, Helen!«

»Oh, ja das waren wir, Gunter. Und jetzt stehen wir vor den Scherben unseres Glücks. Wir sind geschieden! Haben Zwillinge, die mit dem Leben nicht zurechtkommen und davonlaufen.«

»Alles meine Schuld!«

»Reden wir nicht von Schuld, Gunter! Vielleicht waren wir nur zu jung? Zu unreif? Haben das Falsche vom Leben erwartet!«

Gunter griff nach Helens Hand.

»Du bist wunderbar gewesen! Du bist eine wunderbare Frau und Mutter gewesen. Das Letztere bist du immer noch. Ich habe versagt. Erfolg im Beruf ist eben etwas anderes als Erfolg in der Familie. Erfolg in der Familie, wie das klingt? Schlimm, wie? Aber mir fällt kein Wort dazu ein. Weißt du es?«

»Wie wäre es mit dem Wort Harmonie?«

»Ja, das ist es! Harmonie in der Familie und stilles Glück, das klingt so wunderbar. Oh, Helen! Was machen wir jetzt?«

»Wir suchen die Kinder! Komm, laßt uns erst einmal zur Berghütte gehen! Vielleicht ist Toni noch etwas eingefallen.«

»Du bist gar nicht so besorgt, Helen? Wie kommt es, daß du so ruhig bist?«

Helen lachte leise.

»Erstens, mein lieber Gunter, bin ich nicht so ruhig, wie ich wirke. Nur ich hatte auf dem Weg hierher Zeit zum Nachdenken!«

»Wie bist du eigentlich so schnell… Wie hast du das geschafft?«

»Ich habe ein Flugzeug gemietet bis Kirchwalden und dann einen Leihwagen. Anschließend hat mich der Hofer Lorenz, weißt der Förster, mit dem kleinen Trecker den ›Pilgerpfad‹ heraufgefahren.«

»Der Weg über das ›Erkerchen‹ vom ›Pilgerpfad‹ aus ist kürzer und auch in der Dunkelheit leichter zu bewältigen als der Aufstieg von der Oberländer Alm herauf.«

»Richtig, Gunter! Das dachte ich auch! Außerdem, was nützt es, wenn ich mich so sorge, daß ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Es ist jetzt Nacht! Eine wunderbare sternenklare Nacht. Heute nacht können wir die Kinder nicht mehr suchen. Außerdem sind Polly und Patrick doch sehr vernünftig. Ich denke einfach, Frauke nervt sie – um es mit den Worten der Kinder zu sagen. Ich denke nicht, daß sie etwas Unvernünftiges tun. Es wird ganz schön kalt in den Bergen. Wahrscheinlich werden sie tüchtig frieren und kommen morgen früh ganz von selbst wieder an. Sie werden langsam erwachsen. Da testen sie aus, wie es ist, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Du vergißt, daß sie sehr selb-ständig sind. Du kümmerst dich recht wenig um Patrick, seit er bei dir ist. Und ich war vorher eine alleinerziehende Mutter mit Zwillingen, die Geld verdienen mußte. Da konnte ich sie bestimmt nicht so betüddeln, wie es vielleicht andere Mütter tun. Seit nur noch Polly ständig bei mir ist, ist das auch nicht anders. Außerdem kommt Patrick schon seit Wochen jeden Mittag nach der Schule mit Polly zu mir. Ich vermute, das wußtest du nicht?«

»Nein! Nein, wirklich nicht! Er hat mir kein Wort davon gesagt!«

»Vielleicht hat er es dir gesagt, Gunter! Aber du hast es nicht gehört. Das war auch meine Schwierigkeit mit dir am Ende unserer Ehe. Es war vielleicht der Grund, daß ich dir die Scheidung vorgeschlagen habe – darauf bestanden habe. Du hast nicht mehr zugehört!«

Gunter schwieg einen Augenblick.

»Ja, das stimmt wohl. Die Kinder haben mir die Tage erst wieder gesagt, daß ich nur Fragen stelle, alles regele, ohne es vorher abzusprechen, wie es sein sollte. Patrick fragte etwas und ich beantworte es mit einer Gegenfrage.«

»Das hat der Junge gut erkannt! Das bist ganz du, Gunter!«

Helen stand auf.

»Komm, laß uns gehen! Ich möchte mich auch nicht länger mit dir hier an diesem Ort aufhalten. Wir haben so schöne Augenblicke hier verbracht!«

Gunter stand auch auf.

»Ja, Helen das stimmt! Hier habe ich dir gesagt, daß ich dich liebe! Hier habe ich dir den Heiratsantrag gemacht. Hier hast du mir gesagt, daß wir Zwillinge bekommen. Und jetzt sind wir hier, weil die Kinder fortgelaufen sind. Wir sprechen von unserem verlorenen Glück!«

»Verloren? Verloren? Das Wort gefällt mir nicht, Gunter!«

»Warum? Wir haben es doch verloren oder?«

»Nein! Wir haben es beendet. Weißt du, Gunter, wenn man etwas verliert, dann hofft man, daß man es wiederfindet. Ich möchte nicht hoffen, weil das mir sehr, sehr, sehr wehtun würde. Du hast Frauke.«

Gunter wollte etwas sagen. Da läutete sein Handy.

»Ist es Frauke? Meldet sie sich endlich?«

»Nein, es ist nicht Frauke! Es ist Toni!«

Gunter nahm das Gespräch an. Er lauschte. Helen trat dicht an Gunter heran, in der Hoffnung etwas zu hören. Vergeblich! Gunter sagte auch wenig. Er hörte Toni in erster Linie zu.

»Gut, Toni! Ich habe Helen hier getroffen! Wir kommen jetzt! Bis gleich!«

Gunter schaltete ab.

»Was ist? Hat Toni ein Lebenszeichen von den Kindern?«

»Nein! Er vermutet aber etwas. Näheres will er mir – kann er mir – uns – nur auf der Berghütte sagen!«

»Dann laß uns sofort gehen!«

Helen ergriff Gunters Hand und zog ihn fort.

*

Trotz der Dunkelheit beeilten sich Helen und Gunter sehr. Schon nach einer halben Stunde erreichten sie die Berghütte. Der alte Alois stand auf der beleuchteten Terrasse und begrüßte sie herzlich.

»Grüß Gott! Mei, was für ein schöner Anblick für meine alten trüben Augen! Die Helen und der Gunter! Ihr schaut aus wie in alten Zeiten! Jetzt kommt alles wieder in Ordnung!«

Helen umarmte den alten Alois herzlich und drückte ihn.

