Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 2 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 26
ОглавлениеEs war Vormittag. Die Hüttengäste waren nach einem kräftigen Frühstück zu ihren Hochgebirgstouren und Bergwanderungen aufgebrochen. Es war die Zeit zwischen der erledigten Morgenarbeit und den Vorbereitungen für das Mittagessen, die Toni und Anna für eine gemeinsame Pause nutzten. Die Kaffeepause auf der Terrasse der Berghütte war ein festes Ritual geworden. Sie saßen nebeneinander auf einer Bank. Toni legte den Arm um seine Anna.
»Wie schön die Aussicht ist, Toni! Die Luft ist heute besonders klar. Obwohl ich den schönen Weitblick jeden Tag genießen kann, erfreue ich mich immer wieder daran aufs Neue.«
»Ja, die schöne Natur, welch herrliches Gottesgeschenk! Ich bin dankbar, daß wir, du und ich, auf der Berghütte sein dürfen. Wir können unseren Traum hier leben.«
»Ja, Toni! Es ist wirklich ein Traum, so hoch oben mitten in den Bergen zu leben. Laß mich dir noch einmal sagen, wie glücklich ich mit dir bin!«
Toni schaute Anna in die Augen. Dann näherten sich ihre Lippen und sie küßten sich wie ein junges Paar, dabei waren sie jetzt schon einige Jahre Mann und Frau.
»Ich liebe dich, Anna! Ich bin sehr glücklich mit dir! Ein besseres Madl hätte ich net finden können, dabei bist net aus den Bergen. Du, das vergesse ich oft! Du bist eine richtige Berglerin geworden!«
Anna kuschelte sich an ihren Mann.
»Das macht die Liebe! Sie fügt alles zusammen. Ich spürte es ganz deutlich! Als ich das erste Mal mit dir dort den Weg von der Oberländer Alm herauf kam und einen Blick auf die Berghütte warf, wußte ich es: Das ist es, was ich gesucht habe. Es war, als käme ich heim! Eine Ruhe und eine Gelassenheit, eine wunderbare Zuversicht ergriffen mein Herz. Ich fühlte mich so geborgen inmitten der Berge. Es war, als schirmten die kahlen hohen Felswände alles ab, was draußen in der Welt geschieht und die Herzen der Menschen betrüben kann. Alle Hektik, jeder Streß löste sich in Luft auf, einfach in Luft auf. Es war, als wäre ich am Ende eines langen Weges angekommen, das Ziel vor Augen. Dabei war es dein Ziel, dein Traum. Aber er sprang auf mein Herz über.«
»Das macht die Liebe! Unsere Herzen verband die Liebe, auch wenn es noch unausgesprochen war. Es war ein Band da, das dein Herz und mein Herz fest miteinander verknüpfte.«
»Ja, so war es! Jeden Morgen, wenn wir hier sitzen und so eine kleine gemeinsame Pause machen, bin ich ergriffen. Ich bin so glücklich, daß es dafür keine Worte in keiner Sprache gibt.«
»Wie wäre es mit einem wortlosen, lautlosen Kuß?«
»Ja, so ein Kuß sagt so viel, mehr als zwei Menschen sich jemals sagen können. Bei einem Kuß verschmelzen ihre Herzen immer wieder aufs Neue.«
»Ja, Anna, das tun sie!«
Toni neigte den Kopf und küßte Anna. Vergessen war all die Mühe und Arbeit, die das Leben auf der Berghütte auch bedeutete. Beide schöpften in der Liebe neue Kraft.
»Mei, was muß die Liebe schön sein!« sagte der alte Alois.
Toni und Anna kannten die Bemerkung schon. Sie nahmen es ihm nicht übel.
»Ich hoffe, du hast einen guten Grund, uns beim Schmusen zu stören, Alois«, konterte Toni.
»Mei, du weißt, daß ich nicht stören will. Es ist eben meine Art, meine Freude auszudrücken, daß ihr die Berghütte übernommen habt. Immer wenn ich euch so sehe, dann denke ich an mich und meine liebe Frau, wie das mit uns gewesen ist, damals vor Jahrzehnten. Da war es auch nicht anders.«
Alois wiegte den Kopf hin und her.
»Doch ein bissel anders, des war es schon. Es kamen längst net so viele Leut’ rauf auf die Berghütte. Des waren alles einfache, aber leidenschaftliche Bergsteiger, die Ehrfurcht vor der Natur im Herzen trugen. Damals, da gab es noch keine moderne Ausrüstung, da hat’s genagelte Schuhe gegeben, Pickel, geschmiedete Haken und schöne Naturseile. Die Rucksäcke waren aus grünem oder grauem Leinen gewesen mit einem Lederbesatz. Die Trinkflaschen waren net aus Plastik oder Aluminium, sondern aus Blech. Oder es waren Beutel aus Tierhaut.«
Toni und Anna lächelten sich zu. Sie kannten Alois Lobrede auf die alten Zeiten schon auswendig. Sie wußten, daß sich der alte Freund und Gönner so die Erinnerung wach hielt.
»Ich will net sagen, daß damals alles besser gewesen ist. Na, des will ich net. Wir waren oft sehr einsam auf der Berghütte. Damals gab es noch keine Handys, mit denen man hätte schnell mal die Bergwacht anrufen können. Ich will net ganz des neumodische Zeug verteufeln, aber ein Stückerl Idylle und ein bissel Ehrfurcht vor der Natur sind in den modernen Zeiten schon abhanden gekommen. Deshalb bin ich ja auch so froh, daß ihr beide die Berghütte in alter Tradition weiterführt, wenn auch mit ein paar Neuerungen. Aber die müssen wohl sein und des ist auch gut so. Ich bin dem Himmel dankbar, daß du, Toni, net zu denen gehören tust, die eine Straße hier herauf bauen wollen.«
Der alte Alois schüttelte den Kopf. Mit großer, weit ausholender Handbewegung zeigte er auf das Geröllfeld.
»Wie des ausschauen würde, wenn da lauter Autos parken würden. Des würde mir in der Seele weh tun. Die ganze Aussicht wäre verschandelt. Bist schon richtig, Toni. Hast Respekt vor den Bergen und der Natur. Des hast schon immer gehabt, schon als kleiner Bub, als raufgekommen bist.«
Toni stand auf und trat zu Alois. Er legte dem alten gebeugt gehenden Mann liebevoll die Hand auf die Schulter. Dann sagte er ihm, was er ihm nach einer solchen Litanei immer sagte:
»Alois! Hier wird nie eine Straße raufgebaut! Des habe ich dir versprochen und des halte ich – und die Anna steht auch für des Versprechen ein. Wenn du eines Tages mal nimmer bist und ich die Berghütte weitergebe, dann wird es auch keine Straße rauf geben. Des habe ich dir versprochen und des werde ich halten.«
Alois blinzelte Toni zu.
»Bist ein guter Bursche! Mei, ich weiß des alles ja! Aber es ist immer wieder schön, es von dir zu hören. Mein Herz hängt an dem Stückerl Erde hier.«
Anna schloß den alten Alois in die Arme.
»Bist uns doch ans Herz gewachsen wie ein Großvater! Gehörst doch zur Familie. Mußt dir wirklich keine Sorgen machen.«
Der alte Alois streichelte Anna mit seinen alten rauhen Händen die Wange.
»Danke! Bist auch wie eine Tochter für mich oder wie eine Enkelin. Beides ist mir nie vergönnt gewesen, bis du gekommen bist.«
Alois schneuzte sich in sein Taschentuch.
Toni und Anna warfen sich Blicke zu. Irgend etwas schien dem alten Alois nahegegangen zu sein.
»Sag, Alois, macht dir etwas Kummer? Grübelst du über etwas?«
Der Alte steckte sein Taschentuch in die ausgebeulte Hose aus grauem derbem Loden.
»Ich habe die letzten Wochen viel nachgedacht. Des ist in dem Alter so, in dem ich bin, daß immer weniger von dem Jahrgang übrigbleiben. Jetzt sind wir nur noch zwei mehr, als ich Finger an einer Hand habe. Dabei weiß ich des net so genau. Seit der Bernreither Hans auf dem Got-tesacker ruht, da muß ich immer an ihn denken. Der geht mir net aus dem Kopf. Das heißt, eigentlich ist es mehr sein Bruder Willi, der damals fort ist. Ist schon Jahrzehnte her, daß ich etwas von ihm gehört hab’. Ich frage mich, ob er noch lebt. Er war mein Freund, ein wahrer Freund. Ein Freund, wie man ihn nur einmal hat. Wenn er noch lebt, dann würde mich interessieren, wie er den Tod seines Bruders aufgenommen hat. Schad’ ist es schon, daß die beiden sich nie ausgesöhnt haben. Aber es gibt Sachen, da kann man bei allem Wohlwollen keinen Kompromiß machen. Da gibt es nur ein Entweder-Oder mit allen Folgen. Des war damals eine schmerzliche Sache für den Willi. Deshalb ist er gegangen. Ich an seiner Stelle hätte es wohl auch so gemacht.«
»Was war denn damals?« fragte Anna.
»Ach, eine böse Sach’. So eine böse Sach’, wie es nur zwischen zwei Brüdern geschehen kann, die Zwillinge sind. Ich mag net drüber reden. Der Herrgott hat des schon geregelt. Glücklich ist der Hans Bernreither nie gewesen. Ich hoffe, der Willi war glücklich.«
Anna schaute den alten Alois voller Mitleid an.
»Auf die Gerechtigkeit des Herrn kann man sich verlassen!« sagte Toni knapp. »Wenn einem hier auf Erden von einem anderen Menschen Unrecht getan wird, ein großer Schmerz zugefügt wird, dann hat der Herrgott für ihn ein Trostpflaster bereit, dann entschädigt er ihn. Daran glaube ich fest, felsenfest, so fest wie die Felsen vom ›Engelssteig‹ in den Himmel ragen. Deshalb bin ich sicher, daß es dem Willi Bernreither gutgeht, wo immer er auch war oder ist.«
Dann wechselte er das Thema, um den alten Alois auf andere Gedanken zu bringen. Er fragte ihn nach einem Eintopfrezept. Das lenkte den alten Mann ab. Zusammen gingen sie in die Küche.
*
Etwa zur gleichen Zeit saß Bürgermeister Fritz Fellbacher in seiner Amtsstube und grübelte. Er zählte die Wochen auf dem Kalender. Es wurde Zeit, daß etwas geschah. Es war jetzt schon einige Monate her, daß der alte Hans Bernreither verstorben war. Er hatte keine Angehörigen mehr. Bis zum letzten Tag hatte er mit einer Haushälterin auf dem Bernreither Hof gewirtschaftet. Alles war tadellos in Ordnung, sauber und ordentlich. Nach der Beerdigung reiste die alte Haushälterin ab. Sie zog zu ihrer Nichte nach Kirchwalden. Das war auch ihr gutes Recht, denn sie war eigentlich schon seit zwei Jahren in Rente. Bürgermeister Fritz Fellbacher und Pfarrer Heiner Zandler überlegten, wie es mit dem Bernreither Hof weitergehen sollte. Zunächst verteilten sie das Vieh, die Kühe, Schweine, Hühner, Gänse und Hasen auf andere Höfe, damit es versorgt war. So hielten sie es auch mit den Äckern und den Almwiesen, die zum Bernreither Hof gehörten.
Vor seinem Tod hatte Hans Bernreither Bürgermeister Fellbacher und Pfarrer Zandler einen Brief gegeben. Der war an seinen Zwillingsbruder gerichtet, mit dem er seit fast sechzig Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Darin vermachte er ihm oder seinen Nachkommen den Hof. Er setzte in dem Brief den Geistlichen von Waldkogel und den Bürgermeister als Testamentsvollstrecker ein. Keine leichte Aufgabe für die beiden. Aber sie wollten einem, der bald dem Herrgott gegenübertrat, seine letzte Bitte nicht abschlagen.
*
Auf dem Schreibtisch von Bürgermeister Fellbacher lag ein behördlichen Schreiben. Darin wurde mitgeteilt, daß man keine genauen Angaben über den Verbleib von Herrn Bernreither machen könne. Andere, frühere Anfragen hatten bereits ergeben, daß Willi Bernreither in Deutschland nicht gemeldet war.
»So ein Schmarrn! In Deutschland ist er nicht, im Ausland ist er nicht! Irgendwo muß er doch sein!«
Fritz Fellbacher faltete das Schreiben zusammen und steckte es in den Briefumschlag. Er stand auf, nahm seinen Hut mit dem großen Gamsbart und ging hinaus.
»Ich gehe zum Zandler!« rief er seiner Vorzimmerdame zu.
Es waren nur wenige Schritte vom Rathaus zur gegenüberliegenden Barockkirche und dem Pfarrhaus. Das Angelusläuten zu Mittag setzte ein. Fritz Fellbacher bekam ein schlechtes Gewissen, daß er an diesem Tag wieder nicht zum Mittagessen daheim war. Seine Frau würde ärgerlich sein. Aber die Sache mit Willi Bernreither, die brannte ihm auf der Seele. Er griff zum Handy und rief seine Frau an. Wie er vermutet hatte, war sie ärgerlich, hatte sie doch seine Leibspeise gekocht, gebratene Leber mit Zwiebeln und Äpfeln. Dazu gab es Erdapfelmus und schönen frischen Blattsalat aus dem eigenen Garten.
*
Bürgermeister Fellbacher wollte gerade am Pfarrhaus läuten, als Pfarrer Zandler aus der Tür trat.
»Grüß Gott, Fritz! Wolltest zu mir?«
»Ja, Heiner! Mußt fort oder hast Zeit?«
Die beiden Männer waren Freunde schon seit der Schulzeit. Der eine kümmerte sich um die weltlichen und der andere um die seelischen Belange der Waldkogeler. Sie duzten sich.
»Zeit habe ich schon! Ich bin auf dem Weg zum Xaver. Will heute ›Beim Baumberger‹ Mittag essen. Meine Haushälterin hat sich freigenommen und besucht ihre Schwester. Des muß auch mal sein. Willst net mitkommen?«
»Doch des mache ich! Wir haben eine Antwort bekommen auf unsere Anfrage! Hier lies! So ein Schmarrn! Des gibt es doch net! Die sind nur zu faul gewesen, richtig in den alten Akten zu suchen. Es muß doch noch mehr Spuren geben.«
»Mit weltlichen Verwaltungsangelegenheiten kenne ich mich nicht aus, Fritz. Des ist dein Ressort. Was macht dich an dem Brief so mißtrauisch? Warum zweifelst du an, was da steht?«
»Weil der Willi einen Paß hatte. Er wollte doch mit dem Schiff Richtung Pazifik. Der Paß ist doch irgendwann abgelaufen und mußte erneuert werden. Spätestens dann werden auch die Behörden im Geburtsland informiert. Es muß Unterlagen über den Willi geben. Verstehst?«
»Mmm! Wenn du des sagst, dann muß es so sein, Fritz!«
Die beiden machten sich auf den Weg zum Wirtshaus und der Pension, die Tonis Eltern in Waldkogel führten. Pfarrer Zandler kannte die Geschichte, die damals zwischen den Brüdern geschah aus Erzählungen seiner Eltern und Großeltern. Außerdem war Hans Bernreither in späteren Jahren ein gottgefälliger Kirchgänger geworden, der kaum eine Sonntagsmesse verpaßte. Wenn es die Arbeit auf dem Hof erlaubte, kam er auch mehrmals in der Woche zur Abendmesse. Er beichtete regelmäßig. Doch darüber durfte Pfarrer Fritz Zandler nicht sprechen. Wie oft er auch dem reuigen Sünder Gottes Vergebung verkündet hatte, Hans drückte die Schuld. Auf der anderen Seite war er auch stur und suchte nie nach seinem Bruder. Jetzt war es zu spät. Diese Aufgabe fiel nun dem Bürgermeister und dem Geistlichen zu.
*
Gottes schöne Welt ist groß, Fritz! Der Willi kann noch irgendwo leben. Vielleicht hat er damals irgendwo ein Plätzchen gefunden, wo er keinen Paß und keine Papiere brauchte. Er brach damals mit allen Menschen und mit seiner Heimat. Schmerz und Enttäuschung saßen zu tief. Die beiden Brüder waren wie Kain und Abel, nur daß einer den anderen nicht totgeschlagen hat. Statt des-
sen ist der eine auf und davon, hat alle Brücken hinter sich abgebrochen.«
»Heiner, das weiß ich alles! Doch in unseren modernen Zeiten muß es doch möglich sein, eine Spur zu finden oder?«
»Das sollte man annehmen! Es wäre einfacher, wenn wir einen Anhaltspunkt hätten. Der Pazifik ist groß. Da gibt es viele Staaten, Inselstaaten und Festlandstaaten, die an das Meer grenzen. Es ist eine Frage der Zeit. Wir müssen Geduld haben, Fritz!«
*
Die beiden waren beim Wirtshaus angekommen. An der Tür hing ein Schild mit den Öffnungszeiten. Für Gäste war Mittags geschlossen, bis auf Ausnahmen. Xaver und Meta machten morgens für die Pensionsgäste Frühstück. Dann war das Wirtshaus ab dem späten Nachmittag wieder geöffnet. Mittags kochte Meta nur für sich, ihren Mann Xaver und die Bichler Kinder, die jetzt bei Toni und Anna auf der Berghütte lebten. Sie gingen in Waldkogel zur Schule und aßen danach bei den Baumberger Großeltern, wie sie Xaver und Meta liebevoll nannten. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Toni und Anna waren Kinder bisher versagt geblieben. Ihre ganze Liebe galt den beiden Waisen. Auch Tonis Eltern verwöhnten die beiden, als seien sie ihre leiblichen Enkelkinder.
Fritz Fellbacher klopfte an der Tür. Xaver öffnete.
»Grüß dich, Baumberger! Schön, daß ich bei euch essen kann. Ich hoffe, daß Meta noch etwas für den Herrn Pfarrer hat.«
»Grüß Gott, Fellbacher! So knapp bemißt die Meta das Essen net. Kommt rein und setzt euch!«
*
Pfarrer Zandler und Bürgermeister Fritz Fellbacher traten ein und setzten sich an den Tisch. Sebastian und Franziska waren schon aus der Schule gekommen und warteten artig, bis Meta das Essen auftrug. Pfarrer und Bürgermeister begrüßten die Kinder herzlich. Sie empfanden sich als Paten der beiden, da sie mitgeholfen hatten, daß die beiden jetzt auf der Berghütte bei Toni und Anna leben konnten.
Meta Baumberger stellte die Schüsseln auf den Tisch. Xaver zapfte für den Geistlichen, den Bürgermeister und sich je ein Maß Bier. Dann sprach der Pfarrer das Tischgebet. Alle schlugen das Kreuz und sagten laut:
»Amen!«
Meta verteilte die Speisen. Es gab Röstkartoffeln, Sauerkraut und Bratwürste. Die Erwachsenen unterhielten sich. Sebastian und Franzi hörten zu. Der Bürgermeister und der Geistliche sprachen von der Schwierigkeit, Willi Bernreither oder seine Angehörigen zu finden, sollte er denn Angehörige, Kinder oder Enkel haben.
»Ja, da kann ich net weiterhelfen! Ich kenne auch nur die Geschichte, die man sich so in Waldkogel über den Bernreither Hof hinter vorgehaltener Hand erzählt. Aber des liegt ja auch alles schon so lange zurück. Es gibt nimmer viele, die des noch erlebt haben.«
»Ja, ja! Es müssen jetzt bald sechzig Jahre sein, daß sich die Brüder zerstritten haben«, berichtete Bürgermeister Fellbacher.
»Ja, du mußt mal überlegen, wer von dem Jahrgang noch lebt, Fritz! Des dürfte doch für dich keine große Sache sein! Du hast doch alle Urkunden auf dem Bürgermeisteramt.«
»Richtig, Fritz! Der Baumberger hat recht. Auf diesen Gedanken sind wir noch nicht gekommen! Ich kann auch mal in den alten Kirchenbüchern nachsehen. Laßt uns mal gemeinsam überlegen, wer dafür in Frage kommt.«
Pfarrer Zandler überlegte.
»Im Grunde sind des alle Leut’, die so ab fünfundsiebzig Jahre sind und älter. Der Bernreither wäre achtzig Jahre geworden, wenn ihn unser lieber Herrgott nicht vorher geholt hätte. Vielleicht weiß einer, wohin sich der Willi aufgemacht hat. Vielleicht hat ja einer mit ihm in Briefverbindung gestanden.«
»Des glaube ich net, Heiner!« Bürgermeister Fellbacher schüttelte den Kopf.
Er erinnerte an den Leichenschmaus nach der Beerdigung des Hans Bernreither auf dem Bernrei-ther Hof.
»Wenn jemand etwas gewußt hätte von dem Willi, dann hätte er etwas verlauten lassen.«
Dann fingen Xaver Baumberger, Bürgermeister Fritz Fellbacher und Pfarrer Heiner Zandler an, alle Namen aufzuzählen, die vom Alter her in Frage kämen. Meta holte nach dem Essen Papier und Bleistift. Der Bürgermeister legte eine Liste an. Die wollte er später an Hand der Unterlagen im Rathaus noch einmal überprüfen.
»Es kann ja sein, daß dem einen oder anderen etwas eingefallen ist seit der Beerdigung. Der eine weiß etwas und der andere vielleicht auch. Jeder Anhaltspunkt bringt uns weiter, Heiner.«
»Ja, das finde ich auch!« stimmte der Geistliche zu. »Mir liegt so viel daran, dem Willi zu sagen, daß sein Bruder Hans die Tat bereut hat, ein Leben lang. Vielleicht findet dann Willi auch seinen Frieden – oder seine Angehörigen, so er denn welche hat.«
Darauf tranken sie.
*
Dann las Bürgermeister Fritz Fellbacher die Namen aller vor und sagte das Alter der Personen dazu. Alle hörten zu. Die kleine Franziska neigte ihren Kopf zu ihrem Bruder und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Ich weiß net, Franzi!« Sebastian zuckte mit den Schultern.
Franziska war damit zufrieden. Sie zupfte Meta Baumberger, die neben ihr saß, an der Schürze.
»Großmutter Meta, da fehlt der Alois. Der Alois ist auch alt. Muß der net auch aufgeschrieben werden?«
»Mei, Franzi! Was bist du für ein kluges Madl! Freilich! Der Alois! Der war net bei der Beerdigung!«
»Richtig!« stimmte ihr Mann Xaver zu. »Außerdem hat der Toni neulich erzählt, daß dem Alois der Tod von dem Hans Bernreither immer noch nahgeht. Er war ja damals mit dem Willi befreundet. Ja, der Alois denkt oft an den Willi Bernreither. Vielleicht kann euch der Alois etwas sagen, was weiterhelfen kann. Der alte Alois hat ein gutes Gedächtnis!«
Sebastian nickte eifrig. Alle schauten den Buben an.
»Der Alois hat mir Briefmarken geschenkt, ganz alte. Die sind aus Australien, sagt der Alois. So genau weiß ich des net. Aber zum Namenstag hat mir der Toni doch ein Buch über Briefmarken versprochen, darin kann ich dann nachsehen und weiß dann, woher die Marken sind. Der Alois hat mir viel erzählt vom Willi Bernreither. Mei, was haben die Buben angestellt! ›Wir waren richtige Lausbuben‹, des hat der Alois gesagt!«
Der Bürgermeister und der Pfarrer sagten wie aus einem Mund:
»Dann müssen wir mit dem Alois reden!«
»Bringt doch die Kinder rauf auf die Berghütte!« schlug Xaver vor.
Ein Blick genügte und ein Kopfnicken. Der Bürgermeister und der Pfarrer tranken ihre Bierseidel aus. Während die Kinder sich anzogen und ihre Schulsachen packten, holte der Pfarrer sein altes Auto. Damit fuhren die vier hinauf auf die Oberländer Alm.
*
Wenzel Oberländer und seine Frau Hilda saßen vor der Almhütte. Als der Geistliche auf der Wiese bei der Almhütte hielt, kamen sie zum Auto gelaufen.
»Grüß Gott, Herr Pfarrer! Des ist aber eine Freud’, daß sie uns besuchen. Mei, und der Herr Bürgermeister ist auch dabei! Des ist ja dann ein hochoffizieller Besuch, oder? Da sollte ich mir vielleicht gleich mal meinen Sonntagsanzug anziehen!« sagte Xaver.
»Rede keinen solchen Schmarrn, Xaver!« schalt ihn seine Frau. »Des ist ganz mein Xaver, immer muß er übertreiben. Es paßt wie verabredet, euer Besuch. Ich habe einen Strudel gebacken. Er ist noch warm. Da schmeckt er am besten.«
»Des ist lieb, Hilda! Aber leider haben wir keine Zeit. Jetzt nicht. Wir wollen rauf auf die Berghütte. Wenn uns später noch Zeit bleibt, dann legen wir gern auf dem Rückweg eine Rast bei euch ein!« tröstete Pfarrer Zandler Hilda.
»Ja, dann ist wohl jede weitere Überredungskunst sinnlos. Wenn ihr rauf auf die Berghütte müßt, dann wollen wir euch net aufhalten. Wird wohl etwas ganz Wichtiges sein, wenn gleich zwei Amtspersonen zusammen aufsteigen«, bemerkte Wenzel mit einem Seitenblick auf die Kinder.
»Geht’s um die beiden?«
»Nein! Wir wollen mit dem alten Alois reden. Wir hoffen, daß er uns vielleicht etwas sagen kann, was den Willi Bernreither betrifft.«
»Oh, über den Bruder vom Hans!«
»Ja, genauer gesagt geht es um dessen Zwillingsbruder«, sagte der Pfarrer.
»Richtig, des sind Zwillinge gewesen«, erinnerte sich Wenzel.
Bürgermeister Fritz Fellbacher und Pfarrer Zandler verabschiedeten sich von den beiden. Sie versprachen, auf dem Rückweg eine Rast bei ihnen auf der Oberländer Alm einzulegen. Wenzel Oberländer schaute ihnen nach, wie sie den Bergpfad hinaufwanderten.
Franziska und Sebastian gingen schnell voraus. Die beiden Männer hatten Mühe, mit den Kindern mitzuhalten.
Schließlich erreichten sie die Berghütte.
»Toni! Anna!« riefen die Kinder, sobald sie das Geröllfeld erreicht hatten und rannten davon. »Toni! Anna! Wir sind da! Und wir haben Besuch mitgebracht für den Alois!«
Toni und Anna kamen sofort auf die Terrasse der Berghütte. Einen Augenblick später trat auch der alte Alois hinzu.
»Des ist wegen dem Bernreither Willi! Der Fellbacher und der Herr Pfarrer, die suchen den Willi! Ich habe ihnen erzählt, daß du mir die Briefmarken von den alten Briefen vom Willi Bernreither geschenkt hast, Alois«, stieß Basti hervor.
Er rannte in sein Zimmer. Seine kleine Schwester Franzi folgte ihm.
»Grüß Gott!« sagte Pfarrer Zandler atemlos. »Mei, haben die Kinder ein Tempo vorgelegt!«
Der Geistliche schüttelte Toni, Anna und dem alten Alois die Hand. Bürgermeister Fellbacher war nicht ganz so atemlos, aber auch etwas abgekämpft. Toni und Anna boten den beiden sofort an, sich zu setzen. Gemeinsam betraten sie die Berghütte. Die wenigen Hüttengäste saßen auf der Terrasse in der Sonne. Im Wirtsraum der Berghütte war niemand. Toni brachte einen Krug mit kaltem Quellwasser. Fritz Fellbacher und Pfarrer Zandler tranken gleich zwei Gläser. Dann fühlten sie sich besser.
Franzi und Basti kamen. Basti legte sein Briefmarkenalbum auf den Tisch. Er schlug eine bestimmte Seite auf.
»Hier! Das sind die Briefmarken!« verkündete Basti stolz.
Die Männer schauten sich die Marken an. Sie zeigten einen Frauenkopf im Profil. Die Schrift am Rand war nicht mehr zu lesen. Die Briefmarken waren alt, vergilbt und sehr verblaßt.
»Des könnte des Profil der englischen Königin sein!« bemerkte der Geistliche. »Aber viele Staaten, die zum Empire gehören, haben solche Marken.«
»Hast du die Briefe noch, Alois?«
Wortlos stand der alte Alois auf und schlurfte in seine Kammer. Es war kein guter Tag für ihn. Er hatte Reißen in den Knochen, wie er sich ausdrückte. Die Beine und besonders die Knie schmerzten. Nach einer Weile kam er mit einigen Briefen zurück. Er legte sie vor dem Pfarrer auf den Tisch.
»Mehr habe ich net! Der Willi war kein großer Briefschreiber und ich bin des auch net gewesen. Irgendwann ist dann keine Post mehr gekommen.«
Pfarrer Zandler und Fritz Fellbacher besahen sich die Briefe. Mit Alois Erlaubnis durften sie sie lesen.
Es waren nur fünf kurze Schreiben. Im ersten Brief stand, daß Willi eine Arbeit auf einer Viehfarm in Australien gefunden hatte. Er beschrieb seine Arbeit in dem weiten, weiten Land ohne Berge. Heimweh nach den Bergen stand unsichtbar zwischen den Zeilen geschrieben.
»Was muß er gelitten haben!« sagte Pfarrer Zandler leise. »So allein in einem fremden Land ohne Berge. Es gibt dort auch Berge, aber nicht in der Gegend, in der Willi damals lebte.«
Im nächsten Brief stand, daß er unter die Edelsteinsucher gegangen war. Das war auch ein hartes Leben in der Wüste von Australien. Offensichtlich war Willi bei der Suche erfolgreich gewesen. Denn im nächsten Brief schrieb er, er wollte selbst Land kaufen und Farmer werden. Er wollte ein Haus bauen, das wie der Bernreither Hof aussehen sollte.
»Eine zweite Heimat! Eine Ersatzheimat!« flüsterte Fritz Fellbacher leise.
Dann vergingen Jahre, bis Alois wieder Post bekam. Darin schrieb Willi, er sei verheiratet und habe eine Tochter, ein liebes Madl. Das Kind hieß Mary, das sei Englisch und bedeutete Maria.
Bis zum nächsten Brief vergingen über zwanzig Jahre. Dann schrieb Willi, daß Mary geheiratet habe und Mutter eines Sohnes sei, der Kilian heißt.
»Ja, des war der letzte Brief!« sagte Alois mit Traurigkeit in der Stimme. »Des ist jetzt schon lange her, mehr als zwanzig Jahre.«
Auf allen Briefen standen weder Absender noch Adresse. Der einzige Hinweis war der Ort und das Datum auf dem letzten Brief. Darin schrieb er auch, daß seine Mary einen Burschen mit Namen Bill Morgan geheiratet hatte, einen großen, stämmigen hellblonden Burschen, der wie ein Bergler aussah und die Berge auch so liebte wie er.
»Basti, hast du einen gute Atlas?«
»Der Toni hat einen ganz guten! Der ist im Wohnzimmer. Den darf ich net mit in die Schule nehmen«, schmollte Basti.
»Mei, Basti! Der ist doch viel zu schwer und so groß, daß er net in deinen Schulranzen geht! Lauf und hole ihn.«
Das ließ sich Sebastian nicht zweimal sagen.
Sie suchten den Ort des letzten Briefes im Verzeichnis und schlugen die Seite auf.
»Des ist aber net Australien, des ist Neuseeland!« sagte Fritz Fellbacher überrascht.
»So, Neuseeland!« wiederholte Alois. »Doch, doch! Des könnte passen! Der Willi, der hat oft von Neuseeland gesprochen schon als junger Bub. Warum? Des weiß ich nimmer. Vielleicht hat er in Australien des Geld verdient, um sich dann in Neuseeland niederzulassen.«
Sebastian hing mit der Nase fast auf dem Papier. Er sah sich die Karte genau an.
»Mei! Schaut! Ist des lustig! Die Berge da! Da steht: Neuseeländische Alpen!«
»Des war es! Diese ›Neuseeländischen Alpen‹, davon hat der Willi geredet. Da wollte er später immer mal hin und sehen, ob die Berge dort genauso sind, wie bei uns hier.«
»Naa, die sind net so!« sagte Sebastian laut und deutlich. »Die sind net so hoch! Und so viele Berge wie hier in den Alpen gibt es auch net.«
Toni stand auf und holte die Flasche mit dem Obstler. Er schenkte ein. Sie tranken.
»Danke, Alois! Des bringt uns ein ganzes Stück weiter, hoffe ich!« sagte der Pfarrer.
»Ja, des stimmt!«
Bürgermeister Fritz Fellbacher faßte zusammen. Willis letzter Brief kam aus Neuseeland. Dort lebte er wohl in den Bergen. Er hatte geheiratet. Seine Tochter Maria, auf Englisch »Mary«, war mit einem Bill Morgan verheiratet und ihr erstes Kind war ein Bub mit Namen Kilian.
»Jetzt muß sich etwas machen lassen!« bemerke der Bürgermeister Fellbacher.
»Ihr müßt im Telefonbuch suchen. Im Internet steht vielleicht auch etwas drin. Leider haben wir hier keinen Computer und kein Internet«, bedauerte Sebastian, der bei seinem Freund, dem Sohn des Försters, oft vor dem Computer saß.
»Des ist eben so auf einer Berghütte, Basti!« sagte Toni. »Dafür hast du hier andere Vorteile.«
Bürgermeister Fritz Fellbacher machte sich Notizen.
»Ja, dann sollten wir uns wieder runter ins Tal schaffen, Heiner!«
Der Bürgermeister schaute auf die Uhr.
»Vielleicht gelingt es uns heute noch, die Telefonnummer herauszubekommen. Dann könnten wir gleich anrufen.«
»Des wird eine Überraschung sein für den Willi, wenn er noch lebt«, sagte der alte Alois. »Seid vorsichtig! Net, daß der Willi einen Herzkasper bekommt. Sagt ihm auf alle Fälle einen schönen Gruß von mir!«
Sebastian lachte.
»Also, des ist schon gut möglich, daß die da drunten einen Schock bekommen, wenn mitten in der Nacht das Telefon läutet und sie aus dem Schlaf geholt werden. Dort ist es Nacht, wenn es bei uns Tag ist!«
»Mei, was bist du ein schlauer Bursche, Basti! An die Zeitverschiebung hat niemand von uns gedacht. Wie groß ist der Zeitunterschied?« fragte Toni.
»Des kannst auf der Karte ablesen!«
Sebastian blätterte eifrig in dem großen Weltatlas. Er schlug die Karte mit den Zeitzonen auf.
»Hier! Da kannst des sehen. Bei denen ist es jetzt schon Nacht. Die schlafen alle! Wenn hier die Sonne aufgeht, dann haben die dort den Tag schon hinter sich. Wenn hier Nacht ist, ist dort schon wieder der neue Tag angebrochen.«
»Na, da haben wir genügend Zeit, eine Telefonnummer herauszubekommen, wenn es eine gibt. Wir warten eben bis Mitternacht und rufen dann an, Heiner! Was meinst du?«
»Ja, außerdem kommt es jetzt auf einige Stunden nicht an. Wir müssen auch genau überlegen, wie wir vorgehen, was wir sagen und wie wir es sagen, Fritz! Der Himmel stehe uns bei und beschütze den Willi, wenn er noch lebt. Wie wird er es nach all den Jahren aufnehmen, etwas aus seiner alten Heimat zu hören?« sagte Pfarrer Zandler ernst.
Sie standen auf. Für den Weg hinunter nach Waldkogel gaben Toni und Anna Pfarrer Zandler und Bürgermeister Fellbacher zwei Flaschen mit Quellwasser mit und einige Riegel Schokolade. Sie sollten unterwegs rasten.
Der alte Alois brachte sie bis zum Ende des Geröllfeldes. Dort schüttelte er den beiden die Hände. Er nahm ihnen noch einmal das Versprechen ab, dem Willi Grüße zu bestellen, wenn sie ihn denn antreffen würden.
»Sagt dem Willi, daß ich ihn nie vergessen habe!«
»Das tun wir! Das tun wir bestimmt, Alois!«
Der alte Alois sah ihnen nach, bis sie um die Biegung des Bergpfades verschwunden waren. Dann ging er langsam zur Berghütte zurück. Er setzte sich auf die Terrasse, faltete die Hände und schaute hinauf zum Gipfel des »Engelsteigs«. Seit Alters her erzählten die Waldkogeler schon, daß vom Gipfel des »Engelsteigs« die Engel direkt in den Himmel aufstiegen. So brachten sie die Gebete der Menschen im Tal hinauf zum Herrgott.
Der alte Alois richtete seinen Blick auf das Gipfelkreuz. Es leuchtete wie ein Wegweiser in den Himmel.
Stumm formulierte er seine Ansprache an die Himmelsboten: »Hört, ihr Engel! Ihr habt von hoch oben dort alles im Blick! Schade, daß ihr net mit mir sprechen könnt. Zu gern hätte ich gewußt, was mit dem Willi ist. Nun ja, da muß ich mich noch gedulden. Jetzt habe ich eine so lange Zeit nix mehr von ihm gehört, da kommt es auf einen Tag mehr oder weniger auch net an. Trotzdem bin ich ungeduldig und unruhig. Er war wirklich ein guter Freund, auch wenn es schon so lange her ist, daß wir beieinander gewesen sind. Ich hoffe, daß es ihm gutgeht und er noch auf der Erd’ ist. Paßt gut auf ihn auf. Es wird net leicht für ihn sein, wenn er jetzt die Nachricht aus seiner Heimt bekommt.«
Dann lehnte sich der alte Alois auf den Stuhl zurück und schaute in die Weite.
Anna trat zu ihm.
»Geht es dir gut, Alois?«
»Ja, Anna! Ich werde gleich reingehen und mich hinsetzen und dem Willi einen langen Brief schreiben. Es ist viel zusammengekommen. Des wird ein halbes Buch werden. Wenn er noch lebt und der Pfarrer und der Bürgermeister ihn finden, haben sie auch die Adresse, dann kann ich ihm endlich einen Brief schicken. Des ist schön!«
»Ja, Alois! Das ist sehr schön. Du kannst ihm auch Fotos schicken von der Berghütte und was du sonst noch denkst, daß es ihm Freude macht.«
»Ja, des mache ich! Des ist eine gute Idee, Anna!«
Anna half dem alten Alois beim Aufstehen. Er hatte Schmerzen. Tapfer setzte er Schritt vor Schritt. Anna brachte ihn in die Berghütte. Sie holte ihm seinen Schreibblock und seinen altmodischen Federhalter, mit dem er immer schrieb. Alois fing sofort mit dem Brief an.
So verging der Rest des Tages. Alois schrieb nach dem Abendessen weiter. Er hörte erst auf, als Anna und Toni schlafen gingen. Dann legte er sich auch hin. Aber er war mit dem Brief noch nicht zu Ende. Er hatte seinem alten Freund so viel zu erzählen.
*
Bürgermeister Fellbacher und Pfarrer Zandler hielten sich zu Hildas Bedauern doch nicht auf der Oberländer Alm auf. Sie verstand, daß es die beiden eilig hatten. So packte sie ihnen den Strudel ein. Das paßte gut, denn Helene Träutlein, die Haushälterin von Pfarrer Zandler, würde erst spät am Abend oder sogar erst am nächsten Tag vom Besuch bei ihrer Schwester zurückkommen. Auf der anderen Seite gefiel den beiden Freunden, daß sie ungestört waren. In der Studierstube des Pfarrers setzten sie sich an den Computer. Bei Kaffee und Strudel widmeten sie sich den weiteren Nachforschungen. Es war nicht schwer. In dem Ort in den Neuseeländischen Alpen gab es mehrere Telefonanschlüsse, die auf den Namen Morgan angemeldet waren. Einer davon war auf Mary und Bill Morgan gemeldet.
»Des muß der richtige sein!« sagte Fritz Fellbacher immer und immer wieder.
Er war ungeduldig. Nervös behielt er die Uhr im Blick. Aber es würden noch Stunden vergehen, bis sie in Neuseeland anrufen konnten.
Dann war es Mitternacht. In dem Inselstaat im Pazifik mußte es Vormittag sein. Pfarrer Zandler schickte ein stilles Stoßgebet zum Himmel. Dann wählte er die Telefonnummer. Es läutete hin. Eine weibliche Stimme meldete sich. Pfarrer Zandler reichte Fritz Fellbacher das Telefon. Dieser sprach besser Englisch als der Geistliche. Viel sprach er auch nicht und er hatte einen schauderhaften Akzent. Aber immerhin konnte er so viel herausfinden: Willi Bernreither war mit Kilian unterwegs um nach dem Vieh zu sehen. Mary und Bill waren zum Einkaufen. Es war wohl eine Hausangestellte, die am Telefon war. Nach etwas längerem hin und her, bekam Fritz Fellbacher eine Fax-Nummer. Er verabschiedete sich und legte auf.
»Mei, war des anstrengend!« Fellbacher wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. »Also Heiner! Des ist die Fax-Nummer der Familie Bernreither-Morgan. Der Willi muß noch bei recht guter Gesundheit sein, wenn er mit seinem Enkel nach dem Vieh schauen ist. Jetzt können wir warten und später noch einmal anrufen oder wir schicken ein Fax. Was meinst du?«
»Wir faxen! Ich schreibe als Geistlicher ein paar Zeilen. Die schicken wir zusammen mit dem Brief vom Hans Bernreither über das Fax nach Neuseeland. Dann liegt es beim Willi, zu entscheiden. Irgendwie wird er schon reagieren, denke ich mir.«
»Des ist eine gute Idee, Fritz! Nimm des Briefpapier mit der Kirche drauf, des schaut so schön amtlich aus.«
Pfarrer Zandler setzte sich sofort an seinen Schreibtisch. Er nahm einen Briefbogen. Mit seiner ihm eigenen steifen Handschrift schrieb er:
Mein lieber Willi Bernreither!
Mein Name ist Heiner Zandler. Ich bin der Pfarrer in Waldkogel. Zusammen mit dem Bürgermeister Fritz Fellbacher suchen wir Sie seit mehreren Monaten. Das war eine schwierige und mühsame Angelegenheit. Durch Zufall erfuhren wir, daß sie dem Alois einige Male geschrieben hatten. Leider gaben Sie nie einen Absender an. Durch detektivische Arbeit fanden wir heraus, daß Sie in Neuseeland leben müssen und haben über die Auskunft die Telefonnummer erhalten. Leider waren sie nicht daheim. Eine Frau sagte uns, Sie seien mit Ihrem Enkel nach dem Vieh sehen. Wir schließen daraus, daß Sie sich bei guter Gesundheit befinden.
Sicherlich wundern Sie sich, so plötzlich etwas aus ihrer Heimat zu hören, beziehungsweise zu lesen. Es ist viel Zeit vergangen, seit Sie das schöne Waldkogel verlassen haben.
Waldkogel ist noch immer so schön, wie es einst war, vielleich noch schöner. Auf den Höfen haben Generationen gewechselt. Menschen sterben und Kinder werden geboren – das ist der Kreislauf des Lebens.
Ich als Geistlicher denke mir, daß Sie, auch wenn Sie alle Kontakte zum Bernreither Hof abgebrochen hatten, doch wenigstens gelegentlich an den Hof gedacht haben. Viel Zeit ist vergangen. Ihre Eltern sind inzwischen verstorben. Ihr Zwillingsbruder ist seit langem Witwer gewesen. Kinder und somit Erben hatte er nicht.
Mein lieber Willi Bernreither, ich kann mir denken, was Sie aus diesen Zeilen entnehmen. Ja, es ist so! Ihr Bruder fand seine letzte Ruhe auf unserem Friedhof hinter der schönen Barockkirche. Der Bernreither Hof ist jetzt verwaist.
Ihr Bruder gab uns einen Brief für Sie. Darin steht alles, was Sie wissen müssen. Wir möchten den letzten Willen von Hans Bernreither erfüllen und bitten Sie, uns mitzuteilen, was mit dem Hof geschehen soll. Sie können mich auf dem Pfarramt anrufen oder sich mit Bürgermeister Fritz Fellbacher in Verbindung setzen.
Lieber Willi Bernreither, als Seel-sorger bete ich für Sie, daß Sie einen Weg finden, am Grab Frieden mit Ihrem Bruder zu schließen. Das war sein Wunsch. Er hat oft mit mir über das damalige Ereignis geredet. Ihn reute seine Tat sehr. Lesen Sie sein Vrmächtnis!
Ich wünsche Ihnen Gottes Segen und die Kraft für eine Entscheidung, die Ihnen Frieden bringt.
Ihr Pfarrer Heiner Zandler aus Waldkogel
PS. Ich darf Ihnen herzliche Grüße Ihres alten Freundes Alois übermitteln. Er wohnt auf der Berghütte bei Toni und Anna Baumberger.
Der Geistliche schraubte den Füllhalter zu und gab den Brief Fellbacher zu lesen.
»Des hast du gut gemacht, Heiner! Dann wollen wir!«
Sie schickten den Brief des Pfarrers und den Brief von Hans Bernreither als Fax nach Neuseeland. Fast andächtig standen sie vor dem Faxgerät. Es zog die Blätter ein und lud die Informationen in den Speicher. Dann erschien auf dem Display der Text: Wird gesendet! Obwohl es nicht einmal eine Minute dauerte, kam es den beiden sehr lange vor, bis das Gerät den Vorgang als abgeschlossen meldete und den Sendebericht ausdruckte.
»So, jetzt haben wir alles getan!« seufzte Bürgermeister Fritz Fellbacher.
»Ja! Jetzt müssen wir uns nur noch in Geduld üben. Das wird mir nicht schwerfallen, Fritz. Ich bin sehr müde. Im Eiltempo rauf auf die Berghütte und wieder herunter, das war ein bissel viel. Des bin ich nimmer gewöhnt. Zum Glück weiß der Doktor nichts davon. Der Martin würde mit mir schimpfen. Aber es ist ja gutgegangen.«
Pfarrer Zandler brachte den Bürgermeister noch zur Tür. Wortlos schüttelten sich die Freunde die Hand. Dann ging Fellbacher durch die Nacht nach Hause. Pfarrer Zandler legte sich sofort hin und schlief gleich ein.
*
Zur selben Zeit, als Bürgermeister Fellbacher heimging und Pfarrer Zandler sich schlafen legte, weckte Bello Toni und Anna.
»Der Hund bellt!« sagte Toni.
Mit einem Sprung war er aus dem Bett.
»Da ist doch hoffentlich nix passiert!«
Toni rannte barfuß hinaus in die Wirtsstube und machte Licht. Bello, der junge Neufundländer, saß hinter der abgeschlossenen Tür und gab Laut.
»Ruhig, Bello! Ich bin ja schon da!«
Anna kam hinzu. Sebastian und Franziska erschienen ebenfalls im Wirtsraum der Berghütte.
»Ihr geht gleich wieder ins Bett! Morgen ist Schule! Ab mit euch!«
Anna legte rechts und links die Arme um die Schultern der Kinder und brachte sie zurück ins Bett.
Toni öffnete die Tür. Er hielt die Stablampe hoch. Der Lichtkegel wanderte über die Terrasse der Berghütte. Eine Person kauerte sich auf der Bank zusammen. Jetzt hob er den Kopf und blinzelte in den Schein der Lampe.
»Mei, des ist ja der Titus Haltinger! Ja mei, Titus! Was machst du hier draußen?«
Titus hielt abwehrend die Hand vor die Augen. Toni schaltete die Lampe aus.
»Ich wollte euch net stören und hab’ mich hierher gelegt. Der Bello hat mich gehört. Tut mir leid, daß ihr aufgewacht seid.«
»Nun, komm’ schon mit!«
Titus folgte Toni in die Berghütte.
»Setz dich an den Kamin!« sagte Toni.
Er legte einige Holzscheite in die Glut. Die Flammen züngelten.
Toni ging ins Schlafzimmer und zog sich etwas über.
»Toni, was ist los?« Anna kam aus den Kinderzimmern.
»Zum Glück ist es wohl nix Schlimmes. Der Titus vom Haltinger Hof lag draußen auf der Bank. Gehe du wieder schlafen, Anna. Ich kümmere mich um ihn.«
Anna kroch wieder ins Bett und zog die Decke hoch. Sie schlief sofort ein.
Toni ging in die Küche und kochte eine Kanne Kräutertee. Er füllte einen großen Becher und gab viel Honig dazu.
»Hier, Titus! Des ist warm und süß! Trink! Dann fühlst dich besser. Schaust erbärmlich aus!«
Titus nippte vorsichtig am heißen Tee. Toni setzte sich zu ihm an den Kamin.
»Was ist los? Was treibst du dich mitten in der Nacht in den Bergen herum?«
»Hier hab’ ich meine Ruhe! Daheim war’s heute wieder mal net zum Aushalten. Ständig geraten Thomas und ich uns in die Wolle. Er mischt sich in alles ein. Der Vater hat die Aufgaben auf dem Hof klar verteilt. Doch der Thomas schert sich einen Teufel darum. Ständig versucht er, mich zu kontrollieren. Soll er sich doch um seine Sachen kümmern! Die bleiben dann liegen. Aber sie müssen auch gemacht werden. Da packe ich eben zu. Ich kann net sehen, wenn die Arbeit liegen bleibt. Dann braust Thomas auf, daß ich mich um mein Zeug kümmern soll.«
Titus trank wieder einen Schluck Tee.