»Ach, Alois! Alles kommt wohl nicht in Ordnung, aber vieles!«

Sie gingen hinein in die Wirtsstube der Berghütte. Toni und Anna begrüßten die beiden. Sie führten sie ins Wohnzimmer der Berghütte, damit sie ungestört sein konnten. Toni erzählte ihnen von dem Gespräch über die Höhlen rund um Waldkogel, das die Zwillinge mit den Bichler Kindern geführt hatten.

»Das ist eine Möglichkeit, Gunter! Patrick ist nicht nur ein Bergbegeisterter wie du. Er ist auch von Höhlen fasziniert. Polly lehnt Höhlen ebenso ab wie Frauke die Berge. Deshalb halte ich es für sehr unwahrscheinlich, daß Patrick sie dazu überreden konnte. Außerdem kennen die beiden sich aus. Sie wissen, daß es nachts sehr kalt im Gebirge wird. Sie würden nie zu einer Übernachtung in den Bergen aufbrechen, ohne Isomatte und Schlafsack, ohne heißen Tee und Proviant.«

»Sie haben wahrscheinlich nur Kekse und Schokolade dabei. Das vermuten wir, jedenfalls nach Sichtung der Vorratskammer«, bemerkte Anna.

»Dann ist es höchst unwahrscheinlich, daß sie sich in einer Höhle verstecken. Polly würde nachts niemals in einer Höhle schlafen, es sei denn sie hätte ein Moskitonetz.«

»Hat Polly solche Angst vor Spinnen?« fragte Gunter erstaunt nach.

»Angst nicht! Sie findet sie eklig! Geht ihnen aus dem Weg«, erklärte Helen dem erstaunten Gunter.

Diesem wurde wieder einmal klar, wie wenig er von seiner Tochter wußte.

»Was machen wir jetzt? Wie gehen wir vor?« fragte Gunter.

Der Mann, der sonst auf alles eine Antwort hatte oder eine passende weiterführenden Frage hatte, war ratlos. Toni schlug vor, daß er und Gunter zusammen eine Nachtwanderung zum Sattel machen könnten. Die Rucksäcke seien schon gepackt. Es wäre alles drin, was man zum Biwakieren für vier Personen brauche.

»Das kommt nicht in Frage!« unterbrach Helen Toni hart. »Es sind auch meine Kinder! Gunter und ich gehen alleine! Du mußt nicht mit!«

Toni und Anna warfen sich Blicke zu.

»Ist das nicht zu gefährlich? Es wäre besser, ich würde mitgehen, denke ich!«

Helen schüttelte den Kopf. Ihre Blicke trafen den alten Alois, der dabei stand.

»Du kannst die beiden schon gehen lassen, Toni. Ich kenne sie gut. Des sind echte Bergler! Die könnten beide auch aus Waldkogel sein. Die kennen sich gut aus. Da mußt dir keine Sorgen machen.«

Anna schlug vor, daß Gunter und Helen noch etwas Warmes essen sollten, bevor sie aufbrachen. Das taten sie auch. Währenddessen telefonierte Toni mit der Bergwacht und der Polizeistation im Tal. Aber bei beiden Stellen waren noch keine Informationen eingegangen.

Nach dem Essen brachen sie auf. Jeder trug einen großen Rucksack, dazu zwei Isomatten und einen warmen Biwakschlafsack. Anna hatte genug Proviant eingepackt.

»Ist der Rucksack nicht zu schwer?« fragte Gunter.

»Nein! Danke der Nachfrage! Es geht. Er ist sogar leichter als früher, als wir mit den Kindern unterwegs waren. Damals waren noch Kindersachen drin.«

»O ja, ich erinnere mich! Patrick wollte Bücher mitnehmen und Polly viele Puppensachen.«

»Genau! Vor allem nachdem sie zum Geburtstag eine komplette Puppenausstattung für die Berge erhalten hatte.«

»Wie alt war sie damals?«

»Sechs! Erinnerst du dich noch, wie wir durch die Kaufhäuser und Spielwarenläden zogen, weil wir Puppendirndl und Puppenwanderhosen aus Leder und Bergsteigerstiefel für Puppen suchten?«

Gunter errötete.

»Ja, daran erinnere ich mich! Und an noch etwas!«

»Richtig!« sagte Helen leise.

Sie erinnerte sich auch daran. An diesem Tag hatte Helen Gunter quasi gezwungen, mit zum Einkaufen zu gehen. Sie hatten deshalb einen großen Streit. Aber sie gab nicht nach. So kauften sie zusammen die Geschenke ein. Doch darüber wollte jetzt keiner der beiden laut reden.

Toni begleitete sie bis vor die Berghütte. Er wünschte den beiden alles, alles Gute. Sollte etwas sein, bat er sie, sofort anzurufen. Dann schaute er ihnen nach. Bald war nur noch der Lichtkegel ihrer starken Stablampen am Berg zu sehen.

»Nun komm rein, Toni!« ermahnte ihn Alois. »Dir geht die Sach’ ganz schön nah, wie?«

»Des kannst laut sagen, Alois! Schließlich haben wir ja auch zwei Kinder, die Franzi und den Basti. Auch wenn die beiden nur angenommen sind, so sind sie uns doch wie eigene ans Herz gewachsen. Also, wenn ich mir vorstelle, die würden draußen herumirren.«

Der alte Alois lachte.

»Des hatten wir doch schon, damals nach dem schlimmen Unglück, als ganz Waldkogel die beiden gesucht hatte.«

»Ja, aber jetzt wäre des noch mal anders, weil sie eben zu uns gehören. Ich bewundere die Helen. Wie ruhig sie ist! In gewisser Weise ist das mir sogar unverständlich! Diese Ruhe!«

»Ja, ja! Die Helen war und ist schon ein besonderes Madl. Die weiß, was sie will. Sie macht immer einen Schritt nach dem anderen! Mache dir keine Gedanken, Toni! Die Helen wird spüren, daß die Zwillinge net in Gefahr sind.«

Bis sich die letzten Hüttengäste zurückzogen, hatten Toni und Anna noch viel zu tun. Doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Sie mußten an Gunter und Helen und an die Kinder denken. Sie hofften die vier würden aufeinander treffen.

»Die werden schon zusammenfinden«, schmunzelte der alte Alois. »Vielleicht noch mehr und noch besser, als wir des alle denken. Zusammenfinden in einem ganz besonderen weiteren Sinn.«

Der alte Alois saß den ganzen Abend am Kamin und lächelte, so als würde er sich auf etwas freuen.