»Der Thomas ist ein richtiger Hitzkopf und Sturbock. Ein Dickschädel ist er. Er will immer mit dem Kopf durch die Wand. Die Eltern sind schon auch am Verzweifeln. Der Vater hat sich gedacht, wenn er das alles regelt, dann gibt es Ruhe auf dem Hof. Er hat uns sogar schriftliche Listen gegeben. Des fand ich gut. Jetzt ist alles geregelt, hoffte ich. Aber des war ein Irrtum. Der Thomas hält sich net dran. Heute war es wieder ganz besonders schlimm. Ich wollte nach dem Abendessen mit ihm drüber reden. Da waren die Eltern dabei und unsere Schwester, die Lotti. Sie hat einen guten Einfluß auf den Thomas und kann ihn meistens besänftigen. Aber heute hat er sich net beruhigen wollen. Fast wäre es in eine handfeste Schlägerei ausgeartet. Der Thomas ist so ein Hitzkopf. Der Vater ist aber dazwischen gegangen.«
Titus trank den Becher aus. Toni schenkte ihm nach.
Der junge Haltingerbauer sah Toni traurig an.
»Toni, ich sehe keine Zukunft mehr auf unserem Hof. Manchmal schreie ich stumm hinauf zum ›Engelsstieg‹. Warum muß ich so einen Zwillingsbruder haben? Er ist nur wenige Minuten älter als ich. Daraus leitet er wohl des Vorrecht ab, alles bestimmen zu dürfen. Er ist zwar der Ältere von uns, doch die Eltern haben nie einen Unterschied gemacht. Unser Hof ist so groß, daß wir alle gut davon leben können, besonders seit die Eltern noch Fremdenzimmer und Ferienwohnungen angebaut haben. Sie wollen, daß wir beide einmal den Hof übernehmen. Des versuchen sie zu regeln. Aber mit dem Thomas wird des nix.«
»Des ist wirklich nicht schön, was du da erzähltst, Titus.«
Toni war voller Mitgefühl.
»Naa! Beschämend ist es auch, wenn sich zwei Brüder net einig werden können.«
Titus sah Toni in die Augen.
»An mir liegt es net! Ich will Frieden und Eintracht. Des muß doch möglich sein, hoffte ich immer. Doch des war ein Irrtum. Ich dachte, wenn wir älter werden, dann ändert es sich. Das war auch wiederum ein Irrtum. Es wird nicht besser mit dem Thomas, es wird schlimmer.«
Titus seufzte tief.
»Toni, ich will auch ein Madl haben, mal heiraten und friedlich auf dem Haltinger Hof mit meiner Familie leben. Doch so wie es jetzt ist, das kann ich keinem Madl zumuten. Jeden Tag gibt es Streit.
Titus bekam feuchte Augen. Es ging ihm alles nah. Er räusperte sich und schneuzte in sein Taschentuch.
»Naa, eine Zukunft auf dem Haltingerhof, die gibt es für mich net. Das ist eine bittere Erkenntnis, Toni.«
»Was willst jetzt machen?«
»Ich bleibe eine Weile hier auf der Berghütte, dachte ich mir. Einen Plan habe ich nicht – noch nicht. Ich will nachdenken, verstehst?«
Toni nickte. Er gab Titus zu verstehen, daß es ganz gut wäre, wenn er eine Zeitlang vom Hof fort sei. Vielleicht käme Thomas dann zur Ruhe und zur Einsicht.
Titus lachte bitter.
»Wie sagt man so schön? Dein Wort in Gottes Gehörgang! Aber es heißt auch, die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich habe jedenfalls eine Entscheidung getroffen. Ich sehe für mich keine Zukunft auf unserem Hof.«
Toni sah wie Titus Augen erneut feucht wurden. Er hängt mit jeder Faser seines Herzens an seiner Heimat. Es schmerzt ihn sehr.
»Titus! Es wäre gut, wenn du jetzt schlafen gehst. Du bist aufgewühlt. Es bringt nix, jetzt darüber zu grübeln. Morgen ist auch noch ein Tag. Morgen früh geht die Sonne wieder über den Bergen auf. Schlaf erst einmal! Du kannst dich bei uns im Wohnzimmer auf das Sofa legen.«
Toni zeigte Titus, wo er sich hinlegen konnte und gab ihm Bettzeug. Dann ging Toni wieder schlafen.
»Alles in Ordnung?« murmelte Anna.
»Ja! Titus nächtigt im Wohnzimmer!«
Toni und Anna kuschelten sich aneinander und schliefen ein.
*
Das Fax war in Neuseeland angekommen. Die junge Hausangestellte nahm es aus dem Gerät und schaute darüber. Sie konnte es nicht lesen, weil es in deutscher Sprache war. Sie nahm es mit in die große Wohnküche, dem Treffpunkt der großen Bernrei-ther-Morgan-Familie. Alle sprachen Deutsch, und Deutsch wurde auch untereinander gesprochen. Sie legte es auf den Tisch. Sicherlich würde es Abend werden, bis die Familie zusammenfinden würde. Kilian war mit Großvater Willi beim Vieh. Kilians Eltern waren in die Stadt zum Einkaufen gefahren. Kilians Schwestern waren auch nicht da. Sie besuchten mit ihrer Großmutter Verwandte auf der Nordinsel in Wellington und würden erst wieder in zwei Wochen kommen.
Der Tag verging. Die Sonne stand tief, als die einzelnen Familienmitglieder wie auf Verabredung heimkamen. Sie zogen sich um und setzten sich an den Tisch. Großvater Willi saß an einem Tischende, sein Enkel Kilian am anderen Ende.
Willi Bernreither hatte das Fax bereits gesehen. Sein Herz schlug schneller, als er das Wort »Waldkogel« auf dem Briefkopf von Pfarrer Zandlers Schreiben las. Er legte es zur Seite.
»Vater, was Wichtiges?« fragte seine Tochter.
»Post von daheim! Aber des kann warten! Ich habe sechzig Jahre keine Post erhalten, jetzt kommt es auf die halbe Stunde auch nicht an.«
Alle schauten sich stumm an. Der Großvater übersah die Blicke. Er faltete die Hände.
»Kilian! Du übernimmst das Tischgebet!«
Ein Blick des Erstaunens huschte über das Gesicht des Enkels. Bisher war es immer Großvater Willi gewesen, der das Tischgebet gesprochen hatte. Es dauerte einen Augenblick, bis Kilian sich gesammelt hatte, dann kam er der Bitte seines Großvaters nach.
Das Abendessen verlief fast schweigend. Spannung lag in der Luft. Jeder machte sich so seine Gedanken. Mary warf ihrem Vater Seitenblicke zu. Doch dessen verschlossener Gesichtsausdruck riet ihr, ihn nicht zu bedrängen. Sie aßen zu Ende. Das Hausmädchen räumte ab.
Willi Bernreither seufzte. Er setzte seine Lesebrille auf. Dann griff er nach den Blättern. Er lehnte sich zurück und las. Seine Augen blitzten von Zeile zu Zeile. Wenn er mit einer Seite fertig war, dann legte er sie mit der Schrift nach unten auf dem Tisch ab und las das nächste Blatt.
Endlich war er fertig.
Seine Tochter Mary, ihr Mann Bill und Enkel Kilian schauten ihn erwartungsvoll an.
Willi Bernreithers Gesichtszüge ließen keine Schlüsse zu. Unbeweglich saß er auf der Eckbank. Sein Blick war weit in die Ferne gerichtet. Sein ganzes Leben lief vor ihm ab. Die Erinnerungen an Waldkogel, die er jahrelang verdrängt hatte, holten ihn mit Macht ein.
Er trank einen Schluck Bier.
»Ja, die Vergangenheit hat mich eingeholt. Ich habe mir nicht gewünscht, daß es einmal so kommt. Aber keiner kann sich im Leben alles aussuchen. Da muß ich jetzt durch!«
Seine Tochter, die neben ihm saß, legte ihm behutsam die Hand auf den Unterarm.
»Vater! Was ist? Kann ich dir helfen? Kann Bill etwas für dich tun oder Kilian? Nun, rede schon! Ich sehe doch, wie bewegt du bist.«
Willi Bernreither tätschelte die Hand seiner Tochter.
»Danke, Mary! Es ist nix Schlimmes. Ich bin nur überrascht. Doch eigentlich müßte ich es nicht sein.«
Willi Bernreither zog die Geldbörse aus der Gesäßtasche seiner Jeans. Er nahm ein kleines zusammengefaltetes Stück Papier heraus.
»Die Todesanzeige habe ich schon vor Monaten aus der Zeitung ausgeschnitten!«
Mary wußte, daß ihr Vater sich seit vielen Jahren die Wochenzeitung aus Kirchwalden schicken ließ. Er bezahlte sogar das Porto für die Luftfracht.
Willi legte das kleine Stück Papier auf den Tisch und glättete es mit den Händen. Dann schob er es seiner Tochter hin. Sie las es gemeinsam mit ihrem Mann Bill. Dann las es Kilian.
»Großvater! Wer war dieser Hans Bernreither? Ich dachte, du hättest keine Verwandten mehr? Ich dachte, sie wären alle tot.«
»Bub, für mich waren sie das auch!«
Willi kämpfte mit seinen Gefühlen.
»Das, was mir der Hans damals angetan hat, das war schlimm. Es hat lange gedauert, bis ich darüber hinweg war. Das war erst, als ich deine Großmutter kennenlernte und mit ihr hierher nach Neuseeland bin. Wir heirateten und ich baute hier den Bernreither Hof.«
Er räusperte sich.
»Der Bernreither Hof, der schaut fast genauso aus wie der Bernreither Hof in Waldkogel. Eigentlich könnte ich sagen, daß das hier der neue Bernreither Hof ist und der in Waldkogel ist der alte Bernreither Hof.«
Willi zuckte mit den Schultern.
»Ich will euch jetzt nicht die Einzelheiten erzählen, warum ich damals als junger Bursche fort bin, warum ich in die Welt hinaus geflohen bin. Das ist Vergangenheit. Gegenwart ist, daß ich eine Entscheidung treffen muß. Dieser Hans Bernrei-ther war mein Zwillingsbruder. Er ist verstorben und hat keine Angehörigen. Also haben der Bürgermeister und der Pfarrer von Waldkogel nach mir gesucht. Aber lest selbst, genug Deutsch könnt ihr ja.«
Willi schob die Blätter seiner Tochter Mary hin. Sie las. Wenn sie mit einer Seite zu Ende war, gab sie sie an ihren Mann weiter. Er las sie und reichte sie Kilian. Währenddessen beobachtete Willi seine Angehörigen.
»Dann hast du dein Elternhaus geerbt, Großvater, wenn ich das richtig verstehe, wie?«
»Ja, das habe ich! Jetzt muß ich entscheiden, was damit geschehen soll. Ich kenne mich mit den Erbsachen in Deutschland nicht aus, weiß nicht, wie das heute so ist. Tatsache ist, daß ich mich dazu erklären muß. Außerdem haben die beiden, der Pfarrer, wie auch der Bürgermeister, viel Mühe auf sich genommen, mich zu finden.«
»Willst du nach Deutschland fliegen, Großvater?«
Willi Bernreither spürte, wie sein Herz klopfte. Es gibt immer noch Bande. Auch wenn ich mich noch so wehre, meine Wurzeln liegen in Waldkogel.
»Wenn ich das von hier aus regeln kann, dann ist mir das lieber!«
Mary stand vom Stuhl auf und setzte sich neben ihren Vater auf die Eckbank. Sie legte ihren Arm um seine Schultern.
Zärtlich sagte sie:
»Vater, in diesem Augenblick verstehe ich dich so gut wie nie in meinem Leben. Jeder Mensch hat Ecken und Kanten. Oft habe ich dich nicht verstanden. Jetzt weiß ich, daß ein Geheimnis auf deiner Seele lag. Doch was sagst du immer: Es gibt nicht nur Böses und Schlechtes, sondern viel, viel mehr Gutes und Schönes. Dein Zwillingsbruder Hans ist tot. Was auch immer geschehen ist, über das du nicht sprechen willst, sicherlich gibt es auch schöne und sehr glückliche Erinnerungen an den Bernreither Hof in Waldkogel. Du bist sehr rüstig! Wenn du hinfliegen willst, dann begleite ich dich gerne. Vielleicht wird dein Herz versöhnt, wenn du dir Erinnerungsstücke holst.«
Willi streichelte seiner Tochter die Wange.
»Bist ein gutes und mitfühlendes Madl! Aber die Entscheidung muß ich jetzt nicht treffen. Ich werde den Pfarrer morgen anrufen, nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen habe. Ich habe mir hier in der Fremde ein Leben aufgebaut, hier in den schönen Neuseeländer Alpen. Was soll ich mit dem alten Bernreither Hof? Wenn ich das Erbe antrete, dann werde ich den Hof verkaufen. Aber diese Entscheidung muß ich heute auch nicht treffen. Reden wir morgen weiter.«
Alle sahen, wie aufgewühlt Willi war, obwohl er sich große Mühe gab, ruhig zu wirken. Er stand auf und ging hinaus vor das Haus. Er setzte sich auf die Bank und sah hinauf zu den Gipfeln der Berge. Doch in Gedanken sah er nicht sie, sondern den »Engelssteig« und das »Höllentor«, die Berge von Waldkogel.
Mary, die ihren Vater gut kannte, riet, ihn alleine zu lassen.
»Dann gehen wir zur Tagesordnung über«, sagte Bill. »Ich mache noch meine Abendrunde über den Hof. Du, Kilian, schaust nach den Schafen.«
So geschah es dann auch. Anschließend saßen sie noch etwas zusammen und redeten. Dann gingen sie schlafen. Willi nickte ihnen nur zu, als sie ihm »Gute Nacht« sagten. Er blieb auf der Bank vor dem Haus sitzen.
*
Kilian konnte nicht einschlafen. Unruhig wälzte er sich im Bett hin und her. Er dachte an seinen Großvater, den er über alles liebte. Schließlich stand er auf, zog sich an und ging zu ihm.
»Kannst du nicht schlafen, Großvater?«
»Nein!«
»Willst du reden? Vielleicht hilft es dir? Du hast mir so oft zugehört, wenn ich mit meinen kleinen Sorgen zu dir gekommen bin. Erinnerst du dich? Dann hast du mich bei der Hand genommen. Wir sind zur Koppel. Wir setzten uns auf die Bank und ich konnte dir mein Herz ausschütten. Jetzt ist es umgekehrt. Jetzt will ich für dich da sein!«
Willi Bernreither lächelte.
Dann stand er auf. Enkel und Großvater gingen über den gepflasterten Hof, liefen um die große Scheune herum und wanderten dann den Hang hinauf, der sich sanft bis zu einem Wäldchen erstreckte. Die Bäume hatte Willi Bernreither gepflanzt. Das war in dem Jahr, als er hier das große Stück Land in einem stillen Seitental der Neuseeländer Alpen gekauft hatte.
Sie erreichten den Waldrand und setzten sich auf die Bank.
»Ja, Kilian, was soll ich sagen? Wo soll ich anfangen? Was willst du wissen?«
»Warum bist du damals fort und hast verschwiegen, daß du einen Bruder hast, sogar einen Zwillingsbruder?«
»Ich habe es nur Mary gegenüber verschwiegen und Bill und dir gegenüber. Deine Großmutter weiß es. Sie weiß alles.«
»Jetzt will ich es auch wissen! Es ist doch nichts Schlimmes? Nichts Kriminelles?«
»Schlimm war es schon, aber nicht im Sinne der öffentlichen Gesetze, nur im moralischen Sinn.«
Willi Bernreither erzählte und sein Enkel hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen.
Als Willi und sein Bruder Hans junge Burschen waren, da interessierten sie sich auch für Madln. Hans war aus einem Grund, den Willi nie verstand, immer eifersüchtig auf alles, was Willi machte, bekam, erreichte. Willi verliebte sich in eine junge Bauerntochter. Sie hieß Berta und war sehr schön und lebensfroh. Willi und Berta kamen sich näher, trafen sich auch nachts im Heu, wie das damals wo war.
»Ich wollte das Madl heiraten«, sagte Willi leise vor sich hin.
Doch dazu kam es nicht. Sein Bruder Hans machte Berta auch heimlich den Hof. Hans war ein richtiger Hallodri, der Frauenherzen im Sturm eroberte. Willi und Hans waren ein-eiige Zwillinge. Sie glichen sich wirklich sehr. Hans machte sich oft den Spaß, sich als der ernsthaftere Willi auszugeben und nicht wenige fielen darauf herein.
»Wie es dazu kam, das habe ich nie klären können! Auf jeden Fall war es eine Gemeinheit.«
Eines Nachts erwischte Willi seinen Bruder Hans mit seiner Berta im Heu. Es kam zu einer Schlägerei. Willi tobte vor Wurt. Die Zwillingsbrüder schlugen sich und brüllten sich an. Die Eltern kamen herbeigeeilt und trieben die beiden auseinander.
»Noch bist du net mit der Berta verheiratet, Willi! Wenn dein Bruder Hans auch mit ihr anbändelt, dann mußt du des hinnehmen. Es ist nun mal geschehen. Du weißt doch, wie dein Bruder ist, Willi!« beschwor der Vater Einigkeit.
Er goß damit nur Öl ins Feuer, denn der alte Bernreither bügelte immer alles glatt, was Hans angestellt hatte.
Kilian schüttelte den Kopf.
»Was hat deine Mutter gesagt? War nicht wenigstens sie auf deiner Seite?«
»Naa! Die versuchte zwar zu schlichten, aber wenn es darauf ankam, war sie immer Vaters Meinung.«
»Und diese Berta? Was sagte sie?«
»Sie bestritt alles! Doch was ich gesehen und gehört hatte, das konnte mir keiner ausreden.«
Willi seufzte.
»Ich wußte, daß es immer Streit geben würde auf dem Hof. Hans’ Eifersucht auf alles, was ich machte, war schlimm. So packte ich noch in der Nacht meine Sachen und verließ im Morgengrauen nur mit dem was ich auf dem Leib trug und einem Rucksack voller Habseligkeiten den Hof und Waldkogel. Meine Ersparnisse reichten für eine Fahrkarte in den Norden. Ich kannte nur ein Ziel, weit fort wollte ich – nach Neuseeland. Davon hatte ich als Kind gehört und Bilder von den schönen Bergen hier gesehen.«
Doch das nächste Schiff lief nicht Neuseeland an, sondern einen Hafen in Australien. Dort heuerte er als Heizer an und verdiente sich die Überfahrt und etwas Geld. Willi nahm es als gütige Vorsehung eines weisen Schicksals. Er fand gute Arbeit, er war fleißig und sparte. Willis Glück war vollkommen, als er in
Australien eine junge Frau aus Neuseeland kennenlernte. Sie verliebten sich, heirateten und bauten in den Neuseeländischen Alpen den Bernreither Hof.
»Du mußt sehr enttäuscht gewesen sein, daß du mit deiner Heimat, mit Familie und Bruder gebrochen hast. Du fühltest dich verraten von deinem Bruder, deinen Eltern und dem Madl, dem deine Liebe galt. Wahrscheinlich hätte ich an deiner Stelle auch nie mehr etwas von mir hören lassen.«
Doch so war es nicht. Willi hatte nach einigen Jahren einen Brief heimgeschickt. Doch dieser kam ungeöffnet zurück.
»Dann weißt du auch nicht, was aus der Berta wurde?«
»Nein! Ich weiß nichts! Ich wollte nichts mehr wissen! Heimweh hat mich dann und wann schon geplagt. Dann schrieb ich dem Alois, der war mein Freund, einige Zeilen. Danach beruhigte sich mein Herz wieder. Aber niemals wieder schrieb ich meine Adresse darauf.«
Kilian verstand gar nicht, warum sein Großvater seinem Freund Alois nicht mitgeteilt hatte, wo er sich aufhielt.
Willi Bernreither erklärte es seinem Enkel:
»In so einem kleinen Dorf, da gibt es nur einen Briefträger. Jeder kennt jeden und der Briefträger schaut schon mal nach dem Absender. Es wird auch viel geredet. Ich wollte einfach nicht. Ich wollte keinen Kontakt mehr. Nur Alois sollte wissen, daß es mir gutgeht und ich glücklich bin.«
Willi und sein Enkel Kilian saßen unter dem südlichen Himmel. Der Mond schien. Es war eine warme Nacht. Sie schwiegen und schauten hinauf in die Sterne.
»Jetzt holt mich die Vergangenheit ein!« sagte Willi leise.
»Du regelst das schon, Großvater! Der Brief von deinem Bruder läßt den Schluß zu, daß er die Sache bedauerte. Er will wieder etwas gutmachen.«
»Das muß er nicht und das kann er nicht! Morgen werde ich diesen Geistlichen anrufen. Ich habe es mir überlegt. Ich werde den Hof verkaufen. Ich will nichts davon haben. Ich will nicht in alten Erinnerungen wühlen. Das tut nur weh. Aus und vorbei!«
Kilian räusperte sich.
»Schade! Dann werde ich nie ein Bild sehen von dir und deinem Bruder, wie ihr jung gewesen seid. Außerdem interessiert mich, ob der alte Hof in Waldkogel genauso aussieht wie unser Hof.«
»Das tut er! Er ist nur etwas kleiner! Die Scheune ist kleiner, die Ställe sind kleiner und auch die Zimmer. Hier habe ich alles etwas größer gebaut.«
Im Mondlicht sah Willi seinen Enkel an.
»Ich habe die Lösung, Kilian! Wenn dich das interessiert, dann will ich dir keine Steine in den Weg legen. Ich schreibe dir eine Vollmacht aus. Damit fliegst du nach Europa und regelst diese leidige Erbangelegenheit. Verkaufe den Hof. Der Preis ist mir gleich. Du wirst schon das Beste daraus machen.«
»Wirklich?«
»Ja! Du kannst dir alles ansehen! Wenn dir etwas gefällt oder du meinst, es sei wert, es nach Neuseeland zu bringen, dann packe es ein.«
Willi Bernreither rieb sich die Hände.
»Ja, das ist eine gute Idee! Nimm dir Zeit, so viel du brauchst. Mache eine schöne Reise durch Europa. Wie gefällt dir mein Vorschlag?«
»Großvater, wie kannst du nur fragen? Gut! Sehr gut! Ich wollte schon immer mal nach Europa und dort in die Alpen. Jetzt erst recht, nachdem ich weiß, daß dort deine Wurzeln sind.«
»Gut! Dann ist das beschlossene Sache zwischen uns! Hand drauf! Du mußt aber wiederkommen, gleich, was passiert!«
Kilian ergriff die Hand seines Großvaters. Er schlug ein.
»Was meinst du? Aus welchem Grund sollte ich nicht mehr heimkommen wollen?«
»Nun, es könnte ja sein, daß du dich verliebst. So etwas soll es geben.«
Kilian lachte.
»Ich werde wiederkommen, Großvater! Liebe hin oder her! Wenn ich mich verliebe, dann in eine junge Frau, die mit mir kommt.«
»Ach, Kilian! Das sagt sich so leicht! Aber ich will dir glauben.«
Kilian und sein Großvater saßen noch eine Weile zusammen. Willi erzählte seinem Enkel von Waldkogel und den Bergen. Langsam bekam Kilian eine Vorstellung von dem, was er antreffen würde. So dachte er jedenfalls.
Dann gingen sie schlafen.
Willi Bernreither rief Pfarrer Zandler am nächsten Tag nicht an. Er schickte ihm ein Fax. Darin teilte er ihm mit, daß er seinen Brief und den Brief seines Bruders erhalten habe. Er wolle das Erbe antreten. Dazu käme sein Enkel Kilian Morgan mit einer Vollmacht nach Waldkogel. Willi bat den Geistlichen und den Bürgermeister, seinem Enkel beizustehen. Er schrieb auch Grüße an den Alois.
Pfarrer Zandler eilte mit dem Fax über die Straße ins Rathaus.
»Hier, Fritz! Wir haben eine Antwort aus Neuseeland erhalten!«
Bürgermeister Fellbach las.
»Na, dann wird ja alles gut! Ich kann verstehen, daß der Willi sich den langen Flug nicht mehr zumuten will in seinem Alter. Statt dessen schickt er seinen Enkel. Leider nennt er keinen Termin.«
So hieß es wieder warten. Doch das war nicht schlimm. Die Angelegenheit war geregelt.
*
Die nächsten beiden Wochen vergingen, ohne daß Pfarrer Zandler oder Bürgermeister Fritz Fellbacher etwas aus Neuseeland hörten. Die Spannung wuchs.
Spannung herrschte während dieser Zeit auch auf dem Haltinger Hof. Lotti sprach kein Wort mehr mit ihrem Bruder Thomas. Sie weigerte sich sogar, sich mit ihm an einem Tisch zu setzen. Wenn er die Küche betrat, nahm sie ihren Teller und ging hinaus.
Eines Abends war es wieder soweit. Thomas kam in die Küche. Lotti nahm ihren Teller und ging in ihr Zimmer. Ihre Eltern, Helmut und Elli Haltinger, waren verzweifelt.
»Thomas, du mußt was tun! Unsere Familie zerbricht! Gehe rauf auf die Berghütte und versöhne dich mit Titus!«
»Bin ich auf und davon oder er? Ich laufe ihm net nach, gewiß net.«
»Was bist du für ein Dickschädel!« schrie ihn sein Vater an. »Er ist dein Bruder! Er ist fleißig und bescheiden und er hat ein herzliches, liebes Wesen. Du könntest dir mal eine Scheibe bei ihm abschneiden.«
»Ich weiß, daß du ihn mir immer vorziehst. Nie erreiche ich seine Qualitäten!«
»Schmarrn! Wenn du dich auch so benimmst, daß du immer Ärger machst. Höre doch mal auf, neidisch und mißgünstig zu sein. Gehe deinen Aufgaben nach und laß Titus die seinen machen. Ich habe alles eingeteilt. Du bist damit einverstanden gewesen. Also halte dich daran! Eines Mannes Wort sollte immer noch etwas gelten. Ich will Frieden auf unserem Hof. Wie soll das später einmal werden, wenn deine Mutter und ich nimmer schlichten können?«
Helmut Haltinger war wirklich ärgerlich. Es schmerzte ihn besonders, daß seine Tochter so unter der Abwesenheit von Titus litt. Wie sehr der Haltingerbauer auch redete, in Güte und im Zorn, es zeigte bei Thomas keine Wirkung. Es prallte alles an ihm ab.
»Helmut, nun ist es genug! Siehst doch, daß Thomas keinen Millimeter nachgibt, wie sehr du auch redest.«
So schwieg er und sein Sohn schwieg auch.
Nach dem Essen machten Elli und Helmut einen Spaziergang über die Felder hinter dem Haltingerhof. Sie beredeten die Angelegenheit. Lotti sollte auf die Berghütte gehen und ihren Bruder besuchen. Dann würde man weitersehen. Sie hofften, daß Titus, als der Einsichtigere und Verständigere, nachgeben würde. So war es bisher immer gewesen.
*
Es war an einem frühen Morgen. Ein Taxi näherte sich Waldkogel. »Bitte halten Sie am Ortseingangsschild!« sagte der junge Fahrgast. Er zahlte und stieg aus. Das Taxi wendete und fuhr die Landstraße zurück.
Kilian Morgan schulterte seinen Rucksack und schaute sich um. Sein Blick glitt hinauf zum Gipfel des »Engelssteigs«. Er erinnerte sich an die Geschichten, die sein Großvater ihm in den letzten Tagen vor seinem Abflug erzählt hatte.
»Gut! Wenn Großvater daran glaubt. Dann will ich es auch so halten! Also, ich bin der Kilian Morgan, der Enkel vom Willi Bernreither. Er hat mich hergeschickt, die Sache mit dem Hof zu regeln. Ich weiß nicht, was mich hier erwartet. Ihr Engel seht alles, steht mit dem Herrgott in Verbindung. Ich will, daß alles so wird, daß Großvater Frieden in seinem Herzen findet. Dabei könnte ich etwas Hilfe gebrauchen!« murmelte Kilian leise vor sich hin.
Dann schaute er auf die Karte, die ihm sein Großvater gezeichnet hatte. Sie stimmte nur unzulänglich, denn es war viel gebaut worden, seit er damals Waldkogel verlassen hatte. Kilian wanderte die Straße entlang. Es war kaum Verkehr, langsam wachte Waldkogel auf. Hähne krähten und Hunde bellten.
Kilian versuchte sich am Marktplatz zu orientieren. Er bog in eine kleine Seitenstraße ab. Wenn sein Großvater alles richtig aufgezeichnet hatte, dann mußte diese Straße später in einen Feldweg übergehen, der zum Bernreither Hof führte. So war es dann auch.
Bald stand Kilian auf dem Hof seiner Vorfaren. Er schaute sich um. Er lächelte.
»Wie in Neuseeland, nur viel kleiner!«
Kilian schaute durch die Fenster im Erdgeschoß des Wohnhauses. Er drückte auf die Klingel neben der Haustür – einmal – zweimal. Niemand öffnete.
Kilian erinnerte sich daran, daß ihm sein Großvater erzählt hatte, daß immer ein Ersatzschlüssel unter dem ersten Blumenkasten auf dem Fensterbrett vor dem ersten Küchenfenster lag.
»Mal sehen, ob sich hier in den Jahrzehnten etwas geändert hat«, murmelte Kilian.
Die Geranien in den Blumenkästen ließen traurig die Köpfe hängen. Ihnen fehlte Wasser. Die müssen dringend gegossen werden, dachte Kilian. Er hob den Blumenkasten an und tastete mit der freien Hand nach dem Schlüssel.
»Richtig! Da haben wir ihn ja!«
Kilian zog einen großen Schlüssel hervor. Er war leicht angerostet, doch er ließ sich im Schloß drehen. Die Haustür öffnete sich. Kilian stellte seinen Rucksack in die offene Tür. Er ging zum Brunnen auf dem Hof, füllte an der Pumpe eine blecherne Gießkanne mit Wasser und gab den Pflanzen in den Blumenkästen erst einmal Wasser. Kilian kam von der grünen Insel, wie Neuseeland auch hieß. Er liebte Pflanzen und Natur.
Erst nachdem er diese erste Arbeit auf dem Hof erledigt hatte, trat er ein. Es roch etwas stickig. Kilian ließ die Haustür offen. Er fand sich schnell in dem Gebäude zurecht. Der Grundriß entsprach seinem Elternhaus in den Neuseeländer Alpen. Er öffnete alle Fenster im Erdgeschoß. Sonne und frische Luft strömten herein.
Kilian stellte seinen Rucksack auf der Eckbank in der Küche ab. Sein Blick fiel auf den Herrgottswinkel. Wie er es seinem Großvater versprochen hatte, zündete er dort eine Kerze an. Dann schaute er sich um. Alles war sehr sauber und ordentlich.
Die alten bemalten Bauernmöbel glänzten. Kilian durchwanderte erst alle Räume im Erdgeschoß, dann nahm der sich die oberen Räume vor bis unter das Dach. Irgend jemand hatte einige der Möbel mit Bettlaken zugehängt, Kilian nahm sie ab.
Nachdem er sich alle Räume im Wohnhaus angesehen hatte, schaute er sich die Ställe, die Scheune und alle Nebengebäude an. Am Schluß war der Garten dran. Dort bot sich dem naturverbundenen Kilian ein grauenhaftes Bild. Offensichtlich hatte sich niemand in den letzten Monaten um den Garten gekümmert. Das Unkraut stand dicht und hoch.
»So kann das nicht bleiben!«
Kilian suchte sich im Schuppen die Gartenwerkzeuge zusammen. Er ging sofort ans Werk. So vergingen die nächsten Stunden. Als es Mittag läutete, machte Kilian eine Pause. In der Speisekammer fand er Einmachgläser mit Obst. Daneben hingen große Schinken. Kilian war hungrig und aß.
Danach ging er in den Garten zurück und arbeitete weiter. Alles werde ich an einem Tag nicht schaffen, dachte er. Aber wenn ich mir jeden Tag einen Teil vornehme, dann wird der Garten bald wieder schön aussehen.
Kilian trug das Unkraut und die trockenen Äste von den Obststräuchern auf einen Haufen zusammen und zündete ihn an. Es qualmte mächtig. Die Rauchsäule stieg in den blauen Himmel über Waldkogel.
Helene Träutlein, die Haushälterin des Pfarrers, putzte die Treppe im Kirchturm der schönen Barockkirche. Zufällig schaute sie aus einem der Turmfenster. Sie sah den Rauch. Von hier oben konnte sie genau sehen, daß die Rauchsäule vom Bernreither Hof aufstieg. Sie ließ den Putzlappen fallen und rannte zum Pfarrer.
»Herr Pfarrer! Da muß jemand auf dem Bernreither Hof sein! Da raucht was! Hoffentlich hat da niemand gezündelt. Wenn’s da brennen tät, des wäre net auszudenken!«
Pfarrer Zandler stieg mit auf den Kirchturm. Er schaute durch das Fernglas.
»Mei, da ist wirklich jemand auf dem Hof und der tut im Garten werkeln! Ein junger Bursche ist das! Des kann nur der Kilian sein!«
»Da müssen’s gleich hin!« sagte Helene Träutlein aufgeregt. Pfarrer Zandler beruhigte sie.
Es dauerte keine halbe Stunde dann hielt Pfarrer Zandler mit seinem alten Auto auf dem Hof. Er hupte laut und anhaltend. Er stieg aus und wartete. Es dauerte nicht lange. Ein großer, gutaussehender junger Mann mit hellen sonnengebleichten Haaren kam auf ihn zu.
»Grüß Gott! Du mußt der Kilian sein!«
»Ja, und Sie Pfarrer Zandler!«
Kilian zeigte seine schmutzigen Hände.
»Ich war im Garten!«
Kilian ging zum Brunnen und wusch sich die Hände.
»Kommen Sie herein, Herr Pfarrer!«
Sie gingen in die Küche. Kilian holte aus der Speisekammer eine Flasche mit Obstsaft und bot dem Pfarrer ein Glas an. Dabei erzählte er, daß er schon seit Sonnenaufgang da sei und wie er ins Haus gekommen war.
»Schön, daß sie hier sind, Herr Pfarrer Zandler! Dann spare ich mir den Weg ins Pfarrhaus. Ich wollte sie heute Abend aufsuchen, Sie und auch den Herrn Bürgermeister.«
»Der ist heute nicht da! Morgen früh ist er auf dem Rathaus.«
»Ich werde ihn schon treffen.«
Kilian erzählte, daß sein Großvater den Hof verkaufen wollte. Er wollte bleiben, bis ein Käufer gefunden war. Außerdem gab es Arbeit im Garten und die Hinterlassenschaft mußte durchgesehen und das Haus ausgeräumt werden. Das verstand Pfarrer Zandler.
»Ich soll auch, so bald es mir möglich ist, den Alois besuchen und ihn von meinem Großvater grüßen. Das ist für Großvater sehr wichtig, vielleicht sogar noch wichtiger als der Verkauf des Hauses.«
»Ja, dann mußt du das machen!«
Pfarrer Zandler beschrieb Kilian den Weg zur Berghütte.
»Das ist gar net so weit!«
Kilian sah auf die Uhr. Er beschloß, sofort aufzubrechen und den Alois zu besuchen.
»Auf dem Heimweg morgen früh besuche ich dann den Bürgermeister.«
»Mußt net hetzen! Laß dir Zeit!«
Doch Kilian ließ sich nicht abhalten. Er schloß alle Fenster. Er zog sich an und steckte sich einige Äpfel ein. Dann fuhr ihn Pfarrer Zandler hinauf auf die Oberländer Alm und brachte ihn auf den Weg.
»Mei, Herr Pfarrer, wer war denn der blonde Bursche? Der hat ja Haare, die sind fast weiß!« rief Wenzel dem Geistlichen zu.
Pfarrer Zandler setzte sich zu Wenzel und Hilda an den Tisch vor der Almhütte.
»Der Bursche, des war der Enkel vom Willi Bernreither aus Neuseeland!«
»Mei! Was für ein Kerl! Da muß der Willi mächtig stolz sein, so einen Enkel zu haben!«
»Das ist er bestimmt! Der Kilian macht einen guten Eindruck. Ihr werdet ihn bestimmt noch kennenlernen. Er wird länger bleiben.«
Pfarrer Zandler wechselte noch einige Worte, dann fuhr er wieder ins Tal.
*
Währenddessen saß Lotti Haltinger mit ihrem Bruder Titus beim »Erkerchen«. Lotti redete mit Engelszungen auf ihren Bruder ein.
»Wenn Thomas nicht nachgibt, dann gib du nach! Was soll denn werden, Titus? Die Eltern sind so ungücklich.«
»Ach, Lotti! Ich verstehe dich ja! Denkst du, ich bin glücklich?«
»Dann komm wieder heim! Bitte, Titus! Ich bin doch auch noch da!«
Titus schaute seine jüngere Schwester lange an.
»Versprechen kann ich dir nichts, Lotti. Aber ich werde es mir überlegen. Ich hänge genauso an unserem Hof wie du!«
Lotti stand auf. Sie mußte wieder gehen, wollte sie vor Einbruch der Dunkelheit wieder daheim sein. Titus begleitete sie nicht zurück zur Berghütte. Er blieb beim »Erkerchen« sitzen. Er wollte nachdenken.
Lotti hielt sich auf dem Rückweg nur kurz bei Toni und Anna auf. Ganz in Gedanken an ihre Brüder wanderte sie den Weg hinunter zur Oberländer Alm.
An einer engen Stelle traf sie auf Kilian. Sie standen sich einen Augenblick gegenüber und schauten sich an. Dann wollte jeder zur Seite treten und den anderen vorbeilassen. Das klappte nicht, weil beide mehrere Male in die gleiche Richtung auswichen. Sie mußten lachen.
»Ist es noch weit bis zur Berghütte?« fragte Kilian.
»Nein! Hinter der nächsten Kurve, da kannst du sie schon sehen!«
»Danke!«
»Gern geschehen!«
Kilian trat zur Seite und gab mit einer freundlichen Handbewegung den Weg frei. Lotti bewegte sich nicht von der Stelle. Sie schaute ihn nur an. Ihr Herz klopfte, raste.
Welch ein Bursche!
Wenn er aus Waldkogel wäre, dann würde ich versuchen, ihn mir einzufangen.
Welch ein fescher, strammer, kerniger Bursche!
»Ist dir nicht gut?« riß sie seine warme Männerstimme aus ihren Träumen in die Wirklichkeit zurück.
Lotti fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoß und sie errötete.
»Das ist nur das Wetter! Es war heiß den ganzen Tag!«
Dann senkte sie rasch den Blick und eilte an Kilian vorbei. Er schaute ihr nach.
Sie muß aus Waldkogel sein, dachte er. Sie trug ein Dirndl und hatte nur einen kleinen Rucksack dabei. Vielleicht kennt sie Alois? Ich muß ihn fragen. Kilian verspürte ein sehr großes Interesse, mehr über die junge Frau zu erfahren. Er ging weiter und mußte immerzu an sie denken. Aber nicht nur an sie. Kilian dachte auch an das Versprechen, das er seinem Großvater gegeben hatte. Er wollte zurück nach Neuseeland. Wenn ich mich verliebe, dann muß die junge Frau bereit sein, mit mir zu kommen. Kilian schämte sich ein wenig vor sich selbst.
Was bin ich für ein Narr! Da kreuzt zufällig eine junge Frau meinen Weg und schon stehe ich in Flammen. Ich habe hier eine Aufgabe zu erfüllen. Und am Ende ist sie in festen Händen, tröstete er sich. Dabei pochte sein Herz voller Hoffnung, daß dem nicht so sei.
Bald darauf erreichte er die Berghütte. Er blieb auf der Terrasse stehen und sprach Toni an.
»Guten Tag oder Grüß Gott, wie mich mein Großvater gelehrt hat. Ich suche den Alois. Er ist ein Freund meines Großvaters.«
Toni reichte ihm die Hand.
»Ein herzliches Grüß Gott und Willkommen! Dann mußt du der Kilian sein aus Neuseeland!«
Toni nahm Kilian mit in die Berghütte. Der alte Alois saß am Kamin. Sebastian und Franziska waren bei ihm. Er erzählte ihnen Geschichten. Der alte Alois bekam feuchte Augen, als er Kilian begrüßte.
»Mei, Bub! Was bist du für ein strammer Bursche! Schaust aus, fast wie dein Großvater damals. Nur, er hatte net ganz so helle Haare.«
»Das kommt von der Sonne bei uns daheim. Die bleicht das Haar so aus.«
Kilian setzte sich. Er übergab Alois einen dicken Brief von seinem Großvater und ein Geschenk. Es war eine ärmellose Wester aus heller Schafswolle.
»Die Wolle ist von unseren Schafen!« sagte Kilian stolz.
Bis spät in die Nacht saßen Kilian und Alois am Kamin. Kilian stellte viele Fragen, darüber, wie das damals so war. Alois versuchte sie, so gut er konnte, zu beantworten. Es ging schon auf Mitternacht zu, als Toni sich zu ihnen setzte.
»Wollt ihr das Leben von zwei Leuten an einem Abend abhandeln? Ihr könnt ruhig noch sitzen bleiben. Anna und ich gehen jetzt schlafen. Kilian, du kannst in der Kammer dahinten schlafen, die gegenüber der vom Alois. Die Tür steht auf. Ich habe deinen Rucksack schon hingestellt.«
»Danke, Toni! Gute Nacht, Toni!«
Anna kam dazu.
»Toni, es fehlt ein Hüttengast! Der Titus ist nicht da!«
»Mei, Anna! Des stimmt! Der ist net zurück! Er war mit der Lotti unterwegs. Aber die kam schon früh vorbei, kurz bevor der Kilian gekommen ist. Wo der Titus nur bleibt? Ob ich ihn suchen soll?«
Noch während Toni überlegte, kam Titus zur Hüttentür herein.
»Da bist du ja! Wir haben uns schon Sorgen gemacht! Wollte schon zum ›Erkerchen‹ gehen und dich suchen.«
»Tut mir leid, wenn ich dir Ungelegenheiten gemacht habe, Toni. Aber ich bin so in Gedanken gewesen, daß ich die Zeit vergessen habe.«
»Hast sicherlich Hunger, wie?« fragte Anna.
Titus verneinte aus Höflichkeit. Aber das ließ Toni nicht gelten.
»Anna, geh schon schlafen! Ich mache Titus noch einen Eintopf heiß.«
»Gute Nacht allerseits! Dir besonders schöne Träume, Kilian. Es ist ja deine erste Nacht in den Bergen!« sagte Anna.
Kilian bedankte sich höflich. Der alte Alois wünschte allen eine gute Nacht und ging auch in seine Kammer.
Toni stellte Kilian Titus vor. Die beiden waren sich auf Anhieb sympathisch.
»Stört es dich, wenn ich dir noch etwas Gesellschaft leiste?« fragte Kilian.
»Im Gegenteil! Erzähle mir alles über Neuseeland und deinen Großvater! Ich denke schon eine Weile darüber nach, ob ich fortgehen soll!«
Kilian setzte sich zu Titus an den Tisch. Toni brachte einen großen Teller Eintopf für Titus und drei Bier. Er setzte sich dazu. Der Neuseeländer erzählte und zeigte einige Bilder, die er in seiner Brieftasche hatte.
»Mei! Dort ist es wirklich schön. Die Berge sind fast so wie bei uns hier!«
»Deswegen suchte sich mein Großvater dieses Tal in den Neuseeländischen Alpen aus!«
»Wie lange bleibst du hier, Kilian? Ich hätte große Lust mit dir zurückzufliegen und mir deine Heimat anzusehen. Auf unserem Hof daheim habe ich keine Zukunft. Ständig gibt es Streit mit meinem Zwillingsbruder. Da ist einer von uns zuviel! Vielleicht versuche ich auch mein Glück auf der grünen Insel. Meinst, ich könnte da Arbeit finden?«
»Sicher! Du kannst gleich bei uns auf der Farm anfangen! Du mußt nicht warten, bis ich heimfliege. Solange ich hier bin, fehlen zwei Hände daheim. Ich rufe Großvater an und rede mit ihm. Wann willst du fliegen?«
»Mei, des ist ja eine Riesenchance! So bald wie möglich!«
Toni schüttelte den Kopf.
»Net so hitzig, Titus! Es gibt noch eine andere Möglichkeit.«
»Des denke ich net! Der Thomas und ich sind wie Feuer und Wasser! Einer muß fort!«
»Das weiß ich! Aber deshalb mußt du nicht nach Neuseeland gehen. Denke an die Lotti. Deiner Schwester würde es das Herz brechen. Ich denke praktisch! Der Kilian will den Bernreither Hof verkaufen. Des ist doch die Lösung! Zwei Söhne, zwei Höfe!«
Titus schaute Toni mit großen Augen an. Er brauchte einen Augenblick, bis er die Möglichkeit bedacht hatte.
»Ich kann den Hof net kaufen. Soviel habe ich nicht gespart.«
»Wenn du den Hof willst, dann finden wir sicher einen weg, Titus«, warf Kilian ein.
»Du mußt den Hof auch net kaufen. Vielleicht will ihn dein Vater kaufen. Dann kann er die beiden Höfe unter euch verteilen«, sagte Toni.
»Und ich könnte in Waldkogel bleiben«, fügte Titus leise mit einem hoffnungsvollen Klang in der Stimme hinzu.
»Wenn du willst, dann kannst du dir morgen den Hof ansehen und wir reden!«
»Du mußt mit meinem Vater reden! Aber ich werde erst einmal alleine daheim vorsprechen. Doch der Gedanke gefällt mir!« flüsterte Titus. »Neuseeland reizt mich, aber ich hänge an Waldkogel, an meiner Heimat.«
Toni ließ die beiden allein. Er ging schlafen.
Titus und Kilian saßen bis zum Morgen im Wirtsraum der Berghütte und redeten und redeten. Dabei erzählte Titus auch von seiner Schwester Lotti.
»Sag! Hat Lotti glatte schulterlange braune Haare, braune Augen und trug sie heute ein hellgelbes Dirndl?«
»Ja!« staunte Kilian.
»Dann bin ihr begegnet!«
Kilian wurde verlegen. Er wagte nicht, über Lotti etwas zu sagen oder nach ihr zu fragen. Als würde Titus Kilians Gedanken lesen können, sagte er:
»Ein richtig fesches Madl ist meine kleine Schwester! Sie verdreht jedem Burschen den Kopf. Aber wie sehr sie auch um sie werben, sie wollte bis jetzt keinen davon haben. Dir gefällt sie auch, wie?«
»Das leugne ich nicht!«
Titus schmunzelte.
»Dann wirst du sie ja bald wiedersehen!«
Kilians Augen strahlten. Titus schaute ihn an.
»Gehen wir schlafen! Wenn du von Lotti träumen willst, dann tue es. Sie ist was ganz Besonderes! Ich hoffe, ich finde einmal ein Madl, das so ist wie sie!«
Kilian sagte nichts. Er nickte Titus zu und ging in seine Kammer.
*
Lotti setzte den Weg zum Haltinger Hof wie in Trance fort. Sie erfreute sich nicht an der schönen Aussicht und sah nicht, daß Wenzel und Hilda ihr zuwinkten und ein fröhliches »Grüß Gott« zuwarfen. Sie stieg in ihren kleinen Jeep und fuhr den Milchpfad nach Waldkogel.
Ihre Eltern saßen auf der Bank vor dem Haus. Lotti fuhr ihr Auto unter den Unterstand und ging auf sie zu. Sie setzte sich.
»Madl, was hast? Sag’ doch was! Hast mit dem Titus geredet? Kommt er wieder heim?«
Mit großen Augen sah Lotti ihren Vater an.
»Ja! Titus und ich haben geredet. Er wollte noch mal drüber nachdenken!«
Das war alles, was Lotti sagte. Sie lehnte sich auf der Bank zurück und vergrub die Hände in ihre Schürzentasche. Die Eltern sahen, daß Lotti mit ihren Gedanken weit fort war.
»Lotti! Was hast denn? Ich seh’ doch, daß dich etwas beschäftigt. Hast du dich mit dem Titus gestritten?« fragte ihre Mutter.
Lotti schüttelte den Kopf.
»Mit Titus ist alles in Ordnung! Ich soll euch grüßen!«
Lotti stand auf.
»Der Hof muß gekehrt werden!« sagte sie leise.
Sie ging zum Schuppen und holte den Reisigbesen. Sie begann zu kehren.
»Lotti, was soll das? Doch jetzt net, am Abend!« rief ihre Mutter.
Lotti gab keine Antwort. Die Eltern schauten sich sorgenvoll an.
»Helmut, mit unserem Madl stimmt was net! Ich kann mich gar net erinnern, daß die Lotti sich früher einmal so sonderbar verhalten hat.«
»Ich lasse euch dann besser alleine. Ich gehe noch zum Xaver und trinke ein Bier.«
Der Haltingerbauer holte seinen Hut mit der schönen Gamsbart und ging fort.
Elli beobachtete ihre Tochter noch einen Augenblick. Dann stand sie auf und ging zu ihr. Sie legte den Arm um sie und nahm ihr den Besen aus der Hand.
»So, Lotti! Jetzt kommst mit mir! Ich habe genug Sorgen mit den Zwillingen, den sturen Mannsbildern. Ich habe keine Kraft, mir auch noch Sorgen um dich zu machen.«
Elli Haltinger ließ ihrer Tochter keine Wahl. Sie führte sie in den Garten. Dort setzten sie sich unter den Apfelbaum.
»Es ist so ein wunderbarer Abend, Lotti! Schau, wie schön die Berge in der Abendsonne leuchten!«
Lotti blickte kurz zu den Gipfeln hinauf. Die Sonne ließ die Felsen, Gletscher und Schneefelder in einem zarten Rosa bis zu einem glühenden Dunkelrot strahlen.
»Also, was ist mit dir?«
»Mutter, ich bin am Überlegen, ob ich morgen früh noch einmal hinauf zu Titus gehen soll.«
»Dann ist doch was gewesen zwischen dem Titus und dir? Dabei habt ihr euch immer so gut verstanden.«
»Naa, Mutter! Es ist nix mit dem Titus und mir!«
»Was ist es dann? Dir liegt doch etwas auf der Seele! Du weißt, du kannst mir alles sagen, des weißt doch?«
»Ja, Mutter!«
»Also, ich höre!« Ellis Stimme nahm einen strengeren Klang an.