*

Auf dem Bergpfad, der von der Berghütte am ›Erkerchen‹ vorbeiführte und dann auf den ›Pilgerpfad‹ mündete, liefen Gunter und Helen hintereinander. Der ›Pilgerpfad‹ war breiter. Jetzt konnten sie nebeneinander gehen. Wie von selbst fanden sich ihrer Hände. In der anderen Hand trugen sie ihre Stablampen. Sie sprachen kaum etwas und wenn, dann machte Gunter Helen nur auf Unebenheiten oder Steine auf dem Weg aufmerksam. Helen bedankte sich jedes Mal dafür. Sie legten einen zügigen Schritt vor. Sie hetzten nicht, sie wanderten im gleichmäßigen dauerhaften Tempo durch die Nacht. Unterwegs kamen sie an einigen Schutzhütten vorbei. In zweien brannte noch Licht. Lachen drang heraus. Sie hielten nicht an. Sie gingen weiter. Es war höchst unwahrscheinlich, daß die Zwillinge sich bei anderen Bergwanderern aufhielten. Niemand würde den Kindern glauben, daß sie alleine in die Berge durften. So gingen Gunter und Helen weiter.

Nach über zweieinhalb Stunden Nachtwanderung erreichten sie den Sattel. Hier oben auf dem großen Plateau zwischen den Bergen war es kühl. Sie blieben stehen und atmeten die klare Nachtluft.

»Das wäre geschafft! Jetzt müssen wir nur noch den Höhleneingang finden, Gunter!«

»Das werden wir schon! Ich erinnere mich noch ungefähr, wo es war. Außerdem hat mir Toni alles gut beschrieben.«

Gunter ließ seine Stablampe kreisen.

»Die Bäume dort drüben sind etwas gewachsen. Es ist ja auch schon eine Zeitlang her, daß wir mit den Kindern hier waren.«

»Dahinter muß irgendwo der Höhleneingang liegen!« sagte Helen.

Gunter ging voraus. Helen folgte ihm mit Abstand. Sie gingen um die fünf Kiefern herum. Dann mußten sie etwas den Hang hinauf. Im Lichtkegel der Stablampen erkannten sie den Höhleneingang. Das Geröll knirschte unter ihren Bergschuhen.

Gunter, der als erster oben war, warf seinen Rucksack ab. Er leuchtete die Höhle aus. Dann drehte er sich um und reichte Helen für die letzten Meter die Hand.

»Schau, niemand da«, sagte Gunter leise.

Er leuchtete die Höhle nochmals aus. Helen sah ihm die Enttäuschung an. Sie betrat die Höhle und untersuchte den Boden.

»Alles sauber! Kein Abfall! Kein Schokoladen- oder Kekspapier! Ich denke, wir haben den Weg umsonst gemacht.«

Helen packte die Isomatten aus und legte zwei aufeinander. Sie setzte sich darauf und wühlte im Rucksack nach der Thermoskanne.

»Erschöpft?« fragte Gunter.

»Ja und es ist kühl hier oben!«

Gunter bot sich an, ein Feuer zu machen. Während Helen in der Höhle blieb und heißen Kräutertee schlürfte, suchte Gunter draußen in der Dunkelheit nach Brennmaterial. Er kam einige Male zurück und trug jedesmal einen Armvoll Bruchholz.

Geschickt schichtete er es einige Meter vom Höhleneingang auf, aber so, daß der Rauch noch gut abziehen konnte. Mit Hilfe einiger Papiertaschentücher brachte er es zum Brennen. Erst waren die Flammen klein, doch bald loderten sie auf. Der Schein erhellte die Höhle. Gunter trug Steine zusammen und legte sie als Begrenzung um das Feuer. Das Feuer wärmte bald.

»Bleiben wir über Nacht oder gehen wir zurück?« fragte er.

»Wir bleiben! Ich bin redlich müde. Es ist schon nach Mitternacht. Wir schlafen einige Stunden. Beim Sonnenaufgang machen wir uns auf den Rückweg.«

Gunter packte auch die Biwaksachen aus.

»Der Boden ist ziemlich hart, Helen. Wir könnten ihn polstern, wenn wir alle Isomatten aufschichten und darauf die beiden Schlafsäcke legen, die wir für die Kinder mitgebracht haben. Die sind ja übrig.«

Helen nickte. Sie schob Gunter ihren Rucksack hin. Dann sah sie ihm zu, wie er ein Nachtlager für sie beide richtete.

»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, so dicht bei mir zu liegen?« fragte er zaghaft.

»Wenn es dir nichts ausmacht?« beantwortete Helen seine Frage mit einer Gegenfrage.

Sie schauten sich in die Augen und beide wurden leicht rot. Jeder hoffte, der andere habe es durch den Feuerschein nicht gesehen.

Helen setzte sich auf das Lager. Sie packten zusammen den ganzen Proviant aus und aßen.

»Wie in alten Zeiten«, bemerkte Gunter.

»Oh, ja, wie in alten Zeiten. Schön war es damals«, seufzte Helen.

»Klingt, als würdest du diesen Zeiten nachtrauern?«

»Warum sollte ich das nicht tun?«

»Ja, das stimmt Helen! Ich trauere den Zeiten auch nach. Ich wünsche mir, man könnte die Zeit zurückdrehen. Oft frage ich mich, was ich anders machen würde.«

»Bist du zu einem Ergebnis gekommen?«

»Ja, ich würde alles wieder genauso machen, bis auf… Ich würde weniger arbeiten. Ich würde mir mehr Zeit nehmen für die Kinder und für dich! Ich würde zuhören. Wir würden nicht streiten, ob ich mit zum Einkaufen gehe, sei es für Weihnachtsgeschenke oder Geburtstagsgeschenke.«

»Das klingt gut!« sagte Helen leise und schaute ins Feuer. »Hinterher ist man immer klüger. Ich habe auch viel falsch gemacht. Ich habe dich unter Druck gesetzt. Wir haben uns zuwenig Zeit für uns genommen. Es wäre machbar gewesen, sich dann wann einen Babysitter zu nehmen. Eltern brauchen auch Zeit für sich. Sie sollten ihre Liebe pflegen. Uns ist das nicht gelungen.«

Das Feuer war heruntergebrannt. Gunter packte den Proviant wieder in die Rucksäcke. Helen kroch in ihren Schlafsack und legte sich hin. Gunter legte sich neben sie. Sie lagen auf dem Rücken und schauten hinauf an die Höhlendecke. Dort tanzten die Lichter des immer schwächerwerdenden Feuers, bis es ganz erlosch und die Glut zu Asche zer-

fiel.