Es dauerte einen Augenblick, dann sagte Lotti leise.
»Ich muß etwas nachsehen! Das beschäftigt mich! Ich muß immer daran denken!«
»Dann rufe doch den Titus an! Vielleicht kann er dir weiterhelfen.«
Lotti zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht! Es ist sicherlich nicht gut, wenn ich Titus ausfrage. Ich denke, es ist geschickter, wenn ich Titus morgen frische Wäsche hinaufbringe. Dann habe ich einen Grund, mich umzusehen.«
Lotti errötete. Ihre Mutter schmunzelte.
»Sag mal, mein Kind! Kann es sein, daß dir dort oben auf der Berghütte jemand gefallen hat, ein Bursche vielleicht?«
Lotti schaute ihre Mutter an.
»Das kannst du mir ansehen?« rutschte es Lotti heraus.
Die Bäuerin legte ihren Arm um Lotti und drückte sie.
»Kind, ich bin auch einmal jung gewesen! Ich frage mich schon lange, wann du dich mal verliebst.«
»Verliebt bin ich nicht!« widersprach Lotti sofort heftig.
»Gut, du bist nicht verliebt! Aber der Bursche gefällt dir?«
»Ja! Er stand auf dem Heimweg plötzlich vor mir. Er wollte rauf zur Berghütte und ich runter zur Oberländer Alm. Wir sind genau an der engen Stelle zusammengetroffen, weißt, die Stelle, die Nadelöhr heißt.«
»Wie schaut er denn aus?«
»Wunderbar! Ganz wunderbar!« hauchte Lotti mit träumerischen Augen.
Sie errötete aufs Neue.
»Mutter! Er ist net von hier! Mußt dir keine Sorgen machen. Aber ich will wissen, wer er ist, wo er herkommt. Sicherlich ist er in festen Händen. So ein Bursche läuft net als Lediger herum. Das hat die Natur net vorgesehen.«
Die Bäuerin schmunzelte.
»Du machst dir ja richtig Gedanken. Dann scheint er ein wirklicher Adonis zu sein.«
Mit träumerischen Augen beschrieb Lotti ihn ihrer Mutter.
»Er ist groß, hat breite Schultern. Ein wirklich strammer Bursche, braungebrannt. Er muß viel im Freien sein. Er sah nicht aus wie die Leute, die sich die Farbe auf einer Sonnenbank holen. Er hat helle, ganz hellblonde Haare, so wie einer, der immer in der Natur ist, in der Sonne, draußen eben. Und große blaue Augen hat er mit langen Wimpern.«
Sie hat ihn sich ja genau angesehen, dachte Lottis Mutter.
»Aber er trug keine Tracht! Keine Lederhosen! Er war in kurzen Shorts und in einem enganliegenden T-Shirt. Es war blau. Das sah gut aus zu seinen blauen Augen. Es stand etwas darauf. Aber ich kann mich nicht erinnern, was es war. Zu dumm!«
Elli lächelte.
»Wenn er auf dem Weg hinauf zu der Berghütte war, dann muß er Titus auch aufgefallen sein. Diesen Burschen kann nach deiner Beschreibung niemand übersehen.«
»Nein, den kann niemand übersehen!«
»Rufe Titus an und frage ihn!«
»Mutter! Das kann ich unmöglich tun! Wie schaut das aus? Was soll Titus von mir denken? Außerdem muß ich ihn mir aus dem Kopf schlagen. So wunderbar er auch ist. Wie sagst du immer? Man kann im Leben nicht alles haben, was man will. Man muß zufrieden sein mit dem, was man hat. Ich werde mich damit begnügen, von ihm zu träumen. Gern würde ich ihn noch einmal sehen – und wenn es nur aus der Ferne ist.«
»Ein Mann in der Ferne, der nützt dir nix, Lotti!«
»Stimmt auch wieder, Mutter!«
»Die Ungewißheit bringt nur Unruhe in dein Leben! Also gehst morgen rauf auf die Berghütte und bringst dem Titus frische Wäsche. Vielleicht siehst du ihn.«
»Wenn er nicht wandern ist oder bergsteigen ist. Ich kann mir gut vorstellen, wie er eine Felswand hinaufklettert. Er wirkt so kraftvoll, so durchtrainiert.«
»Lotti! Lotti! Dich hat es ganz schön erwischt.«
»Meinst wirklich, Mutter?«
»Ja! Du hast dich verliebt! Du wirst immer an diesen Mann denken, wenn du es nicht klärst. Du mußt dir Gewißheit verschaffen.«
»Du meinst, ich soll ihm wirklich nachlaufen?« staunte Lotti.
»Nachlaufen net! Du kannst dich in seiner Nähe aufhalten. Dann wirst schon sehen!«
»O ja!« hauchte Lotti.
Elli Haltinger stand auf.
»Ich bin müde. Ich gehe schlafen! Vorher richte ich noch einen Rucksack mit frischer Wäsche. Ich lasse ihn in Titus’ Zimmer stehen. Du kannst dich ja noch entscheiden. Denke ein bissel drüber nach. Bleib’ hier sitzen. Schaue in die Sterne. Die Sonne ist gleich untergegangen. Träume von dem Burschen und höre auf dein Herz. Einen anderen Rat, als auf dein Herz zu hören, kann ich dir nicht geben, Lotti. Mütter, Eltern, können vieles regeln für ihre Kinder. Irgendwann ist es damit vorbei. Buben müssen sich allein für das Madl entscheiden, das sie wollen und
Madln sich ihren Burschen alleine aussuchen. Sie müssen damit leben und lieben und gemeinsam die Höhen und Tiefen im Leben bewältigen. Raten sollte man als Eltern da net. Die Verantwortung, die kann keine Mutter und kein Vater wirklich übernehmen. Vielleicht verstehst du jetzt meine Worte noch nicht so ganz. Aber eines Tages hast du selbst Kinder, die dann in deinem Alter sind und sich die Fragen stellen, die du dir jetzt stellst. Sicherlich wirst du dann so mit ihnen reden, wie ich mit dir.«
»Mutter, wie bist du dir sicher gewesen, daß Vater der Richtige ist? Kann man sich nicht irren?«
»Die Liebe irrt nie! Aber es kommt leider vor, daß sich Menschen verändern. Man wird älter, damit ändert sich auch die Sicht auf viele Dinge und der Blick auf das Leben. Da kann es schon möglich sein, daß die beiden es nicht mehr schaffen, sich jeden Tag neu zu verlieben. Das ist das Geheimnis eines langen schönen und glücklichen Lebens. Zwei, die zusammengehören, müssen sich jeden Tag neu in den anderen verlieben. Jeder Mensch hat Ecken und Kanten. Schau, Thomas ist schwierig. Trotzdem lieben ihn dein Vater und ich genauso wie dich und Titus. Er ist sicherlich auch nicht glücklich. Er würde gern anders sein, aber er schafft es nicht – vielleich noch nicht.«
Elli Haltinger seufzte.
»Ich hoffe, er verliebt sich bald in ein Madl. Vielleicht ist die Liebe so groß und die Umstände so glücklich, daß er auf den elterlichen Hof seiner Braut einheiratet. Dann wären alle Probleme gelöst.«
»Mutter! Ihr würdet Thomas gehen lassen?« staunte Lotti. »Ich dachte, Vater wollte, daß Thomas und Titus beide auf dem Hof bleiben. Ich will auch bleiben.«
Die Bäuerin setzte sich wieder zu ihrer Tochter.
»Lotti! An oberster Stelle steht für mich und für deinen Vater die Zufriedenheit unserer drei Kinder. Sicher werden wir keinem von euch Steine in den Weg legen. Dir auch nicht, falls du nich auf dem Hof bleiben willst oder kannst.«
»Ich gehe nie vom Haltingr Hof fort, Mutter! Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben!«
»Da mußt dir keine Sorgen machen! Wenn es soweit ist, daß du eine Entscheidung treffen mußt, dann wirst du dich richtig entscheiden und auch glücklich werden, Lotti. Da bin ich mir ganz sicher.«
Die Bäuerin stand auf.
»So, genug für heute! Es kommt, wie es kommt, wie es der Herrgott vorgesehen hat. Und wie es auch kommt, die Liebe gibt einem die Kraft, alles zu meistern.«
Elli Haltinger ließ ihre Tochter alleine im Garten zurück.
Lotti saß unter dem Apfelbaum und dachte an den Burschen mit dem hellen Haar und den großen blauen Augen. Sie sehnte sich danach, in seinen starken Armen zu liegen. Lotti schaute hinauf zum Mond, der groß und silbern am Himmel über Waldkogel stand, inmitten der Sterne. So vergingen die Stunden bis zum Sonnenaufgang. Erst dann schlich sich Lotti in ihr Zimmer und legte sich schlafen.
*
Elli Haltinger stand am Herd ihrer Küche und wendete die Fleischfrikadellen. Lotti stand am Küchenschrank und holte sich eine Tasse. Sie war erst aufgestanden und hoffte, eine starke Tasse Kaffee würde die Lebensgeister wecken.
Schritte drangen durch den Hausflur.
»Mutter! Vater!«
»Titus!« schrie Lotti laut heraus.
Dann kam Titus in die Küche. Hinter ihm trat ein junger Mann herein.
Lotti fiel die Tasse aus der Hand. Sie zerbrach auf dem Fußboden in zwei Teile. Lotti errötete tief. Sie bückte sich und hob die Scherben auf. Sie warf sie in den Mülleimer.
»Mutter! Lotti! Das ist Kilian Morgan aus Neuseeland. Ich habe ihn auf der Berghütte kennengelernt. Er ist der Enkel von Willi Bernreither. Er ist gekommen, um das Erbe seines Großvaters zu regeln.«
Die Haltingerbäuerin wischte sich ihre Hände an der Küchenschürze ab. Sie ging auf Kilian zu.
»Grüß Gott! Dann willkommen in Waldkogel!«
»Ein wunderschöner Ort!«
Sie gaben sich die Hand.
Dann trat Kilian auf Lotti zu.
»So, dann heißt du Lotti! Grüß Gott! Ich bin der Kilian! Wir sind uns gestern bereits kurz begegnet. Da vergaß ich, mich vorzustellen!«
Lotti schaute auf die dargebotene Hand und zögerte. Dann griff sie zu. Sein Händedruck war fest. Seine Hand fühlte sich weich und warm an.
»Grüß Gott, Kilian!«
Er lächelte sie an.
»Sollte ich der Grund sein, daß dir die Tasse aus der Hand gefallen ist, dann tut es mir leid. Eigentlich wollte ich nicht so hereinplatzen. Aber ich war beim Pfarrer und beim Bürgermeister, wegen dem Erbe. Dein Bruder Titus hat mich begleitet. Pfarrer Zandler meinte, ich sollte gleich mit Titus gehen und mit dem Bauern reden. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen! Das sagt mein Großvater oft.«
»Herr Morgan, Sie sprechen gut Deutsch, sogar ein bissel wie wir hier auf dem Land!«
»Sagen S’ Kilian zu mir! Wir reden daheim bei uns auf der Farm in der Familie nur Deutsch. Meine Groß-mutter ist auch deutscher Abstammung und mein Vater ein Nachkomme von deutschen Einwanderern.«
»Willst du mit uns zu Mittag essen? Es dauert allerdings noch ein bissel, bis des Essen fertig ist«, fragte die Bäuerin.
Sie wollte ihn etwas aufhalten, damit sie ihn näher kennenlernen konnte. Es bestand kein Zweifel, Kilian war der Bursche, in den sich Lotti verliebt hatte.
»Gern, danke für die Einladung!«
Titus bot Kilian einen Stuhl an. Die Bäuerin schenkte Kilian eine Tasse Kaffee ein. Sie nötigte Lotti, sich zu Kilian und Titus an den Tisch zu setzen und ihren Kaffee zu trinken.
»Wo ist Vater?«
Wie auf das Stichwort kam der Bauer herein.
»Mei, da habe ich doch richtig gehört. Schön, daß du wieder hier bist, Titus. Bist ein guter Bub! Dein Bruder Thomas macht dir des Leben net gerade leicht. Aber der Klügere gibt nach. Wer ist der gutaussehende Bursche, den du da mitgebracht hast?«
Der Bauer schüttelte Kilian die Hand. Als er hörte, daß es sich um Willis Enkel handelte, freute er sich besonders.
»Mei, das ist doch ein Anlaß, des mit einem Obstler zu begießen!«
Er holte die Flasche und schenkte ein. Die Männer tranken sich zu.
»Vater, so gestärkt will ich dir gleich ein Anliegen vortragen. Ich sage dir gleich dazu, daß des net meine Idee war, sondern ein Gedanke vom Toni. Und schlecht ist der Gedanke net. Allen wäre damit geholfen. Doch zuerst will ich wissen, wo Thomas ist. Ich will net, daß er reinplatzt, sondern die Sache erst alleine mit dir und der Mutter und natürlich mit Lotti bereden. Es betrifft sie genauso.«
»Den Thomas habe ich auf die Hochalm geschickt, der wird erst heute abend spät zurückkommen.«
»Des ist gut! Also, der Großvater vom Kilian hat von seinem Zwillingsbruder Hans sein Elternhaus, den Bernreither Hof, geerbt. Der Willi hat den Kilian beauftragt, den Hof zu verkaufen. Ich weiß, daß es eine Illusion ist, daß Thomas und ich hier auf Dauer wirtschaften. Also muß einer von uns gehen. Ich dachte schon, ganz fortzugehen, so wie einst der Willi. Doch der Toni meint, wenn ich den Bernreither Hof übernehmen würde, dann wäre des besser. Allein kann ich des net finanzieren. Machen würde ich des schon gerne. Verstehst, was ich sagen will, Vater?«
Der Bauer setzte sich. Er nickte, schenkte sich noch einen Obstler ein und ließ sich von Elli eine Tasse Kaffee geben.
»Das ist ein guterVorschlag«, sagte Elli Haltinger in die Stille.
»Und was meinst du dazu, Lotti?«
»Im Prinzip schon! Aber ich bleibe net mit dem Thomas hier! Wenn einer den alten Bernreither Hof kauft, dann muß des der Thomas sein. Der Titus soll hierbleiben!« Lottis Stimme klang hart. »Ich bin sogar bereit, dem Thomas bei der Finanzierung unter die Arme zu greifen. Ich habe ein schönes Sümmchen gespart und habe auch das Erbe von der Großtante noch. Bedingung: Thomas nimmt den Bernreither Hof und nicht der Titus.«
»Die Lotti weiß genau, was sie will«, sagte der Bauer zu Kilian.
»Das ist gut! Das imponiert mir! Ich mag starke Frauen. Meine Großmutter und meine Mutter sind auch so.«
Helmut schaute seine Frau an.
»Wir müßten uns den Hof ansehen, Elli.«
»Ja! Aber ich halte es für besser, wenn wir den Hof kaufen und ihn dann später dem Thomas vererben. Dann gibt es keinen Streit unter den Brüdern. Dann muß sich Thomas fügen.«
»Richtig, Elli! Also, wann kann ich mal rüberkommen und mir den Hof ansehen und die Grundbucheinträge?«
»Jederzeit!« antwortete Kilian. »Da wird sich der Großvater freuen, wenn jemand aus Waldkogel den Hof nimmt. Über den Preis werden wir uns schon einig.«
»Gut, dann kommen wir am späten Nachmittag rüber!«
Kilian war einverstanden.
Das Essen war fertig. Sie aßen. Kilian erzählte von Neuseeland, von ihrer großen Farm. Der Familie gehörte ein ganzes Seitental in den Neuseeländer Alpen. Kilian zeigte die wenigen Fotos, die er dabei hat-te.
»Dort sieht es fast genauso aus wie hier!« sagte Lotti leise und nachdenklich.
»Ja, deshalb hat sich mein Großvater den Flecken Erde ausgesucht. Er hat sich ein Stück Heimat verwirklicht.«
Kilian erzählte und erzählte. Am Aufmerksamsten hörte Lotti zu. Sie vermied aber jeden unnötigen Blickkontakt mit Kilian. Jedesmal klopfte ihr Herz wie wild, ihr wurde heiß.
»Kommst du auch mit zur Besichtigung, Lotti?« fragte Kilian.
Lotti wurde rot.
»Vielleicht! Ich muß noch einkaufen!« versuchte sie sich um eine Antwort zu drücken.
»Ah, einkaufen! Das muß ich auch noch! Die Speisekammer ist gefüllt mit Einmachgläsern. Aber ich brauche Brot und Butter. Bis die Kühe wieder zurück sind und alles auf dem Hof läuft, dauert es noch einige Tage.«
»Du holst die Tiere zurück?« staunte Lotti.
»Sicher! Die Tiere gehören zum Erbe! Sie gehören auf den Hof!«
»Ja, schaffst du das? So alleine? Das Vieh, der Haushalt? Der Hof stand lange leer. Da gibt es bestimmt viel zu tun.«
»Im Haus ist es weniger! Der Garten sieht schlimm aus. Ich habe gestern schon damit begonnen und werde heute weitermachen.«
»Die Lotti kann dir gerne helfen!«
»Mutter! Mußt du mich nicht erst fragen?«
»Ich dachte net! Du bist doch immer für Nachbarschaftshilfe gewesen.«
»Also, das wäre natürlich ganz wunderbar, wenn du mir etwas helfen könntest, Lotti! Ich muß auch die Sachen durchsehen und einiges packen, das ich Großvater schicken will.«
»Siehst du, Lotti! Kilian braucht jede helfende Hand.«
»Ja, ich wäre froh!«
»Ich überlege es mir!«
»Wir können zusammen einkaufen gehen«, schlug Kilian vor.
»Nein! Einkaufen mußt du allein! Ich leihe dir gerne meinen Jeep, aber ich komme nicht mit. Ich weiß nicht, wie das bei euch in Neuseeland ist, aber hier wird sofort geredet, wenn man uns zusammen sieht.«
Kilian lachte.
»Wir haben nicht so viele Nachbarn. Aber ich denke, so ist es überall auf der Welt. Danke für dein Auto. Ich brauche es nur einen Tag. Großonkel Hans hatte ein Auto. Es steht verstaubt in der Garage. Ich hoffe, es fährt.«
»Dann schauen wir uns das gleich einmal gemeinsam an, Kilian. Autos und Motoren sind meine Leidenschaft«, sagte Titus und stand auf.
»Kommst du auch mit, Lotti?«
Es bedurfte noch einiger Überredungskunst von Titus, dann ging auch Lotti mit hinüber zum Bernreither Hof. Während sie sich dort im Garten nützlich beschäftigte, machten Titus und Kilian den alten kleinen Pritschenwagen wieder flott.
Als es Kaffeezeit war, kam Kilian mit Kaffee und Kuchen in den Garten.
»Mach’ eine Pause, Lotti! Ich habe Kuchen! Allerdings nur vom Laden. Kuchenbacken kann ich nicht.«
»Welche Kuchen magst du?«
»Hefekuchen mit Rosinen und Kakao und Nüssen drin! So einen gedrehten oder geflochtenen. Backst du mir einen?«
Lotti errötete und sagte leise: »Vielleicht!«
Sie tranken zusammen Kaffee. Dann arbeiteten sie gemeinsam im Garten. Sie sprachen nicht viel. Sie arbeiteten Hand in Hand, als hätten sie es Jahre schon gemacht.
Dann kamen Titus mit den Eltern, um sich den Hof anzusehen. Den Haltingers gefiel der Hof. Kilian nannte einen guten Preis, den sie akzeptierten, ohne zu handeln. Kilian Morgan, in Vertretung seines Großvaters und Helmut Haltinger als Käufer, schüttelten sich die Hände.
Kilian mußte sie allerdings informieren, daß es bis zum Notartermin noch etwas dauern könnte. Bürgermeister Fellbacher und Pfarrer Zandler versuchten zwar Einfluß zu nehmen, daß die Erbschaftssache zügig geregelt würde. Aber die Behörden in Kirchwalden benötigten noch Auskünfte und Nachweise aus Neuseeland. Außerdem mußte Kilian die Geburtsurkunde seines Großvaters finden. Diese hatte er damals zu-rückgelassen.
»Hauptsache, wir sind uns einig, Kilian«, sagte der Haltingerbauer. »Da warten wir eben. Gut Ding will Weile haben! Mußt dir keinen Streß machen, Kilian. Jetzt bleibst du erstmal hier auf dem Hof und regelst alles in Ruhe. Wenn du bei etwas Hilfe brauchst, dann kannst du dich jederzeit an uns wenden.«
»Danke!«
Kilian fuhr sich mit den Händen durch das helle Haar.
»Ja, da gibt es noch etwas! Ich will später zum Friedhof und das Grab meiner Urgroßeltern besuchen. Dort ist auch Großonkel Hans beerdigt. Ich weiß nicht, an welcher Stelle ich es auf dem Friedhof finde und will Pfarrer Zandler nicht bitten. Vielleicht könnte es mir jemand zeigen?« Kilian schaute dabei Lotti an.
»Die Lotti geht mit dir! Dann kann sie gleich unsere Gräber gießen.«
Noch bevor Lotti etwas einwenden konnte, stimmte Kilian zu. Er wollte nur noch einen Blumenstrauß aus dem Garten holen. Kilian eilte davon.
»Wie könnt ihr?« schalt Lotti ihre Familie.
Ihr Vater grinste.
»Lotti! Die Mutter hat mir alles erzählt und Titus weiß auch Bescheid. Mir scheint, du gefällst dem Kilian! Gib es zu, du bist verliebt?«
»Ja, Vater! Aber es ist meine Sache. Ihr müßt mich net in seine Arme treiben. Außerdem kenne ich, kennen wir ihn erst einen Tag – und er ist aus Neuseeland. Das ist am Ende der Welt!«
Das Gespräch brach ab. Kilian kam mit dem Blumenstrauß aus dem Garten. Titus fuhr mit seinen Eltern heim. Kilian und Lotti fuhren in Lottis Auto zum Friedhof.
*
Auf dem Grab der Familie Bernreither türmten sich noch die ausgedorrten Kränze. Niemand hatte sie nach der Beerdigung vor Monaten fortgeräumt. Kilian und Lotti gingen gleich an die Arbeit. Danach war auch der Grabstein wieder zu lesen.
»Soso! Dann hat der Großonkel Hans diese Berta geheiratet. Ich weiß nicht, ob ich das meinem Großvater erzählen soll.«
Lotti schaute Kilian an.
»Was spricht dagegen? Sie war seine Frau. Sie war die Schwägerin deines Großvaters.«
»Und sie war seine große Liebe!«
»Mei, das hört sich nicht gut an!«
Kilian legte den Blumenstrauß nieder. Dann setzten sie sich in der Nähe des Grabes auf eine Friedhofsbank. Kilian erzählte Lotti von seinem Großvater, seiner Liebe zu Berta und wie sein eigener Zwillingsbruder zum Rivalen wurde.
»Also – sollte ich einmal heiraten und Kinder bekommen, dann wünsche ich mir eines – keine Zwillinge! Ich will keine Zwillinge!«
Kilian lachte herzlich.
»Die Wahrscheinlichkeit, daß du Zwillinge bekommst, ist ziemlich hoch. Deine Brüder sind Zwillinge. Wenn es in einer Familie Zwillinge gegeben hat, dann kann das wieder geschehen. Bei uns in Neuseeland wurde eine Generation übersprungen. Meine Mutter ist ein Einzelkind. Aber ich habe jüngere Zwillingsschwestern.«
»Hast du mit denen auch so viel Kummer, wie ich mit Titus und Thomas?«
Kilian verneinte. Er schilderte seine Schwestern als liebe, warmherzige und gütige Menschen.
»Das ist schön und auch etwas hoffnungsvoll, wenn es wirklich so ist, daß Zwillingsschwangerschaften sich in Familien häufen.«
Lotti stand auf.
»Ich könnte dir noch stundenlang zuhören, wenn du von Neuseeland und deiner Familie erzählst.«
»Wenn ich zurückfliege, dann komme doch mit! Ich lade dich ein! Verbringe einen schönen Urlaub in Neuseeland. Wir haben auch Berge. Ich bin sicher, daß es dir gefallen wird. Meine Familie wird dir auch gefallen – und du ihr auch!«
Lotti errötete. Sie stand auf.
»Ich muß gehen! Soll ich dich noch zurückfahren?«
»Nein, danke! Kommst du morgen wieder? Es ist noch so viel im Garten zu tun.«
»Vielleicht!«
Lotti schaute ihm in die Augen und lächelte. Dann rannte sie davon.
Kilian ging langsam den Mittelgang des Friedhofs zurück. Pfarrer Zandler kam ihm entgegen.
»Grüß Gott, Kilian! Schön, daß du dich um des Grab kümmerst!«
»Ich will die Haltingers bitten, das weiterhin zu tun, wenn ich wieder daheim bin. Übrigens, der Haltingerbauer kauft den Bernreither Hof.«
Da staunte der Pfarrer doch.