»Kannst du nicht schlafen, Helen?« fragte Gunter in die Dunkelheit.

»Nein! Und du?«

»Ich finde auch keine Ruhe!«

»Mache dir keine Sorgen! Wir finden die Kinder schon! Toni und Anna stehen früh auf. Wir rufen sie gleich an.«

»Das ist es nicht alleine, Helen, an was ich denke!«

»Was gibt es sonst?«

»So schlimm das mit den Kindern ist. Es hat auch etwas Gutes.«

»So, was?«

Helen war überrascht.

»Wie man sagt: In jeder Krise liegt auch eine Chance! Ich habe, als ich am späten Nachmittag und Abend auf der Bank beim ›Erkerchen‹ saß, viel nachgedacht. Vergangenheit! Gegenwart! Zukunft! Ich werde mich von Frauke trennen. Wir passen nicht zusammen. Das ist mir klargeworden. Sie ist nicht die Frau, die ich will. Sie hat nicht die Qualitäten. Sie gibt mir nicht das, wonach ich mich sehne.«

»Da wird Frauke enttäuscht sein!«

»Das denke ich nicht! Sie hat bestimmt auch erkannt, daß unsere Welten zu verschieden sind. Sie hat eingesehen, daß sie an dich nicht heranreichen kann. Auch ich habe eingesehen, daß ich sie ständig mit dir vergleiche. Sie bemüht sich, dir äußerlich ähnlich zu sein. Sie hat sich das Haar färben lassen, kauft die gleichen Marken wie du. Benutzt sogar dein Parfum. Alles führte zwar vielleicht dazu, daß ich mich für sie interessierte. Aber sie erinnerte mich auch in jedem Augenblick an dich.«

»Das mußt du den Kindern sagen! Sie werden sich freuen!«

»Ja, das werden sie bestimmt! Sie haben niemals schlecht über Frauke geredet. Sie haben eigentlich nicht über sie geredet. Sie war Luft für sie.«

»Vielleicht haben sie früher als du gewußt, daß ihr nicht zusammenpaßt. Kinder haben reine Herzen. Sie nehmen Schwingungen wahr, die wir Erwachsenen längst verlernt haben zu empfinden.«

»Ja, das stimmt! Und wenn wir in glücklichen Augenblicken sie doch erahnen, dann befällt uns eine Angst und wir haben nicht den Mut dazu zu stehen.«

»Das stimmt! Solche Augenblicke kenne ich auch.«

»Wann? Gib mir ein Beispiel!«

»Nein! Du zuerst!«

Gunter räusperte sich. Es fiel ihm schwer, etwas zu sagen. Doch es mußte sein.

»Im Augenblick empfinde ich es sehr schön. Ich meine, du und ich, hier zusammen in der Höhle. Ich bilde mir ein, daß es dir auch gefällt.«

»Ja, es gefällt mir sehr! Stimmt schon, was du vorhin gesagt hast. In jeder Krise liegt ein Chance. Eigentlich ein abgedroschener Satz. Aber ich finde, er paßt. Wären die Kinder nicht fortgelaufen, dann wäre ich nicht in Waldkogel. Wir würden nicht zusammen in einer Höhle biwakieren, Gedanken austauschen und von alten Zeiten träumen. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen dies zu sagen, Gunter. Denn die Kinder sind fort und ich bin wirklich in Sorge. Trotzdem empfinde ich den Augenblick so schön.«

Helen seufzte glücklich.

Es war ganz still in der Höhle. Der Geruch von Asche lag in der Luft. Durch den großen Höhleneingang sahen sie die Sterne am Nachthimmel.

»Helen, was meinst du? Du sagtest das Wort ›verloren‹ gefällt dir nicht. Weil, wenn man etwas verliert, hofft man, es wiederzufinden. Wäre es möglich, daß dir das Wort doch gefällt? Damit wäre dann Hoffnung verbunden, daß wir unser Liebe wiederfinden. Es wäre ein Trost für mich.«

Es war still. Helen wagte kam zu atmen. Ihr Herz klopfte wild und eine Woge voller Sehnsucht nach dem geliebten Menschen durchzog wellenartig ihren Körper.

Sachte berührte sie Gunters Hand. Dieser griff danach und hielt sie fest.

»Gut einigen wir uns für den Anfang auf das Wort ›Verloren‹.«

»Dann bist du damit einverstanden, daß wir unsere Liebe suchen?«

»Ja, Gunter! Suchen wir danach! Aber suchen wir nicht nur hier in den Bergen, sondern auch daheim im Alltag. Wenn wir sie dort auch finden und nicht mehr verlegen, wieder verlieren, dann werden auch die Kinder glücklich sein.«

»Du bist weise, Helen! Du bist so feinfühlend. Du bist so wunderbar. Können wir hier damit beginnen, daß ich dich in meinen Arm nehme. Rücke dichter an mich heran. Ich will dir Geborgenheit geben, damit du schlafen kannst. Weißt du noch, wie du dich früher…«

»Rede doch nicht so viel, Gunter!« flüsterte Helen leise.

Sie rückte in ihrem Schlafsack dichter an ihn heran und legte ihren Kopf in seinen Arm. Gunter neigte seinen Kopf, bis seine Lippen ihre Haare berührten.

»Gute Nacht, liebste Helen!«

»Gute Nacht, Gunter!« sagte sie leise.

Gunter drückte Helen zärtlich zuerst einen Kuß auf das Haar und dann auf ihre Wange. Mehr traute er sich nicht. In der Dunkelheit der Nacht konnte Gunter nicht sehen, wie Helen glücklich lächelte.

Helen lag ganz ruhig da. Sie tat, als schliefe sie. Gunter lag noch eine Weile wach. Sein Herz schlug vor Freude. Er wagte sich nicht zu bewegen. Endlich hielt er die Liebe seines Lebens wieder in seinen Armen.

»Ich liebe dich, Helen! Ich habe dich immer geliebt! Ich habe dich tief in meinen Herzen auch geliebt, als ich dachte, ich liebe dich nicht mehr!« flüsterte er leise.

Helen hörte es und ihr Herz klopfte freudig und voller Liebe. Sie war glücklich und schlief ein.