»Mei, so schnell hast du einen Käufer gefunden. Wie kam’s?«
»Das ging ganz schnell und einfach. Wahrscheinlich haben die Engel vom ›Engelsteig‹ ein bissel geholfen.«
»Ja, so wird es sein! Da wird sich dein Großvater freuen. Dann sind deine Tage hier gezählt.«
»Nein, ich will schon noch etwas bleiben. Es dauert auch noch mit den Papieren. Das wissen Sie ja.«
Pfarrer Zandler wünschte Kilian alles Gute und Gottes Segen. Dann verabschiedeten sich die beiden.
Kilian fuhr heim auf den Hof. Er suchte die alten Fotoalben und schaute sich die Bilder darin an. So verbrachte er den Abend.
Währenddessen saßen auf dem Haltinger Hof Lotti und ihr Bruder Titus mit den Eltern zusammen. Auf dem Tisch lag eine Gemarkungskarte von Waldkogel.
»Des ist net viel Gemeindegrund auf der gesamten Südseite, der die beiden Höfe trennt. Ich rede mit dem Fellbacher. Die Wiesen kosten die Gemeinde nur Geld. Vielleicht können wir sie kaufen oder in Erbpacht erwerben. Der Kilian hat uns einen guten Preis gemacht, da können wir noch ein bissel Land dazukaufen. Wenn wir die Wiesen dazunehmen und sie später zum Bernreither Hof zuordnen, dann schaffen wir es, daß die Buben zwei Höfe bekommen, die genau gleich groß sind. Außerdem hängen sie noch zusammen.«
Elli war von dem Vorschlag begeistert. Lotti und Titus freuten sich mit den Eltern.
Mitten im Pläneschmieden kam Thomas heim. Grußlos betrat er die Wohnküche.
»Ah, der verlorene Sohn ist wieder heimgekehrt!« spottete er.
»Grüß Gott, Thomas!« überging Titus die Bemerkung. »Ja, ich habe mir einige Tage Urlaub genommen. Jetzt bin ich wieder hier!«
Thomas ging nicht darauf ein. Er hatte Hunger und wollte essen. Elli wärmte ihm das Essen auf.
»Was schaut ihr da die Karte an?« fragte Thomas.
Sein Vater räusperte sich.
»Ich will vielleicht die Wiesen an der Südseite pachten oder kaufen! Was hältst du davon?«
»Net schlecht! Es kommt auf den Preis an. Aber die Idee ist gut. Sogar auf der Hochalm wird erzählt, daß ein Erbe vom Bernreither gekommen sein soll. Der Fahrer, der die Milch abholt, hat es erzält. Es soll ein junger Bursche sein. Er will wohl den Hof verkaufen. Wer weiß, an wen er verkauft. Da ist es besser, wir eignen uns die Wiesen an.«
Lotti, Titus und Elli sahen den Bauern an.
»Thomas! Der Berneither Hof ist schon verkauft.«
»So? An wen?«
»Deine Mutter und ich sind uns mit dem Erben einig geworden.«
Thomas traute seine Ohren nicht. Mit großen Augen schaute er seinen Vater an.
»Was wollt ihr mit dem Hof?«
»Wir sind uns in der Familie einig. Die Lotti wird ihr Erbe ausbezahlt bekommen. Dann haben wir zwei Höfe, einen für dich und einen für deinen Bruder. Dann gibt es auch keinen Streit mehr.«
Thomas starrte seinen Vater an.
»Ich will den Bernreither Hof net! Ich bleibe auf unserem Hof. Der steht mir wohl zu. Ich bin der Ältere. Aber im Grunde ist es schon gut so. Dann kann der Titus drüben sein eigenes Zeug machen und kommt mir nimmer in die Quere.«
Jetzt war es Helmut Haltinger genug. Er schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Du gibst jetzt Ruh’, Thomas! Des ist ja nimmer zum Aushalten mit dir. Noch leben deine Mutter und ich. Noch sind wir net unter der Erde. Noch haben wir net festgelegt, wer welchen Hof bekommt. Es ist noch nicht einmal der Kaufvertrag unterschrieben, da machst du schon wieder Ärger.«
»Ich mache keinen Ärger! Ich will nur, was mir zusteht! Ich bin der Älteste.«
Titus versuchte zu beruhigen. Da brauste Thomas noch mehr auf. Lotti sprang auf. Der Stuhl fiel um. Sie brüllte los:
»Es ist wirklich ein Kreuz! Was war es heute so schön hier, wie du auf der Hochalm gewesen bist, Thomas.«
»Es war auch schön, wie der Titus auf der Berghütte war«, schrie Thomas seine Schwester an. »Da hast du nichts geredet. Da war’s richtig friedlich hier. Was ich mit dem Titus hab’, des geht dich nix an, Lotti!«
Titus sprang auf und schnappte sich Thomas. Er verpaßte ihm einen Kinnhaken.
»Du, wenn du gegen die Lotti
gehst, dann lernst du mich von einer anderen Seite kennen!« brüllte Titus.
Lotti hielt sich die Ohren zu. Sie rannte aus der Küche hinauf in ihr Zimmer. Sie zog ihre Wandersachen an und packte den Rucksack.
»Ich muß hier fort! Ich kann da nicht länger zusehen!«
Sie legte einen Zettel auf das Bett und verließ das Haus durch das hintere Treppenhaus. Sie wollte der Familie, ihren Brüdern nicht mehr begegnen.
Es hatte zu regnen begonnen. Der Regen wurde immer heftiger. Es war, als habe der Himmel alle Schleusen geöffnet.
»Verflixt! Das hat mir gerade noch gefehlt!«
Es wäre schon gefährlich gewesen, in der Dunkelheit auf die Berghütte zu wandern, bei diesem Sturm wäre es lebensgefährlich, dachte Lotti.
Den Kopf voller Gedanken stapfte sie durch den Regen. Sie war wie in Trance. Erst als sie vor der Haustür des Bernreither Hofes stand, nahm sie wahr, wo sie wahr.
Da hat mir mein Unterbewußtsein einen Streich gespielt, gestand sie sich ein. Ach, egal! Bis der Regen vorbei ist, kann ich hier warten. Kilian kann mich dann auf die Oberländer Alm bringen. Sie klingelte.
Gleich darauf öffnete Kilian die Tür.
»Kann ich ein bissel bei dir bleiben, bis der Regen aufhört?« fragte Lotti schüchtern und verlegen.
Kilian sah sie an. Er griff nach ihr, zog sie in den Hausflur und hielt sie fest in seinen Armen. Er hielt sie ganz fest. Lottis Herz klopfte. Sie schloß die Augen. Dann spürte sie seine Lippen auf den ihren. Sie wehrte sich nicht. Sie ließ es geschehen. Sie genoß seine Nähe.
Kilian spürte, wie sie leicht zitterte.
»Du Arme! Du bist völlig durchnäßt!«
Er hob sie hoch und trug sie ins Wohnzimmer. Dort brannte ein Feuer im Kamin.
»Ich hole Handtücher! Du erkältest dich!«
Kilian legte mehr Holzscheite auf. Dann eilte er davon.
Lotti zog ihre Jacke und ihren Pullover aus. Die Bluse darunter war nur etwas feucht. Kilian kam zurück. Auf dem Arm trug er Handtücher, ein Hemd, einen Pullover und eine Hose.
»Das sind alte Sachen! Sie sind sauber und ganz! Ich fand sie heute in einer Truhe, in einem der oberen Zimmer. Ich vermute, sie gehörten einmal meinem Großvater. Im Hemd ist ein Monogramm. Ich gehe jetzt in die Küche und koche dir einen schönen heißen Kräutertee. Du ziehst dir inzwischen die trockenen Sachen an!«
Kilian ging hinaus.
Lotti war sprachlos über so viel Fürsorge. Sie besah sich die Sachen. Ihre Hose war auch feucht, ebenso ihre Socken und die Wanderschuhe. Sie zog alles aus und schlüpfte in die Männerkleidung. Gleich fühlte sie sich besser. Sie wärmte sich die Hände am Kamin.
Dann kam auch schon Kilian.
»Bist du fertig?« rief er durch die geschlossene Tür.
»Ja! Kannst reinkommen!«
Kilian servierte den Tee vor dem Kamin.
Lotti saß in einem Lehnsessel. Kilian kniete vor ihr auf dem Boden und massierte ihr die kalten Füße. Dann holte er ein paar Socken. Er zog sie ihr an.
»Etwas groß! Ich habe nicht wissen können, daß ich hier Socken in Damengröße brauche. Sonst hätte ich ein Paar Socken von meinen Schwestern mitgebracht. Schafswollsocken sind die Besten. Die Wolle ist von unseren Schafen. Die Socken sind handgestrickt von meiner Mutter.«
»Ich sehe es! So weich und warm!«
Lotti nippte an ihrem Tee. Langsam wurde ihr warm. Ihr nasses braunes Haar trocknete bald in der Nähe des Kamins.
»Was wolltest du? War es so eilig, daß du nicht warten konntest, bis der Regen aufhört?«
Lotti errötete.
»Ich wollte rauf zur Berghütte. Bin etwas kopflos daheim losgerannt. Titus und Thomas haben sich gestritten und eine Prügelei angefangen.«
Lotti lächelte.
»Ich hatte nicht vor, dich zu besuchen! Ich weiß auch nicht, wie es dazu kam, daß ich den Weg zum Bernreither Hof genommen habe.«
»Dein Herz hat dich zu mir geführt.«
Lotti sah Kilian in die Augen.
»Ja, das muß es wohl gewesen sein!«
Kilian zog Lotti in seine Arme und küßte sie. Lotti schlang ihre Arme um seinen Hals und erwiderte seine Küsse. Sie küßten sich voller Hingabe und zärtlicher Leidenschaft. Lotti verdrängte die Gedanken in ihrem Kopf. Sie wollte nur fühlen, lieben und geliebt werden.
Das Feuer knisterte im Kamin. Draußen heulte der Sturm. Lotti fühlte sich geborgen in Kilians Armen.
»Du gefällst mir, Lotti!«
»Du mir auch! Pst! Nicht reden! Küssen!« flüsterte Lotti.
Sie schmiegten sich aneinander und küßten sich.
Draußen ließ der Sturm nach.
»Endlich! Das war ein schlimmes Unwetter!«
»Hoffentlich sind keine Schäden zu beklagen«, sagte Kilian.
»Willst du hinausgehen und nachsehen?«
»Nur, wenn du mir inzwischen nicht davonläufst!«
»Auf Socken und in den Sachen deines Großvaters?«
Sie lachten.
Lotti kuschelte sich in den Lehnsessel, zog die Beine an und trank Tee.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Kilian wiederkam.
»Scheint nicht viel passiert zu sein! Von den Obstbäumen im Garten sind einige Äste abgebrochen. Dafür müssen wir morgen bestimmt nicht gießen.«
»Ja! Die Erde ist gut feucht. Wir könnten etwas pflanzen.«
»Heißt das, du bleibst? Willst du nicht mehr hinauf zur Berghütte?«
»Wäre das nicht unschicklich?«
»Sehr verwerflich! Aber auch sehr schön! Oder ich komme mit zur Berghütte. Alois würde sich freuen. Er hatte sehr bedauert, daß ich nur eine Nacht geblieben war. Aber ich wollte die Chance, jemanden für den Hof zu finden, gleich wahrnehmen.«
»Jetzt bist du ihn los!«
»Richtig und ich denke, er kommt in gute Hände.«
»Ja, ich hoffe nur, die beiden Streithähne werden sich einig! Wenn erst einmal der Notartermin war, dann wird Thomas ruhiger werden. Ich nehme an, daß Vater dann beim Notar auch ein neues Testament hinterlegt, wer welchen Hof bekommt. Dann kann Thomas nichts mehr sagen.«
»Du meinst, dein Vater gibt Thomas den Bernreither Hof?«
»Ja, so denke ich! Vater weiß, wie gut Titus und ich uns verstehen. Ich will später auf dem Haltinger Hof leben mit meiner Familie. Mit Thomas wäre das bestimmt sehr schwierig. Das wissen die Eltern. Ich frage sie nicht. Sie wissen schon, wie sie es richtig machen. Ich will nur endlich Frieden und Ruhe.«
Kilian goß sich eine Tasse Kräutertee ein.
»Das heißt, dein Mann muß nach der Heirat zu dir ziehen?«
»Ja, so habe ich mir das gedacht.«
Kilian schaute Lotti in die Augen. Sah sie da eine Spur von Traurigkeit?
»Was denkst du, Kilian?«
»Ich denke an meinen Großvater! Und ich hoffe, daß es noch lange dauert mit den Papieren. Das ist zwar unschön für dich und deine Familie. Mir gibt es aber einen Grund, hier zu sein.«
»Dir gefällt es hier?«
»Du gefällst mir, Lotti!«
Kilian gab Zucker in den Tee. Er rührte um.
»Ich habe Großvater versprochen zurückzukommen, gleich, was auch geschieht. Jetzt habe ich dich kennengelernt und jetzt ist für mich Neuseeland am Ende der Welt.«
»Wartet dort niemand außer deine Familie?«
»Nein! Ich habe keine Freundin, kein Madl, wie man sagt. Das wundert dich vielleicht. Aber du bist die Erste, die ich geküßt habe.«
»Du bist auch der Erste für mich!«
»Lotti! Ich wurde zur Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit erzogen. Liebe ist kein Spiel. Wenn ich hierbleiben könnte oder du genau wie ich in Neusseland deine Heimat hättest, dann wäre alles einfacher. Du willst hierbleiben und ich muß zurück, irgendwann. Was dann? Was soll dann werden mit uns? Lotti, ich liebe dich!«
Lotti stand auf und setzte sich auf seinen Schoß. Sie schlang die Arme um seinen Hals und schaute ihm tief in die Augen.
»Ich liebe dich, Kilian Morgan aus Neuseeland! Was werden soll, kann ich jetzt nicht sagen!«
»Jemanden zu lieben, so wie ich dich liebe, das heißt für mich, ich würde gerne das Leben mit dir verbringen. Doch ich kann dir keinen Antrag machen. Ich kann nicht bleiben. Daheim wartet unser Hof, unsere Farm!«
Lotti streichelte Kilian über das Haar und die Wange.
»Kilian, wir müssen uns jetzt nicht entscheiden! Erst einmal bist du hier! Wir werden eine wunderbare Zeit haben. Ich helfe dir, hier das Haus auszuräumen. Wir machen Wanderungen in die Berge, besuchen Toni und Anna auf der Berghütte.«
Sie küßte ihn.
»Dein Großvater ist einst fort, weil sein Madl ihm Kummer machte und ihn enttäuschte. Kann da sein Enkel aus Liebe zu einem Madl nicht bleiben in der alten Heimat des Großvaters? Der Kreis würde sich schlie-ßen.«
Kilian küßte Lotti!
»Wir müssen das nicht jetzt und hier entscheiden!«
Lotti gähnte. Sie war müde. Kilian bettete sie auf das Sofa im Wohnzimmer. Er deckte sie zu und blieb bei ihr sitzen, bis sie eingeschlafen war.
*
Kilian lag schlaflos im Bett. Im Morgengrauen drang ein Geräusch durch das offene Fenster seines Zimmers. Er lauschte. Er stand auf und trat ans Fenster. Auf dem Hof hielt ein Auto. Titus stieg aus.
»He! Titus! Pst!« rief ihm Kilian leise zu.
Er machte eine eindeutige Handbewegung, die sagte, daß er an die Haustür kommen würde.
Gleich darauf öffnete Kilian die Haustür. Titus musterte ihn.
»Bist schon auf und angezogen, des trifft sich gut! Hast Zeit! Kannst mitkommen?«
»Pst!« Kilian zog Titus von der Haustür fort. »Was gibt’s?«
»Wir sind in allergrößter Sorge! Es hat gestern abend mal wieder Streit gegeben zwischen dem Thomas und mir. Da ist die Lotti aus der Küche gerannt, rauf in ihr Zimmer. Wir haben erst viel später festgestellt, daß sie bei dem Sturm fortgelaufen ist. Wir vermuteten, sie wollte rauf auf die Berghütte. Ich hab’ den Toni schon angerufen. Dort ist sie aber net angekommen. Mei, der Himmel stehe uns bei! Hoffentlich ist der Lotti auch nix geschehn! Kommst mit suchen?«
Kilian blieb ganz ruhig. Er lächelte.
»Was grinst so? Hast mich net verstanden? Die Lotti ist fort!«
»Doch, ich habe schon verstanden! Ich kann dich beruhigen! Sie liegt hier auf dem Bernreither Hof im Wohnzimmer auf dem Sofa und schläft.«
»Dem Himmel sei dank! Da muß ich gleich die Mutter anrufen.«
Titus griff zum Handy.
»Mutter, ich bin hier beim Kilian! Die Lotti ist hier! Ich bring sie dann mit heim. Es ist nix geschehen!«
Mit einem Seufzer der Erleichterung steckte Titus das Handy ein.
Kilian rieb sich das Kinn.
»Also, daß nix geschehen ist, des stimmt so net ganz!« sagte er leise.
Verschmitzt lächelte er Titus an.
»Komm, Titus, wir gehen rein! Scheinst nach einer durchwachten Nacht einen starken Kaffee vertragen zu können.«
Während Titus auf der Eckbank in der Wohnküche des Bernreitherhofes saß, beobachtete er Kilian genau.
Eine Minute lang schien er ungemein fröhlich, richtig heiter. Dann huschte ein dunkler Schatten über sein Gesicht. Titus rätselte.
Bald zog der Geruch von Kaffee durch den Raum.
»Sahne von den Kühen habe ich nicht, nur das Zeug aus der Dose. Milch will ich des net nennen!«
Titus verstand Kilian. Sie waren beide durch und durch mit der Landwirtschaft verwachsen.
»Dann erzähle mal!«
Kilian ließ sich Zeit. In Gedanken durchlebte er noch einmal die Stunden von dem Augenblick an, als Lotti naß im Sturm vor seiner Haustür stand.
Was sollte er Titus sagen?
Waren die letzte Nacht und die zärtlichen Küsse zwischen ihm und Lotti nicht etwas, was nur sie beide anging?
Auf der anderen Seite schätzte Kilian Titus sehr. Er vertraute ihm. Kilian erinnerte sich an die Nacht auf der Berghütte. Da war es Titus, der ihm sein Herz ausgeschüttet hatte. Kilian war sicher, daß Titus noch niemals zuvor so mit jemandem über seinen Kummer gesprochen hatte, über den Riß in seinem Herzen. Titus war zerrissen zwischen seiner Bruderliebe und Ablehnung Thomas gegenüber, weil dieser nur Ärger machte. Titus hatte über seine innersten Gefühle gesprochen. Ich kann ihm vertrauen, dachte Kilian. Er trank einen Schluck Kaffee.
»Titus«, setzte Kilian an. »Titus, ich will offen und direkt mit dir reden. Lotti stand triefendnaß vor der Haustür und glücklich sah sie auch nicht aus. Da habe ich sie einfach in die Arme genommen und geküßt.«
Kilian erwartete, daß Titus etwas sagen würde. Doch er schwieg.
Kilian räusperte sich und sprach weiter:
»Ich liebe deine Schwester! Sie
ist der wunderbarste Mensch, das schönste Madl dazu, das mir jemals begegnet ist. Mein Herz sehnt sich nach ihr, seit dem Augenblick, als ich ihr auf dem Bergpfad gegenüberstand.«
Kilian trank wieder einen Schluck Kaffee.
»Ich… ich… ich…«, stotterte er. »Ich bereue auf der einen Seite nicht, daß ich sie geküßt habe. Auf der anderen Seite, bedauere ich es sehr. Ich wollte es nicht. Es kam einfach über mich. Lotti ist so zauberhaft. Ach, es sind zwei Gefühle in meinem Herzen. Ich würde so gerne hier bei Lotti bleiben. Doch das ist unmöglich. Ich muß wieder heim nach Neuseeland. Ich habe dort meine Wurzeln. Außerdem habe ich es meinem Großvater versprochen. Ich hänge an unserem Hof dort, an unserer Farm, die Großvater aufgebaut hat. Bevor er in das stille Seitental kam, war dort nichts und Niemand. Genau wie ich dort hat deine Schwester hier ihre Wurzeln. Dazwischen liegt eine Flugzeit von fündundzwanzig Stunden. Es sind zwölftausend Meilen oder ungefähr neunzehntausend Kilometer. Da kann man nicht mal schnell hin und her reisen.«
»Ich verstehe, was du meinst, Kilian! Liebt dich Lotti? Hat sie es dir gesagt?«
»Ja! Doch in ihren Augen las ich auch, daß es ihr sehr schwer fallen wird, sich zu entscheiden zwischen mir und ihrer Heimat. Das verstehe ich. Ich bin in dem gleichen Konflikt. Das geht sogar soweit, daß ich dem Schicksal böse bin. Wenn Großvater Willi nicht gefunden worden wäre, dann wäre ich nicht hier. Wäre ich doch nur daheim geblieben! Hätte Großvater nicht besser die ganze Angelegenheit schriftlich abgewickelt? Dann wäre ich Lotti nie begegnet. Ich liebe deine Schwester sehr, Titus. Ich will ihr nicht weh tun.«
Kilian seufzte.
»Ich habe nur wenig geschlafen. Die meiste Zeit lag ich auf dem Bett und starrte an die Decke.«
Kilian goß Kaffee nach.
»Titus! Ich habe mich zu etwas entschlossen. Ich werde abreisen. Daheim kann ich die Angelegenheiten mit den benötigten Papieren auch schneller vorantreiben. Ich brauche Abstand. Ich kann – ich darf – Lotti nicht jeden Tag in die Augen sehen und wissen, daß soviel zwischen uns liegt. Lotti wird niemals aus Waldkogel fortgehen, euch Brüder allein lassen. Sie soll sich keine Hoffnungen machen, daß ich hierbleibe.«
Kilian trank den Kaffee aus.
»Schade, Kilian!« sagte Titus. »Alles war so hoffnungsvoll!«
Kilian bat, daß Titus sich um den Bernreither Hof kümmern sollte. Das Vieh würde bald gebracht und mußte versorgt werden.
»Schalte und walte, als würdest du hier schon sein, Titus!«
Kilian legte Titus den Schlüssel auf den Tisch.
»Schaut aus, als wolltest du bald reisen?«
»Ja! Ich will Lotti nicht mehr sehen. Ich kann ihr nicht in die Augen schauen. Draußen im Flur stehen zwei große Koffer mit persönlichen Sachen, die ich hier gefunden habe. Ich hoffe, sie machen meinem Großvater Freude. Sie als Fluggepäck mitzunehmen, ist mir jetzt zu umständlich. Kannst du sie mir schicken?«
»Das mache ich!«
»Gut! Dann ist hier alles soweit geregelt.«
Titus schaute Kilian überrascht an.
»Klingt, als wolltest du sofort los?«
»Ja, ich habe heute nacht schon gepackt. Ich nehme nur etwas Handgepäck mit.«
Kilian schaute auf die Uhr.
»Ich nehme den ersten Bus nach Kirchwalden und von dort aus ein Taxi zum Flughafen.«
»Mei!« starrte Titus Kilian an.
»Sag nichts, guter Freund! Kümmere dich um Lotti! Sage ihr, sie wird immer einen Platz in meinem Herzen haben.«
»Sie wird traurig sein! Du tust ihr weh!«
»Ich weiß, ich hätte sie nie küssen und ihr nie meine Liebe gestehen dürfen. Damit sie nicht noch mehr leidet, gehe ich!«
Kilian stand auf. Titus folgte ihm. Wortlos sah er zu, wie Kilian seine Jacke anzog und den kleinen Rucksack schulterte. Zusammen gingen sie hinaus.
»Komm, ich fahr dich!«
»Nein! Bleibe du hier! Wenn Lotti aufwacht, dann soll sie nicht allein sein! Ich habe Pfarrer Zandler und dem Bürgermeister ein paar Zeilen geschrieben. Ich werfe sie im Pfarrhaus in den Briefkasten. Ich wäre dir dankbar, wenn du dem alten Alois meine Grüße ausrichten würdest. Grüße auch Toni, Anna und die Kinder.«
»Kann ich nicht mehr für dich tun?« fragte Titus leise.
»Kümmere dich um Lotti! Erzähle ihr, daß ich ein Schuft bin. Sage wegen mir, daß ich sie belogen habe, daß ich in Neuseeland eine Braut habe. Dann kommt sie vielleicht schneller darüber hinweg und vergißt mich.«
Kilian schüttelte Titus die Hand.
»Titus! Ich wünsche, daß ihr alle glücklich werdet. Wer auch immer hier auf dem Hof einzieht, du oder dein Bruder Thomas – mögen die Engel vom ›Engelsteig‹ immer schützend die Flügel über euch ausbreiten.«
»Dir auch Gottes Segen, Kilian! Vielleicht besuche ich dich einmal – in einigen Jahren!«
»Ich würde mich freuen!«
Der Dunst lag noch über den Wiesen. Titus sah Kilian nach, wie er den Weg entlangging. Kilian drehte sich nicht mehr um.
*
Kilian hatte Glück. Er bekam den letzten freien Sitzplatz auf dem nächsten Flug nach Wellington, der Hauptstadt Neuseelands. Dann flog er mit einer Inlandsmaschine weiter nach Christchurch. Er rief einen Schulfreund an. Dieser holte ihn vom Flugplatz ab und brachte ihn mit dem Auto in die Berge.
»Halte hier! Ich will die restlichen paar Meilen zu Fuß gehen!«
»Ganz wie du willst, Kilian!«
Kilian stieg aus. Der Freund wendete den Geländewagen und fuhr zurück.
Kilian ging nicht auf dem Weg weiter, der hinauf zur Farm führte und den auch sein Großvater angelegt hatte. Er schlug sich links ins Feld und wanderte den Hang hinauf. Oben ging er am Waldrand entlang, bis er zu der Bank oberhalb der Farm kam, dem Lieblingsplatz seines Großvaters. Kilian streifte den Rucksack ab. Er setzte sich.
»So, dann bin ich wieder daheim!« flüsterte er leise.
Kilian erforschte seine Gefühle. Er war glücklich, Europa und Waldkogel hinter sich gelassen zu haben. Der alte Bernreither Hof war verkauft. In ein bis zwei Wochen konnte Großvater die fehlenden Dokumente nach Waldkogel schicken. Den Kauf konnte man auch schriftlich abwickeln.
»Das Kapitel ist abgeschlossen!« seufzte Kilian.
Gleichzeitig war ihm bewußt, daß er sich etwas vormachte. Immer wieder mußte er an Lotti denken. Es geht nicht anders, sagte er sich vor. Sie würde hier nicht glücklich, wenn ich sie überreden würde. Ihre Wurzeln sind in Waldkogel. Was soll ich mit einem Madl anfangen, dessen Herz nur zum Teil hier ist? Das belastet nicht nur sie, sondern auch die ganze Familie.
Kilian ärgerte sich im Nachhinein über seinen Leichtsinn. Aber seine Gefühle waren mit ihm durchgegangen. Er bereute tief, sie geküßt zu haben, ihr seine Zuneigung gestanden zu haben.
»Das kommt davon, wenn man sein Gehirn ausschaltet!« sagte Kilian vor sich hin.
Er schwor, in Zukunft mit Liebesschwüren vorsichtiger zu sein.
Kilian schaute über das Tal, das seine Heimat war. Auf den Wiesen am gegenüberliegenden Hang weideten die Schafe. Weiter oben lagen die schwarzweiß gefleckten Kühe im Gras. Der Mais stand hoch. Die Gerste konnte bald geerntet werden. Die Kiwisträucher und Avokadobäume trugen reichlich Früchte.
Gut, daß ich hier bin. Es gibt viel Arbeit, dachte Kilian. Das wird mich ablenken. Er beschloß, nichts von Lotti zu erzählen. Sicherlich, ganz unerwähnt konnte er sie nicht lassen, schließlich war sie die Tochter des Käufers. Aber wie nah sie sich gekommen waren, das wollte Kilian für den Rest seines Lebens im Herzen bewahren.
Er stand auf und schulterte sein Gepäck. Dann lief er quer über die Wiesen zum Wohnhaus. Bevor er eintrat, schaute er an der Giebelfront hinauf.
»Wie in Waldkogel, nur höher, breiter, länger!« sagte er leise.
»Sogar die Haustür ist genauso bemalt!«
»Hallo! Ich bin wieder da!« rief Kilian laut und fröhlich und betrat die große Wohnküche.
»Kilian! Du hier?« staunte seine Mutter.
Sie blieb zuerst regungslos stehen. Dann lachte sie, ging auf ihn zu und schloß ihren Ältesten in die Arme.
»Warum hast du nicht angerufen? Wir hätten dich abgeholt!«
Kilian streifte den Rucksack ab. Geduldig ließ er die Umarmungen aller über sich ergehen. Er lachte.
»Ihr tut gerade so, als sei ich unendlich lange fort gewesen. Dabei war es erst eine knappe Woche.«
Seine Großmutter stellte einen weiteren Teller auf den Tisch. Sie war inzwischen mit Kilians Schwestern früher aus dem Urlaub zurückgekommen.
»Wie war es in Europa?«
»Warum bist du nicht länger geblieben?«
»Bist ganz schön dumm, Kilian. Wie kannst du dir so eine Chance entgehen lassen?«
»Europa! Paris, London, Mailand, Rom, Athen!«
»Also, wenn Großvater uns geschickt hätte, wären wir nicht so schnell zurückgekommen!«
Kilians Zwillingsschwestern zeigten kein Verständnis. Sie redeten und redeten und fragten und fragten. Kilian hob abwehrend die Hände.
»Meine Aufgabe war erledigt! Der Hof ist verkauft. Der Rest bedeutet nur noch Formalitäten!«
Kilian lächelte in die Runde.
»Also, ich gestehe es: Ich war ja zum ersten Mal so weit fort. Ich hätte nie gedacht – ich hätte jeden ausgelacht – aber ich gestehe es! Ich litt grausam unter Heimweh!«
Kilians Schwestern schauten ihn an. Sie lachten.
»Ja, so war es! Jetzt bin ich froh und glücklich, wieder daheim zu sein! Nun laßt uns essen! Das Essen im Flugzeug war zwar nicht schlecht, aber ich habe richtigen Hunger!«
Willi Bernreither beobachtete seinen Enkel genau. Der Bub macht uns etwas vor. So aufgedreht und aufgekratzt wie er ist, so kenne ich ihn nicht. Heimweh hin und Heimweh her, da stimmt etwas nicht.
»Geht es dir auch wirklich gut, Kilian?« fragte ihn auch seine Mutter.
»Ja! Der Flug war anstrengend. Dann zweimal Zeitumstellung innerhalb weniger Tage, das macht auch müde.«
»Dann ruhst du dich erstmal aus. Du kannst uns alles später berichten! Jetzt essen wir!«
Der Großvater sprach das Tischgebet. Dann aßen sie. Während des Essens fing Kilian an zu erzählen. Er sprach vom alten Alois, der sich sehr über das Geschenk gefreut hatte. Ausführlich beschrieb Kilian Waldkogel, das jetzt ein richtig schönes großes Dorf war mit Neubaugebieten. Er erzählte vom alten Bernreither Hof.
»Zwei Koffer werden mir nachgeschickt. Darin habe ich verschiedene Dinge zusammengetragen, von denen ich hoffe, daß du dich ein wenig darüber freust. Ich glaube, sie hatten dich sehr vermißt, als du fortgegangen bist. Alle deine Sachen waren in einem Zimmer und auf dem Speicher. Vielleicht dachte dein Bruder doch, daß du irgendwann zurückkommst.«
»Das sind unnötige Spekulationen! Ich hatte längst mit diesem Kapitel in meinem Leben abgeschlossen, Kilian. Wenn die Sache mit der Erbschaft nicht gekommen wäre, dann hätte ich nie mehr etwas erfahren. Aber es ist anders gekommen. Ich will damit nicht sagen, daß ich nur schlechte Erinnerungen habe. Es gab auch glückliche Zeiten in Waldkogel. Meine Kindheit, die war sehr glücklich.«
Kilian erzählte von dem alten Fotoalbum, das er gefunden hatte.
»Du scheinst wirklich glücklich gewesen zu sein. Auf allen Bildern schaust du richtig fröhlich und unbeschwert aus.«
»Das war ich auch, Kilian! Es war damals eine schöne Zeit.«
Nach dem Essen zog sich die ganze Familie ins Wohnzimmer zurück, als wäre es ein Feiertag. Kilian erzählte und alle hörten zu.
»Den Bauern vom Haltinger Hof, den kannte ich gut. Mit seinem Sohn war ich befreundet. Das muß – laß mich überlegen – das muß dann der Vater vom Helmut Haltinger gewesen sein. Da kann man nur sagen, wie klein die Welt ist. Seinen Vater würde es bestimmt freuen, daß der Helmut den Hof kauft. Die Haltingers waren schon damals arbeitsame Leute. Da ist der Bernreither Hof in guten Händen.«
»Das ist er bestimmt!«
»Die haben auch Zwillinge, du sagtest es am Telefon, richtig?«
»Ja, Großvater! Die Haltingers haben drei Kinder. Es sind zwei Buben, die Zwillinge Thomas und Titus. Später bekamen sie noch ein Madl. Jetzt kann jeder der Buben einen Hof erben. Darum geht es dem Bauern.«
»Das ist gut so! Dann gibt es keinen Streit mehr. Das Madl wird wohl irgendwo einheiraten, denke ich mir. So war das schon damals zu meiner Zeit!«
Kilian nickte seinem Großvater nur zu. Er wollte nichts von Lotti sagen. Er hatte nicht einmal ihren Namen erwähnt. Allein der Gedanke an Lotti schmerzte ihn. Er stand auf.
»Ich bin müde! Reden wir morgen weiter!«
Kilian sagte »Gute Nacht« und ging in sein Zimmer.
Seine Eltern und Schwestern legten sich bald schlafen. Nur Großvater Willi und die Großmutter saßen noch etwas zusammen.
*
Lotti war spät aufgewacht. Sie war überrascht, daß Titus auf dem Bernreither Hof war.
»Wo ist Kilian?« fragte sie und schüttelte ihr Haar.
Titus brachte es nicht über das Herz, seine Schwester anzuschauen, als er leise sagte:
»Lotti! Kilian ist zurück nach Neuseeland! Er hat mir schon den Schlüssel gegeben! Er hat mir alles erzählt über dich und ihn. Es bleibt unter uns. Kilian meint, er gehöre nicht hierher. Du bist hier verwurzelt und willst hier bleiben. So hielt er es für besser, dich nicht mehr zu sehen. Er wünscht dir von Herzen alles Glück der Welt und er wird dich, seine erste Liebe, nie vergessen.«
Lottis Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Sie sank auf einen Stuhl. Lange schaute sie regungslos aus dem Fenster. Dann flüsterte sie leise:
»Die erste Liebe vergißt kein Mensch! Auch ich werde Kilian niemals vergessen. Jeden Burschen werde ich mit ihm vergleichen. Vielleicht war es wirklich besser so. Sonst wäre es noch schmerzhafter geworden. Ich will das Schöne sehen. Vater und Mutter kaufen den Hof. Es wird hoffentlich dann endlich Frieden in der Familie geben. Laß uns bitte nie mehr davon sprechen.«
»Ja, Lotti!«
Lotti machte sich Frühstück. Sie aß. Dann besprachen die Geschwister sachlich die anstehenden Arbeiten auf dem Hof. Lotti war dagegen, daß Titus sich um den Hof kümmern sollte. Sie würde das machen.
»Wenn du es machst, dann denkt Thomas, daß du nachgegeben hast und er unseren Haltinger Hof bekommt. Das will ich nicht.«
»Wer welchen Hof einmal überschrieben bekommt, das ist die Entscheidung der Eltern«, antwortete Titus. »Aber ich sehe ein, daß dein Vorschlag gut ist.«
Sie waren noch mitten im Gespräch, als die ersten Bauern kamen und das Vieh brachten, das Bürgermeister Fellbacher unter den örtlichen Landwirten verteilt hatte. Lotti packte an. Titus ebenso. Anschließend fuhr Titus heim auf den Hof, um mit den Eltern zu sprechen.
Sie waren betrübt, daß Kilian abgereist war, milde gesagt. Sie bedauerten, daß er sich nicht von ihnen verabschiedet hatte. Titus machte einige diskrete Andeutungen, was das Verhältnis zwischen Lotti und Kilian betraf. Den Rest reimten sich die Eltern zusammen. Elli Haltinger fühlte mit ihrer Tochter.
»Wenn das Madl hier in Waldkogel bleiben will und sich dafür entscheidet, dann müssen wir das so hinnehmen. Der Kilian war ein fescher Bursche. Es ist sehr schade, daß er nach Neuseeland zurückwollte«, bemerkte Helmut zu seiner Frau.
»Ja, das ist es! Auf der anderen Seite, wenn unsere Lotti mit ihm gegangen wäre, dann wäre das auch schlimm gewesen. Das einzige Madl so weit fort zu wissen. Mei, da hätte mein Mutterherz geblutet. Aber in erster Linie muß des Madl selbst wissen, was es will. So oder so! Es ist ihre Entscheidung.«
Der Bauer stimmte seiner Frau zu. Er hoffte nur, daß es mit dem Erbschein nicht mehr lange dauerte, damit Willi Bernreither ins Grundbuch eingetragen werden konnte. Erst danach konnte er als rechtmäßiger Besitzer den Hof an die Haltingers verkaufen.
Die nächsten beiden Wochen verliefen ruhig. Lotti blieb auf dem alten Bernreither Hof. Dort gab es genug Arbeit. Sie kam in den ersten Tagen nur abends zum Schlafen heim. Die Stimmung auf dem Haltinger Hof hatte sich etwas gebessert. Thomas bemühte sich, seine Arbeit zu machen und ging Titus aus dem Weg. Er sträubte sich auch nicht, wenn er aufgefordert wurde, zusammen mit seinem Bruder Lotti auf dem Bernreither Hof zu helfen.
Eines Tages war es dann soweit. Pfarrer Zandler und Bürgermeister Fellbacher kamen. Sie sagten, daß der Erbschein jetzt ausgestellt und auf dem Weg nach Neuseeland sei. Dann stehe dem Notartermin nichts mehr im Wege. Willi Bernreither hatte öfter mit den beiden telefoniert. Nach dem Eintrag ins Grundbuch wollte Willi einen Kaufvertrag in Neuseeland unterschreiben und ihn an den Notar in Kirchwalden schicken, dann könnten Helmut und Elli endlich die Besitzer des Bernreither Hofs werden.
Alle hätten sich freuen können. Doch Thomas stellte sich weiterhin quer. Immer wieder brachte er das Gespräch auf das spätere Erbe und betonte sein Vorrecht auf den elterlichen Hof.
»Herr im Himmel! Nimmt das kein Ende?« jammerte die Bäuerin oft.
»Das nimmt erst ein Ende, wenn wir entschieden haben! Doch dazu müssen wir erst Eigentümer des Bernreither Hofes sein, Elli! Ich werde vorher nichts tun und wir können auch nichts tun. Gib die Hoffnung nicht auf, Elli! Unsere Buben sind eben ganz verschieden. Thomas ist eben ein richtiger Hitzkopf. Wenn er erstmal ein Madl hat, dann wird er ruhiger werden. Des ist bei vielen so!«
Elli hoffte, daß sich Thomas bald verlieben würde.
*
Eines Nachmittags besuchte Pfarrer Zandler den Bernreither Hof.
»Grüß Gott, Herr Pfarrer! Des ist ja eine Überraschung! Da haben S’ Glück, daß sie mich noch antreffen! Ich wollte gerade die Haustür ab-schließen.«
»Grüß Gott, Lotti! Wo willst du hin?«
»Ich will ein paar Tage rauf auf die Berghütte. Ich muß alleine sein!«
Pfarrer Zandler schmunzelte.
»Hier bist net allein auf dem Hof? Tut’s Vieh so viel reden?«
Lotti mußte lachen.
»Naa! Es ist nur so, daß ich hier net so glücklich bin. Alles erinnert mich an…«
Lotti errötete tief und brach den Satz ab.
Der Geistliche war ein guter Menschenkenner. Außerdem hatte er einen Anruf von Willi aus Neuseeland erhalten. Dieser klagte über eine seltsame Verschlossenheit, die sein Enkel Kilian an den Tag legte, seit dieser so frühzeitig zurückgekommen war. Pfarrer Zandler reimte den Rest schnell zusammen. In Neuseeland lief ein junger Bursche herum, der sich wild in die Arbeit stürzte und den Mund nicht aufbekam. Hier in Waldkogel suchte ein Madl die Einsamkeit in den Bergen, obwohl es den ganzen Tag alleine war.
»Ach, dann will ich es kurz machen! Ich will dich nicht aufhalten. Der Willi hat angerufen. Er bat mich, Nachforschungen anzustellen. Er wartet auf zwei Koffer mit Erinnerungsstücken, die der Kilian zusammengepackt hat. Wann habt ihr die abgschickt?«
Lotti öffnete die Haustür und deutete in den Hausflur.
»Da stehen sie noch! Ich habe sie noch nicht abgeschickt! Ich werde es aber tun!«
Sie schaute auf die Uhr.
»Heute ist es schon zu spät. Unsere Post hat heute nachmittag geschlossen. Ich bleibe hier und gehe dann erst morgen rauf auf die Berghütte. Die Koffer schicke ich morgen früh gleich ab.«
»Das ist gut! Ich werde den Willi anrufen und es ihm sagen! Soll ich Grüße von dir ausrichten?«
»Sagen Sie Grüße von uns allen! Sagen Sie, das Vieh macht sich prächtig. Ich habe den Eindruck, daß des Viehzeug richtig froh ist, wieder hier zu sein!«
»Willst du den Kilian nicht anrufen und ihm das selbst erzählen. Ich bin sicher, er würde sich freuen. Denkst net auch?«
Lotti fühlte, wie ihr Herz zu klopfen anfing. Kilian – Kilian – Kilian! Mit jedem Herzschlag rief es den Namen des Liebsten.
»Wenn Sie des als Amtsperson sagen, dann klingt es besser!« antwortete Lotti leise und schaute dabei zu Boden.
»Na ja, wie man es nimmt! Immerhin bist du jetzt hier zur Zeit die Bäuerin und könntest viel mehr erzählen. Aber du wirst schon deine Gründe haben, warum du mit dem Kilian nicht reden willst! Dann gehe ich wieder! Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, Lotti!«
»Danke, Herr Pfarrer! Ihnen auch! Und mit den Koffern, das erledige ich! Versprochen!«
Pfarrer Zandler setzte sich in sein Auto, wendete und fuhr davon.
Lotti seufzte. Sie setzte sich auf die Bank vor dem Haus. Ihr Herz klopfte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dann ging sie hinein. Lotti nahm die Koffer vor. Sie wickelte sie in Bettlaken und verschnürte sie mit Kordel.
Draußen hielt ein Auto. Lotti warf einen Blick aus dem Fenster. Es war Anna. Lotti lief hinaus. Anna war noch nicht richtig aus dem Auto ausgestiegen, da fiel ihr Lotti um den Hals.
»Dem Himmel sei Dank! Ich wollte heute nachmittag schon rauf auf die Berghütte und dich besuchen!«
»Lotti! Lotti! Mir scheint wirklich so, als käme ich genau richtig! Was ist los?«
»Komm rein! Willst einen Kaffee oder lieber einen Saft?«
Anna trank Saft.
»Was brachte dich auf die Idee, mich zu besuchen?« fragte Lotti.
»Der alte Alois hat mich darum gebeten. Er wäre gern selbst gekommen. Aber er ist nicht mehr der Jüngste und geht nur ganz selten ins Tal. Der alte Alois hat Post bekommen. Willi hat ihm geschrieben, sein alter Freund aus Neuseeland. Du, bei denen daheim muß etwas nicht stimmen. Willi vermutet, daß mit dem Verkauf des Hofs doch etwas nicht in Ordnung sein könnte. Willi scheut sich aber, deinen Vater direkt anzurufen.«
Lotti sah Anna überrascht an.
»Wie kommt er darauf, daß etwas nicht in Ordnung sei!
Bürgermeister Fellbacher und Pfarrer Zandler haben das mit dem Erbschein geregelt. Wenn dann die Papiere aus Neuseeland kommen, kann auch der Grundbucheintrag vorgenommen werden. Alles geht seinen Gang!«
Anna trank einen Schluck Saft.
»Der Kilian ist sehr wortkarg! Er spricht kaum etwas, seit er wieder daheim ist. Sein Großvater hat es mit Engelszungen probiert. Aber der wehrt immer ab. Es gäbe nichts weiter zu berichten. Jetzt ist der alte Mann beunruhigt. Er vertraut dem Alois! Deshalb hat er ihm geschrieben.«
Lotti errötete tief. Ihr wurde heiß, ihr wurde kalt. Ihr Herz raste.
»Mit dem Kauf ist alles in Ordnung! Kilian hat das gut gemacht und wir sind ihm sehr dankbar.«
»Lotti! Du sagst mir nicht alles, richtig?«
Lotti seufzte tief. Sie dachte einen Augenblick nach.
»Ich wollte zu dir hinauf, um dich zu fragen, wie das damals war, als du dich in den Toni verliebt hast?«
»Ah! Du hast dich in den Kilian verliebt?«
»Ja! Aber verrate es niemand!«
»Versprochen! Hat sich Kilian auch in dich verliebt?«
Lotti nickte eifrig.
»Wo gibt es dann ein Problem? Er liebt dich und du liebst ihn!«
»Das fragst du? Ich bin hier! Kilian lebt in Neuseeland! Das ist am anderen Ende de Welt!«
»Toni lebte in den Bergen und ich in Hamburg am Meer!«
Lotti schaute Anna nur an.
»Gut, ich gebe zu, das war nicht so weit wie bei euch jetzt. Aber ich war vorher noch nie in den Bergen. Ich wollte nie in die Berge. Ich konnte Berge nicht leiden. Da hast du es einfacher. Du bist ein Madl aus den Bergen und Kilian ist ein Bursche aus den Bergen, aus den Neuseeländer Alpen. Da habt ihr schon eine Gemeinsamkeit mehr als Toni und ich damals!«
Lotti nickte.
»Hattest du niemals Heimweh?«
Anna lächelte.
»Nein! Die Liebe zu Toni ließ kein Heimweh aufkommen. Ich bin hier wirklich restlos glücklich!«
Anna lächelte erneut.
»Sicher denke ich an meine Lieben in Hamburg. Wenn ich dort oben wohnen würde, könnte ich sie öfter sehen. Dann telefoniere ich mit ihnen. Habe ich deine Fragen alle beantwortet? Wolltest du mich deshalb auf der Berghütte besuchen?«
»Ja! Ich dachte mir, daß du da Erfahrung hast! Kilian ist der einzige Enkel. Er wird einmal die Farm übernehmen. Er kann nicht nach Waldkogel umsiedeln. Das verstehe ich! Aber soll ich nach Neuseeland? Das ist so weit!«
»Liebst du Kilian?«
»Ja, ja, ja! Ich liebe ihn! Oh, Anna, ich liebe ihn so sehr! Ich kann nie einen anderen Mann lieben! Er liebt mich auch! Er will auf mich verzichten, weil er mir nicht zumuten will, ihm zu folgen.«
»Das ist eine ganz besondere Liebe, Lotti! Nur – sie macht dich nicht glücklich!«
Anna deutete auf die beiden großen Pakete, die mitten in der Wohnküche standen.
»Was ist das?«
»Da sind Koffer drin! Kilian will sie nachgeschickt haben. Darin sind Erinnerungsstücke, die er für seinen Großvater zusammengestellt hat. Ich hatte kein Packpapier. Außerdem wären die Bogen zu klein gewesen. Da habe ich je ein Bettuch drumgewickelt.«
»Gute Idee!«
»Ich bringe sie morgen früh zur Post. Anschließend komme ich rauf auf die Berghütte. Meinen Rucksack habe ich schon gepackt. Da steht er!«
Lotti deutete auf die Eckbank.
Anna schaute Lotti an und schmunzelte. Sie dachte daran, wie ihre Freundin Sue sie damals einfach ins Auto gepackt und nach Waldkogel gefahren hatte. Ich könnte Lotti einfach nach Neuseeland verfrachten. Der Gedanke gefiel Anna.
»Wohnst du schon ganz hier? Ich meine, hast du alle deine Sachen hier?«
»Ja, fast alle! Die ersten Tage habe ich noch daheim geschlafen. Aber das war unpraktisch. Ich habe mit den Eltern abgesprochen, daß ich als neutrale Person quasi den Hof hier verwalte, bis sie den Kaufvertrag unterschrieben und den Hof an einen meiner Brüder übergeben.«
»Das werden ziemlich hohe Portokosten, die Koffer nach Neuseeland zu schicken.«
»Ich weiß! Ich schicke sie per Luftpost. Das wird noch teurer.«
»Wenn du mit Kreditkarte bezahlst, dann sind sie zusätzlich noch versichert.«
»Gute Idee! Wo habe ich meine Kreditkarte? Hier oder noch daheim?« dachte Lotti laut.
Sie schaute nach. Sie hatte ihre Kreditkarte dabei. Anna schmunzelte. Durch geschickte Fragen hatte sie alles erfahren, was sie wissen wollte.