*

Das Prasseln des Feuers weckte Helen am nächsten Morgen. Die Sonne schien in die Höhle herein. Gunter saß am Feuer.

»Guten Morgen, Helen! Gut geschlafen?«

Helen räkelte sich.

»Wunderbar geschlafen! Und du?«

»Sehr gut! Bleibe liegen, ich bringe dir das Frühstück ans Bett, soweit man hier von einem Bett reden kann. Der Tee wird gleich warm sein. Über die Nacht ist er doch abgekühlt. Aber in den Emailbechern wird er schnell warm. Du mußt nur aufpassen, daß du dir nicht die Finger am Becher verbrennst. Was willst du essen?«

»Erst mal nichts!«

»Richtig, ich erinnere mich! Du hast früher auch erst einmal eine Tasse Tee getrunken, zum Aufwachen. Erst danach hast du etwas gegessen.«

»Daß du das noch weißt!«

»Ich weiß noch alles!«

»Ich auch! Du trinkst Kaffee zum Frühstück, schwarz mit Zucker!«

Helen setzte sich auf, ordnete ihr Haar und zog ihre Wanderschuhe an. Der Tee war heiß. Gunter hob den Becher vom Feuer und stellte ihn neben ihr auf den Boden.

»Wie spät ist es?«

Helen stand auf und ging vor die Höhle.

»Oh, es muß schon Vormittag sein. Es geht bestimmt schon auf Mittag zu. Gunter, wir müssen uns beeilen! So lange wollten wir nicht schlafen. Sag schon, wieviel Uhr ist es denn?«

Gunter lächelte. Es war eine Eigenart von Helen, niemals eine Uhr zu tragen.

»Ganz so spät ist es nicht! Es ist erst kurz nach acht Uhr! Ich habe Toni angerufen! Er hat noch nichts gehört. Bürgermeister Fellbacher, Gewolf Irminger von der Polizeistation und die Bergwacht suchen nach den Zwillingen. Toni meinte, wir könnten nichts anderes tun als warten.«

»Diese Gören! Gunter, wie konnten sie das tun? Was bezweckten sie damit?«

Helen befühle vorsichtig den Emailbecher. Er war noch warm, aber sie konnte ihn halten. Sie nahm ihn mit beiden Händen und nippte an dem süßen Tee.

»Sie wollten mir und Frauke den Urlaub verderben. Sie wollten Probleme machen, damit ich einsehe, daß Frauke nicht die Richtige ist. Sie wollten einfach stören.«

»Dann haben sie wohl erreicht, was sie erreichen wollten!«

Gunter lächelte. Er setzte sich neben Helen und schlürfte auch seinen Tee. Kaffee hatten sie nicht.

»Sie haben mehr erreicht, als sie sich gedacht hatten, wenn sie überhaupt etwas dachten. Sie haben erreicht, daß wir uns ausgesprochen haben, daß wir uns schönen Erinnerungen hingegeben haben, daß wir eine Nachtwanderung gemacht haben, dicht beieinander geschlafen haben, daß wir jetzt hier beieinander sitzen und zusammen Tee trinken, daß…«

Helen schaute Gunter in die Augen.

»Daß du heute nacht geflüstert hast, wie sehr du mich liebst und immer geliebt hast.«

»Das hast du gehört? Du hast nicht geschlafen?«

Helen lächelte glücklich.

»Ich war gerade dabei einzuschlafen. Doch Liebesgeflüster hört eine Frau auch noch im Tiefschlaf.«

Gunter stellte den Becher ab. Helen stellte ihren Becher auf einen Stein. Gunter nahm Helens Hände.

»Dann weißt du es ja! Ich liebe dich, Helen, ich habe dich immer geliebt. Das mit Frauke war keine Liebe. Es war… egal. Es war keine Liebe. Liebst du mich auch noch?«

»Oh, Gunter! Wie kannst du fragen?«

Helen schlang ihre Arme um seinen Hals und flüsterte leise:

»Ich liebe dich!«

Dann fanden sich ihre Lippen. Zum ersten Mal seit langer, langer, langer Zeit küßten sie sich wieder. Zuerst waren sie etwas unbeholfen, eben wie ein junges Liebespaar. Sie konnten ihr Glück kaum fassen. Sie hatten sich wieder. Ihre Herzen waren wieder vereint. Dann küßten sie sich voller Leidenschaft, als könnten sie mit diesen nicht enden wollenden Küssen all die versäumten Jahre nachholen.

»Helen, wollen wir gemeinsam neu anfangen! Wollen wir die Zeit zurückdrehen, so wie wir gestern darüber gesprochen haben?«

»Ja. Gunter, das werden wir tun!«

Gunter sprang auf.

»Dann leben wir wieder alle zusammen im Haus?«

»Das wäre wohl angebracht. Wie sollten wir uns sonst im gemeinsamen Alltag bewähren?«

»Helen, ich will nicht nur… das ist mir zu wenig! Es muß gleich richtig sein! Ich will dich heiraten! Willst du?« Gunter lachte. »Oder bestehst du auf einer langen Verlobungszeit?«

»Eine Verlobungszeit ist dazu da, daß sich die Brautleute besser kennenlernen und sich prüfen, ob sie wirklich den Bund der Ehe eingehen wollen. So oder ähnlich steht es im Gesetz. Ich denke, das brauchen wir nicht. Nach all dem Schönen und Guten, nach zwei Kindern und dieser – aus heutiger Sicht – so unnötigen Scheidung, verzichte ich auf eine lange Verlobungszeit.«

Gunter nahm Helen fest in die Arme.

»Das war ein Ja?«

»Ja! Liebster Gunter! Ich sage noch einmal Ja zu dir!«

Sie hielten sich ganz fest und küßten sich.

»Jetzt müssen wir nur noch die Kinder finden!«

»Ja, das müssen wir!«

Sie tranken aus, packten die Rucksäcke und wanderten zurück zur Berghütte.

*

Toni und Anna saßen auf der Terrasse und tranken ihren Kaffee. Sie machten ihre Morgenpause.

»Schau, da kommen Gunter und Helen! Sie gehen Hand in Hand!«

Der alte Alois sah es auch.

»Mei, da hat’s bei denen endlich wieder gefunkt! Manchmal benötigt es einen Sturm, damit alles wieder ins Lot kommt.«

Er rieb sich vergnügt die Hände.