»So, Lotti! Ich sage dir jetzt, was wir machen! Wir packen jetzt die Koffer und dich mit deinem Rucksack in mein Auto. Dann fahre ich dich direkt zum Flughafen. Du hast alles, was du brauchst: einen gepackten Rucksack für die Berge in Neuseeland, eine Kreditkarte, um das Flugticket zu bezahlen und die Koffer, die dort hin müssen. Du bist eben sehr gewissenhaft und lieferst die Koffer mit den wertvollsten Erinnerungsstücken persönlich aus.«
»Du bist verrückt, Anna! Des ist eine total verrückte Idee! So ein Schmarrn! Was soll ich in Neuseeland?«
»Das fragst du? Erstens: die Koffer hinbringen! Und zweitens: deinem Kilian in die Augen sehen!«
»Naa! Nie und nimmer!«
»Du liebst Kilian? Du denkst Tag und Nacht an ihn? Du hast Herzklopfen? Du hörst immer noch seine Stimme im Ohr? Du spürst seine Lippen, wie er dich geküßt hat? Er hat dich doch geküßt?«
»Ja, das hat er! Und er hat mir meine kalten Füße massiert!«
»Das ist Liebe!«
Anna holte Luft.
»Neue Frage! Andere Frage! Stell dir vor, Kilian würde in Kirchwalden wohnen. Würdest du ihm dann die Sachen bringen? Würdest du dann die Chance wahrnehmen, ihn zu sehen?«
»Der Vergleich hinkt!«
»Nur zum Teil! Also, was ist? Es gibt nur einen Weg zu seinem Herzen! Du mußt dich ja nicht sofort entscheiden. Schau dir die Berge in seiner Heimat erst einmal an. Die Neuseeländer Alpen sollen sehr schön sein. Dort soll es ähnlich aussehen wie hier bei uns!«
»Ja, das stimmt. Kilian hatte Fotos dabei.«
»Mußt dir keine Sorgen machen, Lotti! Ich kümmere mich darum, daß Titus oder Thomas nach dem Hof schauen!«
»Wenn er mich nicht mehr will?« jammerte Lotti.
»Das wird nicht der Fall sein! Doch dann bist du einmal in Neuseeland gewesen. Du machst eine schöne Rundreise und einfach Urlaub. Keine Widerrede jetzt!«
Anna griff sich an den Kopf.
»Paß?«
»Der ist daheim auf dem Haltinger Hof!«
»Holen!«
Anna stand auf. Sie griff nach Lottis Rucksack und einem Koffer.
»Mach schon! Nimm den anderen!«
Lotti handelte wie in Trance. Ihre Gedanken eilten voraus nach Neuseeland.
Anna hielt kurz auf dem Haltinger Hof. Sie schärfte Lotti ein, im Auto sitzen zu bleiben. Lottis Mutter war in der Küche. Anna stürmte hinein.
»Grüß Gott, Haltingerbäuerin!«
»Mei, die Anna! Grüß Gott! Warum sitzt die Lotti draußen im Auto und kommt net rein. Der Thomas ist nicht da!«
»Haltingerbäuerin! Ich will es kurz machen! Die Lotti ist in den Kilian verliebt!«
»Und wie des Mald verliebt ist! Unglücklich verliebt ist sie!«
»Das werde ich jetzt ändern! Wo ist Lottis Reisepaß?«
Die Bäuerin schaute Anna mit große Augen an. Sie benötigte einige Sekunden.
»Des Madl will nach…»
»Genau! Am Besten du sagst nichts, Haltingerbäuerin! Sonst tut es sich die Lotti vielleicht doch wieder anders überlegen. Ich bringe sie jetzt zum Flughafen. Jemand muß nach dem Vieh schauen drüben auf dem Hof.«
Die Bäuerin holte Lottis Reisepaß.
»Bist ein Engel, Anna! Was habe ich dem Madl zugeredet! Nix hat es hören wollen!«
»Wir reden ein anderes Mal, Bäuerin!«
Anna nahm den Reisepaß und rannte hinaus. Sie sprang ins Auto. Lottis Mutter kam nach. Durch das offene Wagenfenster streichelte sie Lottis Wange.
»Gute Reise, mein Kind!«
Dann fuhr Anna los. Die Haltingerbäuerin winkte dem Auto nach.
*
Lotti flog nach Wellington und nahm einen Inlandflug nach Christchurch. Sie kaufte sich eine Menge Wanderkarten und Reiseführer. Lotti übernachtete in einem Hotel. Am nächsten Tag mietete sie sich ein Auto und fuhr los. Sie gewöhnte sich bald an den Linksverkehr. Außerhalb ließ der Verkehr nach. Die Landschaft der Neuseeländer Alpen erinnerten Lotti an die heimatlichen Berge. Sie hielt öfters an und schaute sich um.
»Es ist wirklich sehr schön hier! Ganz ähnlich wie daheim!« flüsterte sie vor sich hin, als wollte sie sich selbst Mut zureden.
Die Menschen waren freundlich. Lotti mußte einige Male fragen. Dann näherte sie sich ihrem Ziel. Schon von weitem sah sie ein weißes Haus mit einem mächtigen Dach am Berghang.
»Schaut wirklich aus, als hätte jemand den Bernreither Hof hierher verpflanzt und ein bissel gegossen, damit er wächst.«
Lottis Herz klopfte wie wild, als sie ein wenig später vor dem Haus hielt.
Sie stieg aus und schaute sich um. Ein Hund kam auf sie zugelaufen. Lotti streichelte ihn. Sie redete Deutsch mit dem Tier.
»Mei, da kannst dir was einbilden, Madl! Unser Rex läßt sich net von jedem streicheln!«
Lotti richtete sich auf.
»Grüß Gott! Ich suche Herrn Willi Bernreither!«
»Der bin ich! Grüß Gott!«
Lotti reichte ihm die Hand. Dann ging sie um das Auto herum und öffnete die hintere Tür.
»Ich liefere Ihnen die Koffer! Sie erwarten doch die Koffer!«
Lotti hob sie aus dem Kofferraum.
»Ja, auf die warte ich!«
Willi Bernreither betrachtete die Gepäckstücke genau. Dann schaute er Lotti an, dann wieder die Gepäckstücke.
»Sag mal, Madl! Da steht aber keine Adresse drauf. Da sind nur die Anhänger von der Fluggesellschaft dran!«
»Ja, das stimmt!« sagte Lotti leise.
»Mei, heißt des! Du bringst die Koffer persönlich aus Waldkogel?«
Lotti errötete tief.
»Ja!«
»Mei, Madl! Du hast dir aber viel Arbeit gemacht! Wie ist denn dein Name?«
»Sie können Lotti zu mir sagen, Herr Bernreither!«
»Schmarrn! Hier ist des anders! Hier reden wir uns alle mit dem Vornamen an. Ich bin der Willi – höchstens noch Großvater Willi!«
Er musterte Lotti genau.
»Sag, Lotti! Ich kannte mal einen in Waldkogel, des war mein Freund. Der hieß Adam Haltinger! Mit dem hast du Ähnlichkeit!«
»Das sagen alle! Adam Haltinger war mein Großvater! Leider ist er schon seit Jahren tot. Meine Eltern sind Elli und Helmut und ich habe noch zwei Brüder, Thomas und Titus!«
Willi griff durch das offene Wagenfenster und betätigte die Autohupe. Dann brüllte er, so laut er konnte:
»Großmutter! Mary! Bill! Kilian! Tina! Tammy! Sofort hierher! Macht schon!«
Wieder drückte er auf die Hupe.
Endlich kamen sie aus verschiedenen Richtungen herbeigeeilt. Sie begrüßten Lotti ganz herzlich und umarmten sie.
Zum Schluß stand sie Kilian gegenüber.
»Willkommen, Lotti! Ich freue mich, daß du da bist! So meinte ich es aber nicht mit der Zustellung der Koffer!«
Lotti fühlte, wie die ganze Familie sie beobachtete.
»Du hast Titus nicht gesagt, wie die Koffer hierher gelangen sollen.«
»Stimmt! Ich danke dir! Wir werden das wiedergutmachen!«
»Ja, das wird auch nötig sein, Kilian! Ich weiß auch schon, wie!« Er schaute sie etwas ratlos an.
»Mei, Kilian! Sei net so steif! Das Madl hat einen weiten Weg hinter sich. Frage sie schon, wie du des wiedergutmachen kannst!« drängte ihn sein Großvater.
»Ja, was kann ich für dich tun?«
Lotti breitete die Arme aus. Sie streckte sie in die Höhe und zeigte auf die Berge.
»Zeige mir deine Berge! Die Berge deiner Heimat! Bitte! Zeige mir deine Heimat!«
Kilian lächelte. Seine blauen Augen strahlten.
»Wieviel Zeit hast du?«
»So viel du willst!«
»Des ist gut! Des ist sehr gut, Lotti!«
Kilian stand die Freude ins Gesicht geschrieben.
»Nun bitte das Madl schon herein! Du scheinst sie ja gut zu kennen! Daß du uns nix erzählt hast, da reden wir noch drüber, Kilian. Des war net recht, uns so ein fesches und liebes Madl zu veschweigen«, tadelte ihn sein Großvater lachend.
Kilian errötete verlegen. Alle lachten laut.
»Kilian, bist du in die Lotti verliebt?«
»Sei nicht so vorlaut, Tina! Ich kümmere mich nicht um deine Liebeleien, also geht es dich nix an, was ich mache!«
»Tina! Er hat es zugegeben!« schrie Tammy.
»Kinder, jetzt gebt Ruhe!« ermahnte sie ihr Vater Bill mit strenger Stimme.
»Lotti, du wirst müde und hungrig sein. Eine Dusche oder ein Bad ist bestimmt auch angenehm!« nahm sich Mary Lottis an.
»Ja! Duschen! Wunderbar! Es war eine lange Reise. Eigentlich wollte ich auf die Berghütte. Statt dessen bin ich in Neuseeland.«
»Das ist schon sonderbar, Lotti! Es ist schon das zweite Mal, daß du auf die Berghütte wolltest und vor der Tür eines Bernreither Hofes angekommen bist. Ich denke, das hat etwas zu bedeuten!«
»Ja, Kilian! So scheint es mir auch! Darüber sollten wir ausführlich reden!«
»Das könnt ihr später!«
Mary brachte Lotti ins Haus.
Sie gab ihr eines der Gästezimmer unter dem Dach. Es war ein geräumiges Zimmer mit schönen Bauernmöbeln. Lotti sah, daß sie auch schon alt waren, aber nicht so alt, wie die auf dem Haltinger Hof oder dem Bernreither Hof. Lotti nahm ein erfrischendes Bad. Sie wechselte die Kleider, wusch die, die sie getragen hatte schnell aus und hängte sie über die Badewanne.
Nach einer Weile klopfte es laut
an der Tür. Es war Kilians Mutter.
Sie fragte, ob Lotti noch etwas be-nötige.
»Gibt es hier eine Wäscheleine? Ich habe meine Sachen kurz durchgewaschen.«
Es gab eine Wäscheleine hinter dem Haus auf der Wiese.
»Dann stimmt es wirklich! Du bist nicht für eine so weite Reise eingerichtet?«
»Nein! Es war eine sehr spontane Idee!«
Kilians Mutter war Lotti sehr sympathisch. Sie lächelte voller Verständnis und Zuneigung.
»Es war eine gute Idee! Ich bin froh, daß du hier bist! Alle sind sehr froh. Von Frau zu Frau will ich dir etwas sagen: Kilian war unausstehlich, seit er aus Waldkogel zurück war. Ich denke, das hat sich mit deiner Ankunft geändert! Nochmals willkommen, Lotti!«
»Danke! Vielen Dank, Mary!«
Sie gingen hinunter. Die ganze Familie saß um den Tisch versammelt. Lotti bekam einen Ehrenplatz neben dem Großvater.
Sie tranken Kaffee zusammen und aßen frischen Apfelkuchen.
»Bist du müde und willst dich ausruhen oder darf ich dir den Hof zeigen?«
»Ich würde den Hof sehr gerne sehen! Vor allem die Schafe! Kilian hat wunderbare Wollsocken. Sie fühlen sich so weich an. Ich bedauerte, daß sie so groß waren.«
»Das ist Wolle von unseren Schafen! Wir haben auch junge Lämmer. Heute wurden wieder welche geboren.«
Dann führte Willi Bernreither Lotti über den Hof. Er zeigte ihr alles. Sie redeten über die Landwirtschaft im Allgemeinen und über den Unterschied zwischen Deutschland und Neuseeland. So verging die Zeit bis zum Abend. Lotti schlief tief und fest in dieser Nacht und träumte von Kilian.
*
Am nächsten Tag ordnete sich Lotti in die Tätigkeiten auf dem Hof ein, als würde sie dazu gehören. Sie schaute mit Kilians Vater nach den Schafen und half der Großmutter im Gemüsegarten. Anschließend fuhr sie mit Mary und den Zwillingen zum Einkaufen in den nächsten Ort. Dort kaufte sich Lotti auch einige Kleidungsstücke und sie gab dort auch den Leihwagen zurück.
Nur Kilian hielt etwas auf Abstand.
Lottis Herz schlug Purzelbäume, als er sie beim Abendessen fragte: »Willst du einen Abendspaziergang mit mir machen?«
»Gern, Kilian!«
Kilian und Lotti gingen nebeneinander her. Sie gingen über die Felder, ein Stück durch den Wald und kamen dann zur Bank am Hang.
»Lotti! Das alles, was du hier siehst, gehört zum Bernreither Hof, zu unserer Farm. Großvater wird es eines Tages Vater und Mutter übergeben und danach geht es über an mich. Bevor Großvater hier ankam, war nur Wildnis. Ich kann nicht von hier fort. Das ist nicht nur aus Pflichtgefühl so, sondern weil ich tief im Herzen eine große Verbundenheit spüre.«
»Ich verstehe dich!«
»Das wußte ich, Lotti! Ich wollte dir nicht weh tun, deshalb bin ich ohne Abschied fort. Es war schändlich, Lotti, das weiß ich. An meinen Gefühlen zu dir hat sich nichts geändert. Ich habe gelitten, sehr gelitten. Nie hätte ich zu hoffen gewagt, daß du kommst.«
Kilian schaute Lotti tief in die Augen. Sie sah darin all seine Liebe zu ihr.
»Lotti, ich habe eine Bitte! Schau dir alles an! Prüfe in Ruhe und gewissenhaft, wie ein Leben mit mir aussehen könnte. Ich bin mit jeder Faser meines Herzens hier mit dem Land verwurzelt und liebe meinen Beruf. Tina und Tammy empfinden keine so große Liebe zum Landleben. Tina ist befreundet mit einem jungen Mann, der in einer Behörde in Wellington arbeitet. Tammy wird einen Lehrer heiraten. Beide werden das schöne Tal verlassen und nur noch in den Ferien kommen. Sie gehen ihren Weg. Jeder Mensch muß doch seinen eigenen Weg gehen. Auch du, Lotti! Ich sage es dir, daß ich sehr bedauern würde, wenn du für dich hier keine Zukunft sehen würdest.«
»Kilian, liebster Kilian! Pst!« Lotti legte ihm ihren Zeigefinger auf den Mund. »Ganz ruhig, Kilian!«
Sie schaute ihn liebevoll an. Ihre Augen schenkten ihm all die Zärtlichkeit, die ein liebendes Herz zu schenken vermag.
»Kilian, erinnere dich! Du hast mich gefragt, wieviel Zeit ich hätte. Was habe ich geantwortet? Erinnerst du dich?«
Es dauerte einen Augenblick, bis Kilian ihr antwortete und den Satz wiederholte, den sie ihm gesagt hatte.
»Siehst du! Du weißt es noch! Und wenn ich Zeit brauche, bis ans Ende meines Lebens, dann soll es so lange dauern!«
Kilian nahm Lottis Hand.
»Ist das wirklich wahr?«
»Ja!«
»Lotti, ich liebe dich!«
»Ich liebe dich, Kilian! Mein Platz ist dort, wo du bist! Es ist wunderschön hier in den Neuseeländer Alpen! Und es sind nur knappe zwanzigtausend Kilometer bis Waldkogel. Da ist man schnell dort. Du hast es ja gesehen, wie schnell das geht. Ich wollte auf die Berghütte – und schon war ich hier! Hier bei dir!«
Kilian nahm Lotti fest in die Arme. Er zog sie an sich. Er drückte sie so fest, als wollte er sie nie wieder loslassen. Dann fanden sich ihre Lippen zu innigen und leidenschaftlichen Küssen. Es waren Küsse voller tiefer Hingabe, angefüllt mit dem Versprechen, nur ein Ziel zu haben, den anderen glücklich zu machen.
Sie saßen auf der Bank am Hang eines wunderschönen Tales. Die Sonne ging langsam unter.
»Jetzt geht bald die Sonne über Waldkogel auf«, sagte Lotti leise.
»Ja! Jeden Abend saß ich hier und schickte mit den Sonnenstrahlen meine Liebe zu dir!«
»Ich habe sie gespürt.«
Die Nacht brach herein. Lotti erlebte zum ersten Mal eine Nacht unter Sternen auf der anderen Seite der Erde. Später standen sie von der Bank auf und legten sich ins Gras. Lotti lag in Kilians Armen und fühlte sich so geborgen, am Ende der Welt.
*
Am nächsten Morgen betraten Kilian und Lotti Hand in Hand die Wohnküche.
Kilian blieb stehen und legte seinen Arm um Lottis Schultern.
»Großvater! Es stimmt! Ich habe dir etwas verschwiegen! Ich habe mich in Waldkogel in Lotti verliebt. Das war der Grund, der wahre Grund, weshalb ich schon so früh wiedergekommen bin. Lotti wollte in Waldkogel bleiben und ich gehöre hierher. Doch jetzt ist alles klar.«
Kilian schaute Lotti an.
»Ja, das Tal, das Haus! Das macht mir die Entscheidung für die Liebe leicht. Ich weiß, daß ich hier eine neue Heimat finden werde.«
»Ja, das wirst du, Lotti!«
Kilian schaute seine Familie an.
»Mutter! Vater! Großvater! Groß-mutter! Tina und Tammy! Das ist die zukünftige Jungbäuerin, die junge Farmerin hier auf dem Bernreither Hof in Neuseeland. Lotti und ich werden heiraten!«
Kilians Eltern und Großeltern standen auf. Sie kamen auf Lotti zu und schlossen sie in die Arme.
»Ein besseres und lieberes Madl hättest du net finden können, Kilian!«
Willi Bernreither hatte feuchte Augen.
»Irgendwie ist es meinem Bruder Hans doch noch gelungen, etwas wiedergutzumachen. Sein letzter Wille hat dich nach Waldkogel geführt, und du hast dort deine Liebe gefunden. So will ich meinen Groll gegen meine alte Heimat auch begraben.«
»Das ist gut, Großvater! Jetzt findet dein Herz endlich Frieden!«
*
Lotti verbrachte vier wundervolle Wochen in Neuseeland. Täglich telefonierte sie mit ihren Eltern, um die Hochzeitsvorbereitungen zu überwachen.
Dann war alles geregelt. Die Grundbucheintragung des Bernrei-ther Hofes in Waldkogel war auf Willi Bernreither geändert worden. Für den Abschluß des Kaufvertrages gab es jetzt keine Hindernisse mehr. Großvater Willi beschloß, zur Hochzeit seines Enkelsohnes nach Waldkogel zu fliegen. Erst sollte sein Enkel heiraten, dann würde er sich persönlich um die Weitergabe des Bernreither Hofes in Waldkogel kümmern.
So kam es, daß nach fast sechzig Jahren Willi Bernreither wieder sein Elternhaus betrat. Lottis Mutter hatte alle Zimmer für die Verwandten aus Neuseeland hergerichtet. Willi Bernreither konnte seiner Frau endlich zeigen, woher er kam. Da es bis zur Hochzeit noch einige Tage waren, bekamen sie auf dem Hof viel Besuch. Willi genoß es, im Mittelpunkt zu stehen. Sogar der alte Alois kam von der Berghütte herunter und besuchte seinen Freund. Lange unterhielten sich die beiden. Alois konnte Willi viel über seinen verstorbenen Bruder und dessen Frau Berta erzählen.
Am Abend vor Kilians und Lottis Trauung besuchte Willi das Grab auf dem Friedhof von Waldkogel. Er machte endgültig Frieden mit seinem Bruder und seinen Eltern. Mit feuchten Augen schaute er hinauf zum »Engelsteig«, dachte an seinen Bruder und sagte ein Gebet auf.
*
Kilian fuhr vom Bernreither Hof mit einer Kutsche hinüber zum Haltinger Hof und holte seine Braut ab. Lotti sah bezaubernd aus. Sie trug ein weißes Brautkleid mit Schleppe. Das schulterfreie Oberteil war aus weißem Brokat mit silberner Stickerei. Ein langärmliges Jäckchen, hochgeschlossen mit vielen stoffbezogenen Knöpfen erinnerte im Schnitt an ein Dirndljäckchen. Lottis braunes lockiges Haar war hochgesteckt zu einem großen Knoten, der von einem Kranz kleiner weißer Rosen zusammengehalten wurde. Der Braut-strauß, den Kilian seiner Angebeteten überreichte, war ein Gebinde aus weißen und roten Rosen. Kilian trug einen dunkelgrünen Anzug.
Zuerst nahm Bürgermeister Fritz Fellbacher die standesamtliche Eheschließung vor. Danach gaben sich Lotti und Kilian in der schönen Barockkirche von Waldkogel das Jawort. Alle waren gerührt. Selbst Großvater Willi schneuzte in sein Taschentuch.
Ganz Waldkogel feierte auf dem Haltinger Hof. Auf einem langem Tisch türmten sich die Geschenke. Im Laufe der Feier standen Lottis Vater und Kilians Vater auf. Sie klopften an ihre Gläser. Alle verstummten. Willi Bernreither hob sein Glas und setzte zu einer kleinen Rede an:
»Dies ist einer der schönsten Tage in meinem Leben. Mein Enkel hat eine Braut aus Waldkogel. Lotti ist die Enkelin eines alten Freundes. Es ist also im besten Sinn eine richtige Heirat, so wie man es sich auf dem Dorf wünscht. Man kennt sich und die Familien kommen zusammen. Liebe Lotti! Ich bin glücklich, dich an der Seite meines Enkels zu sehen. Deshalb möchte ich dir ein ganz besonderes Geschenk machen. Ich möchte dir etwas geben, von dem ich weiß, daß es bei dir in den besten Händen ist und du immer fürsorglich damit umgehst. Darüber hinaus sollst du damit einen Ort in deiner Heimat haben, an den du immer zurückkehren kannst. Ich weiß, daß du davon keinen Gebrauch machen wirst, höchstens im Urlaub. Lotti, ich habe dir den alten Bernreither Hof überschrieben. Er gehört dir!«
Kilians Großvater übergab Lotti einen Umschlag.
»Großvater Willi! Das ist…«
Lotti wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie schaute ihre Eltern an. Diese lächelten. Ihr Vater klopfte an sein Glas. Das Gemurmel verstummte.
»Lotti! Wir haben drei Kinder. Deine Mutter und ich sind den Streit um das Erbe des Haltinger Hofes müde. Gleich, wem wir den Hof geben würden, Thomas oder Titus, wäre darin von uns vielleicht eine Ungerechtigkeit. Es gibt ein Sprichwort: Wenn zwei sich streiten, dann freut sich der Dritte. Wobei es immer nur Thomas war, der Streit suchte. Wir haben jedenfalls entschieden. Deine Mutter und ich haben dir den Haltinger Hof überschrieben. Wir behalten dort ein Leben lang ein Wohnrecht.«
Thomas sprang von seinem Stuhl. Doch Pfarrer Zandler, der neben ihm saß, drückte ihn auf die Sitzfläche.
»Ruhe! Höre zu!«
Helmut Haltinger fuhr fort.
»Liebe Lotti! Es liegt jetzt bei dir, welchem deiner Brüder du welchen Hof gibst. Du hast immer zwischen deinen Brüdern zu vermitteln versucht. Ich bin sicher, daß du die richtige Entscheidung triffst. Also, welchem deiner Brüder gibst du welchen Hof?«
Lotti schaute ihren Mann an. Kilian lächelte ihr zu.
Lotti blickte Kilians Großvater an. Er blinzelte ihr zu.
Lotti schaute ihren Vater an, der nickte ihr aufmunternd zu.
Kilian flüsterte seiner Braut etwas zu. Lotti räusperte sich.
»Gut, dann werde ich die Höfe verlosen! Ihr, liebe Hochzeitsgäste, seid alle Zeugen.«
Lotti ließ sich von jemanden einen Hut reichen. Da hinein legte sie zwei Zettel. Auf dem einen stand ein großes »H« für Haltinger Hof und auf dem andern ein großes »B« für Bernreither Hof. Lotti hielt ihren Brüdern den Hut hin. Beide zogen und schauten nach. Alle hielten nun den Atem an.
Titus zog den Zettel mit dem »H« und Thomas bekam den Bernreither Hof. Lotti war sehr zufrieden. Thomas fand sich nun auch endgültig damit ab.
Am nächsten Tag machte Lotti mit ihren Brüdern die Pachtverträge. Dann flog sie mit ihrem Mann und dessen Familie nach Neuseeland. Ihre Eltern kamen auch mit. Sie wollten sehen, wo Lotti ihr glückliches Leben verbringen würde.
Lotti und Kilian wurden sehr glücklich. Im Jahr darauf bekamen sie Zwillinge. Es waren ein Junge und ein Mädchen.