»Sag mal, Alois, weißt du etwas, was wir nicht wissen?«

»Naa, so ist das net. Ich kenne die beiden schon lange. Was waren die damals verliebt, mei, wenn ich daran denke! Die mußten wieder zusammenkommen, weil sie zusammengehören. Die Helen war vor einigen Wochen unten in Waldkogel. Da hab ich sie zufällig getroffen. Sie war auf dem Weg zum Seeberger! Die Helen und der Gunter hatten damals, als sie noch zusammen waren, die Pläne gemacht für den Umbau. Das Hotel ›Zum Ochsen‹ ist ja wirklich prachtvoll geworden. Die Helen arbeitet seit ihrer Scheidung ja nicht mehr im Büro ihres Mannes. Sie ist selbständig. Sie hat den alten Seeberger besucht und einige Fotos vom Hotel gemacht. Sie wollte den Gunter nicht um Fotos bitten. Das kann man verstehen. Jedenfalls hatte ich mich ausführlich mit ihr unterhalten. Weil ich die ganze Liebesgeschichte mit den beiden damals mitbekommen habe, hat mir die Helen ihr Herz ausgeschüttet. Sie war diejenige, welche die Scheidung verlangte. Das hat sie bitter bereut. Denn sie liebt den Gunter wirklich. Aber er kümmerte sich nur noch um den Betrieb, das große Büro, die Aufträge. Da ist die gute Helen eines Tage so sauer geworden, daß sie sich nimmer zu helfen wußte. Nie war der Gunter da. Da sagte sie sich, daß sie auch ganz ohne ihn leben könnte. Sie wollte ihn damit ein bisserl unter Druck setzen. Er aber war des ewigen Streitens auch müde und willigte sofort in die Scheidung ein. Dann war es eben passiert. Doch jetzt scheint wieder alles in Ordnung zu kommen.«

Alois schwieg. Gunter und Helen erreichten die Berghütte.

»Was von den Kindern gehört, Toni?«

»Naa, nix! Nur dein Büro hat schon viermal angerufen. Du sollst beim Seeberger vorbeigehen, er hätte etwas mit dir zu regeln.«

»Der Seeberger! Das hatte ich ganz vergessen! Wir hatten eine Suite reservieren lassen, falls Frauke es auf der Berghütte nicht aushält. Doch in Waldkogel hielt sie es auch nicht aus. Ich werde gleich ›Beim Ochsen‹ anrufen und die Suite stornieren.«

Gunter schaute Helen verliebt an.

»Du bleibst doch bei mir auf der Berghütte?«

»Ich weiche keinen Millimeter von deiner Seite!« lachte ihn Helen an.

»Euch geht’s wieder so richtig gut, wie?« fragte der alte Alois und blinzelte den beiden zu.

Gunter legte den Arm um Helen.

»Ja, uns geht es richtig gut! Ich habe auch erkannt, daß ich zu Helen gehöre! Wir wollen wieder heiraten!«

»Mei, was du nicht sagst! Wann?« staunte Toni.

»Über den Termin haben wir noch nicht gesprochen. Doch es sollte bald sein! Sobald die Kinder wieder da sind!«

»Dann heiratet ihr in Waldkogel?« fragte Alois.

Gunter und Helen schauten sich an. Ein Blick genügte. Ja, sie würden in Waldkogel heiraten.

»Dann geht gleich mal runter zum Fellbacher ins Rathaus und bestellt das Aufgebot. Vielleicht könnt ihr da unten auch mehr ausrichten als hier. Die Suchaktion wird ja von Waldkogel aus geleitet. Über die Kinder würde ich mir nicht so viele Gedanken machen. Irgendwann bekommen sie Hunger. Dann tauchen sie schon wieder auf.«

Der alte Alois lächelte zufrieden.

»Sag mal, weißt du, wo die Kinder sind?«

»Ich? Kann ich hellsehen?« empörte sich Alois.

»Naa, Alois, hellsehen kannst du nicht. Aber ein Schlitzohr bist du schon«, lachte Toni.

Gunter und Helen setzten die Rucksäcke ab. Sie machten sich frisch. Gunter bekam seine Tasse Kaffee. Sie aßen etwas. Tonis Handy läutete. Er nahm ab.

»Ja, er ist hier!«

Toni reichte Gunter sein Handy.

»Ist für dich! Jemand aus dem Büro!«

Gunter meldete sich. Er fragte als erstes, warum sie ihn nicht auf seinem eigen Handy anriefen. Dann griff er in die Tasche. Der Akku war leer.

»Warum will der alte Seeberger mich so dringend sprechen? Hat er nichts gesagt?«

Gunter lauschte.

»Ah so! Gut! Ich werde ihn heute noch treffen.«

Gunter verabschiedete sich, legte auf und gab Toni das Handy zurück.

»Sonderbar! Der Seeberger hat gestern abend sogar ein Telegramm an das Büro geschickt, weil er mich nicht erreicht hatte. Er hat daheim angerufen. Da war auch niemand. Die Haushälterin hat sich wohl

freigenommen, wenn ich nicht da bin.«

Gunter trank einen Schluck Kaffee.

»Das ärgert mich jetzt, Helen! Ich habe Urlaub! Ich habe dich wieder! Wir müssen die Kinder suchen! Und Seeberger macht Druck. Dabei sagt er nicht, um was es geht! Der soll gefälligst warten!«

Helen streichelte Gunter über die Wange.

»Ruhig, ganz ruhig mein Schatz! Das läßt sich alles regeln!«

Nach einer weiteren halben Stunde brachen sie auf. Toni gab ihnen seinen Autoschlüssel. Helens Leihwagen stand bei Förster Hofer. Gunters Wagen benutzte Frauke, die sich immer noch nicht gemeldet hatte.

Gunter und Helen fuhren von der Oberländer Alm direkt zum Hotel ›Zum Ochsen‹. Sie meldeten sich an der Rezeption.

»Volkmann, mein Name! Dr. Gunter Volkmann und Frau. Erstens habe ich hier eine Suite reservieren lassen. Zweitens versucht mich Herr Seeberger dringend zu erreichen. Bitte sagen Sie ihm, daß ich hier bin!«

Die junge Hotelfachangestellte hob die Augenbrauen.

»Ich weiß Bescheid! Der Seniorchef hat gesagt, er möchte sofort verständigt werden, wenn Sie hier sind. Wenn Sie bitte warten wollen. Es wird nicht lange dauern, bis er kommt.«

»Geben Sie uns den Schlüssel! Er kann uns dann oben treffen. Welche Suite ist für uns reserviert? Sie müssen wissen, wir haben das Hotel umgebaut.«

»Es tut mir leid, Herr Dr. Volkmann! Dazu kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Das ist alles etwas kompliziert. Herr Seeberger senior wird Ihnen alles erklären.«

Gunter seufzte.

»Helen, verstehst du, was hier vorgeht?«

Helen strich Gunter über den Rücken.

»Ruhig! Das wird schon! Warten wir eben ein paar Minuten.«

Es dauerte nicht lange, da erschien Norbert Seeberger.

»Grüß dich, Gunter! Hallo, Helen!«

Sie schüttelten sich die Hände. Sie waren im Laufe der Jahre gute Freunde geworden.

»Wie geht es euch? Gut schaut ihr aus!«

»Sag mal, Norbert! Du wunderst dich gar nicht, daß Helen mit mir hier ist?«

»Nein! Die Zwillinge sind doch fortgelaufen! Das weiß inzwischen jeder in Waldkogel. Also ist es doch nicht verwunderlich, daß Helen es auch weiß und deshalb gekommen ist. Was ist mit deiner Freundin? Dieser Frauke? So hieß sie doch oder?«

»Das ist vorbei! Helen und ich werden wieder heiraten.«

»So! Das ist wirklich schön! Die Kinder werden sich freuen. Weißt du, ich und meine Lotte hatten auch unsere Krise. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Unser Bub macht jetzt den Chef. Er macht es gut, wirklich. Zur Zeit vertrete ich ihn nur. Er ist auf einer Tagung.«

Gunter wurde langsam ungeduldig.

»Norbert, spanne mich nicht auf die Folter. Was ist los? Du schickst ein Telegramm in die Firma, rufst heute fast in Minutenabständen dort an! Wozu der ganze Aufwand?«

»Ich wollte eben sicher sein, daß du bald kommst. Ich habe dich eigentlich schon gesten abend erwartet. So ein Telegramm sollte dir Bei-

ne machen, verstehst du?« grinste

er.

Norbert Seeberger drehte sich um und winkte Gunter und Helen, ihm zu folgen. Er führte sie fast ans Ende des großen Geländes. Dort hinten wohnte er jetzt in einem alten Haus und malte und widmete sich dem Streichelzoo, den er eingerichtet hatte.

Sie setzten sich in eine Laube. Charlotte, von allen Lotte gerufen, Norberts Frau brachte Getränke und setzte sich dazu.

Norbert grinste erneut. Er machte es spannend.

»Also! Die Suite ist seit gestern morgen belegt. Aber ich habe mit den Gästen gesprochen. Es sind ja mehrere Schlafzimmer und auch Badezimmer. Ihr könnt die Suite mitbenutzen. Die Gäste sind sehr ruhige Bewohner. Sie sind ständig auf ihren Zimmern und lesen. Sie lassen sich sogar das Essen aufs Zimmer bringen.«

»Norbert, komme bitte zur Sache! Deshalb schickst du doch kein Telegramm oder?« Gunter trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte.

»Wie man es nimmt. Ich wollte persönlich mit dir reden, wegen dieser Gäste. Es sind zwei Leute! Sie haben große Probleme in der Familie. Natürlich hat man mich sofort verständigt. Bei solchen besonderen Gästen wissen alle im Hause, daß das Chefsache ist.«

Norbert Seeberger bemühte sich, ein ernstes Gesicht zu machen. Es gelang ihm aber nicht ganz.

Plötzlich fing Helen an zu lachen.

»Sag mal, Norbert, redest du vielleicht von Polly und Patrick? Kann das sein?«

»Die Gäste nennen sich Tamara und Timothy. Aber was sind schon Namen. Wichtige Gäste steigen hier schon einmal unter Künstlernamen ab.«

Seeberger blinzelte Helen und Gunter zu.

»Und die ganze Suchaktion?«

»Ich habe das alles schon geregelt. Das war eine heikle Angelegenheit. Doch man hat Beziehungen. Die Suche wurde nicht durchgeführt. Aber ihr solltet es auch nicht gleich wissen, sondern hierher kommen. Die Kinder beichteten mir erst gestern am späten Nachmittag, daß sie weggelaufen seien. Ganz zerknirscht waren sie. Da hatte ich eben Mitleid.«

»Du hättest es sofort sagen müssen!« Gunter war sehr ärgerlich.

Nach und nach erfuhren Gunter und Helen, daß Norbert früh am Morgen mit der Berghütte telefoniert hatte. Toni war nicht da. Er war unterwegs zur Oberländer Alm, um mit Bello Proviant zu holen. Anna war beschäftigt. So sprach er mit dem alten Alois. Von diesem hatte Norbert erfahren, daß Helen und Gunter gemeinsam nach den Kindern suchten.

»Der alte Alois überredete mich, die Sache noch etwas für mich zu behalten. Er freute sich, daß die Kinder gefunden waren. Noch mehr freute ihn, daß ihr beide zusammen unterwegs wart. Er meinte, die Berge und die Erinnerungen an schöne gemeinsame Zeit in den Bergen würde euch wieder zusammenbringen. Da das auch der Wunsch von Polly und Patrick ist, wollten wir euch Zeit geben. Außerdem, seid mal ehrlich! Spürtet ihr nicht in euren Herzen, daß ihr euch um die Kinder nicht sorgen mußtest? Als Eltern hat man doch ein Gefühl dafür, ob es den Kindern gut geht oder schlecht. Wie ist es?«

Gunter und Helen schauten sich an. Sie lächelten.

»Was haben die beiden erzählt?«

Norbert Seeberger berichtete.

Die Kinder hatten sich nachts aus der Berghütte geschlichen. Sie warteten oben am Bergpfad, bis es langsam hell wurde. Dann wanderten sie zur Oberländer Alm. Dort schlichen sie sich vorbei, während Hilda und Wenzel im Stall die Kühe melkten. Unterwegs den Milchpfad hinunter nach Waldkogel nahm sie ein Traktor mit. Sie erreichten das Hotel ›Zum Ochsen‹ am frühen Vormittag. Da Gunter Volkmann die Suite hatte reservieren lassen, dachte sich niemand etwas dabei, daß die Zwillinge alleine ankamen. Sie trugen nur leichtes Gepäck und hatten eine gute Erklärung dafür.

»Du, Gunter, hättest unterwegs eine Autopanne und seiest mit dem Wagen und Frauke in der Werkstatt. Das klang doch einleuchtend, oder?«

Gunter nickte. Norbert Seeberger erzählte weiter.

Die Kinder wurden nicht weiter gefragt, denn die Mitarbeiterin an der Rezeption wollte mit der Aufnahme der Personalien warten, bis Gunter käme. Sie informierte mich nur, daß die Kinder bereits da seien, Tamara und Timothy.

»Das machte mich stutzig!«

Norbert und Lotte Seeberger besuchten die Kinder in der Suite. Sie hatten eine Dusche genommen, lagen zusammen, engumschlungen in dem großen Doppelbett und schliefen. Lotte blieb in der Suite und paßte auf. Es war später Nachmittag, als die beiden aufwachten. Lotte ließ Essen bringen und Norbert kam dazu. Es erforderte viel Geduld, bis die beiden endlich redeten. Zuerst stokkend, dann sprudelte es abwechselnd aus ihnen heraus. Sie waren abgehauen, konnten das Getue von Frauke und Gunter nicht mehr ertragen. Sie wollten nicht, daß Gunter Frauke heiratet. Sie wollten stören, Schwierigkeiten machen.

»Das hatten wir uns schon gedacht!« bemerkte Gunter.

»Lotte und ich redeten den beiden ins Gewissen. Sie versprachen, im Hotel zu bleiben. Wir, Lotte und ich, mußten versprechen, ihnen zu helfen. Denn sie hatten inzwischen ein ganz schlechtes Gewissen.«

»Gunter, die beiden waren wirklich unglücklich. Außerdem sind sie davon überzeugt, daß ihr nicht zusammenpaßt – du und Frauke«, fügte Lotte hinzu. »Sicherlich ist es für Kinder von geschiedenen Eltern nicht einfach, sich damit abzufinden, wenn ein Elternteil wieder heiratet. Doch die Gründe, die sie vorbrachten, die gingen schon tiefer. Gunter! Helen! Ich sage euch, die beiden haben ein feines Gespür für Zwischentöne. Sie waren einfach in Sorge, daß du mit Frauke nicht glücklich werden würdest, Gunter!«

Gunter seufzte.

»Das ist mir inzwischen auch klar! Frauke und ich, wir passen nicht zusammen. Ich gehöre zu Helen! Die Kinder haben das eher gewußt und gespürt als ich. Kinder haben eben ein reines Herz, das mehr fühlt als wir Erwachsenen. Doch jetzt ist alles wieder gut!«

Helen stand auf.

»Dann wollen wir mal zu den Kinder gehen! Und mit ihnen reden!«

»Seid nicht zu streng mit ihnen!« bat Lotte Seeberger.

»Das sind wir nicht! Dazu sind wir viel zu glücklich!« sagte Gunter und legte den Arm um Helen. »Eigentlich müssen wir ihnen dankbar sein. Durch ihren Ungehorsam haben wir wieder zusammengefunden. Wir wollen heute noch das Aufgebot bestellen! Wir heiraten in Waldkogel!«

Helen legte glücklich ihren Kopf an Gunters Schulter.

»Ja, das werden wir tun!«

Gunter nahm Helen in die Arme und küßte sie. Dann liefen sie Hand in Hand davon.

An der Rezeption blieb Gunter stehen.

»Warte, Helen! Ich habe eine Idee!«

Er ließ sich einen Bogen Briefpapier geben und einen Umschlag.

Dann schrieb er:

Einladung an Tamara und Timothy!

Zur bevorstehenden Hochzeit in Waldkogel von Helen und Gunter Volkmann ergeht herzliche Einladung.

Das Brautpaar wünscht sich Polly und Patrick als Trauzeugen.

Für eine sofortige Bestätigung vielen Dank im voraus.

Nachrichten bitte an der Rezeption abgeben.

Dann unterschrieben zuerst Helen und dann Gunter.

Ein Mitarbeiter des Hotels brachte den Brief in die Suite. Augenblicke später rannten die Zwillinge laut jubelnd die Treppe herunter und fielen ihren Eltern in die Arme. Alle hatten Tränen in den Augen, Freudentränen.

»Ihr seid uns nicht böse?« flüsterte Polly ihrem Vater ins Ohr.

»Wie könnten wir! Tut es aber bitte nicht wieder!«

»Niemals! Jetzt sind wir wieder alle zusammen!«

*

Gemeinsam gingen sie zum Rathaus. Bürgermeister Fritz Fellbacher wartete schon auf sie. Norbert Seeberger hatte ihn angerufen.

Es war eine ganz schlichte kurze Trauung und doch voll tiefer Gefühle.

»Ringe! Ihr braucht Ringe!« rief Polly laut.

»Beruhige dich, Polly! Gleich fahren wir alle zusammen nach Kirchwalden Eheringe kaufen.«

Helen errötete tief.

»Ich habe unsere alten Ringe aufgehoben, Gunter. Wie wäre es, wir tragen sie wieder. Unser Liebe hatte doch nie aufgehört…«

Statt einer Antwort umarmte Gunter seine Helen und küßte sie.

»Das haben wir gut gemacht, Patrick!« flüsterte Polly.

»Ja, das haben wir! Meinst du, wir bekommen jetzt noch Geschwister?« fragte Patrick leise.

Helen und Gunter hatten es gehört. Sie lachten.

Helen, Gunter und die Zwillinge verbrachten einen wunderschönen Urlaub auf der Berghütte. Als die Zeit vorbei war, kam Frauke mit dem Auto. Gunter wartete mit seiner wiedergewonnenen Familie auf der Oberländer Alm auf sie. Er mußte nicht viel erklären. Frauke war erleichtert. Auch sie war zu der Erkenntnis gekommen, daß es besser war, sich zu trennen. Außerdem hatte sie einen jungen Mann kennengelernt, der, so glaubte sie, besser zu ihr paßte. Er wartete in Waldkogel auf sie.

Sie wünschten sich alle gegenseitig Glück und viel, viel Liebe.

Die nächsten Wochen und Monate erlebten die Volksmanns wie im Taumel. Sie waren alle so glücklich. Gunter nahm sich viel Zeit für die Familie. So oft es möglich war, verbrachten die vier die Wochenenden auf der schönen Berghütte. Sie biwakierten sogar oft in der Höhle oben auf dem Sattel, wo der Pilgerpfad vorbeiführte.

Polly überwand ihren Ekel vor Spinnen und Patrick war wieder ganz der fröhliche lebhafte Junge.

Helen und Gunters Liebe war jetzt tief und fest. Sie war geprägt von Harmonie. Ihre Liebe würde nie wieder verloren gehen.

Toni der Hüttenwirt Paket 2 – Heimatroman

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