Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 2 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 20
ОглавлениеXaver Baumberger stand vor seinem Wirtshaus. Ungeduldig klopfte er mit den Fingern auf die Kühlerhaube seines Autos.
»Nun kommt schon, Kinder!« rief er laut.
Dabei war er fast sicher, daß ihn Franziska und Sebastian nicht hören konnten. Sie waren hinten im Garten und verabschiedeten sich von den jungen Kaninchen.
»Grüß Gott, Xaver!«
Xaver Baumberger drehte sich um.
»Grüß Gott, Draxelbäuerin! Wohin des Wegs?«
Sie lachte.
»Ich wollte zu euch!«
»So, so! Am hellichten Tag willst ins Wirtshaus? Da bist aber net gut informiert. Weißt du net, daß wir nur Frühstück für die Pensionsgäste machen? Über Mittag haben wir geschlossen, wir machen normalerweise erst wieder so gegen fünf Uhr auf.«
»Des weiß ich doch! Gerade deswegen wollte ich jetzt vorbeikommen. Ich dachte mir, daß du Zeit hast und deine Meta auch. Ich habe nämlich etwas mit euch zu bereden.«
»So? Also die Meta ist in der Küche. Am besten gehst hinten herum, durch den Kücheneingang. Ich muß nur noch die Kinder rauf auf die Oberländer Alm fahren. Des dauert aber net lang. Dann bin ich wieder da. Was willst denn bereden?«
»Ich habe in einigen Wochen einen runden Geburtstag. Ich werde fünfzig Jahre. Den muß ich wohl feiern. Da komme ich net drum herum. Wenn ich nix mache, dann kann man mir des falsch auslegen. Aber daheim auf dem Hof will ich net feiern.«
Cäcilia Draxel, die von allen in Waldkogel nur Zilli gerufen wurde, schaute Xaver Baumberger ernst an. Er konnte erraten, warum Zilli nicht daheim auf dem Hof feiern wollte, wie es eigentlich üblich war. Aber er sagte nichts, sondern wartete, bis Zilli selbst davon sprach.
»Weißt, Xaver, es ist mein erster runder Geburtstag ohne meinen lieben Mann. Als ich vierzig wurde, da hatten wir ein großes Fest gemacht. Da konnte noch niemand ahnen, daß ich schon bald darauf alleine sein würde. Was haben wir getanzt in der Nacht und waren fröhlich! – Dann ist der Unfall passiert.« Sie seufzte. »Na ja, es ist, wie es ist. Daran kann niemand etwas ändern. Ich muß damit fertig werden und ich will dir darüber auch nicht die Ohren volljammern, Xaver. Ich denke, du kannst verstehen, daß ich auf dem Hof net feiern will, oder?«
»Mei, Zilli, des kann doch jeder verstehen.«
»Ich habe mir lange überlegt, was ich machen soll. Dann habe ich mich entschlossen, bei euch zu feiern.«
»Des freut mich! Gehe ruhig schon einmal rein und berede des mit der Meta. Wie gesagt, ich bin bald zurück.«
In diesem Augenblick kamen Sebastian und Franziska aus dem Garten und stiegen ins Auto. Xaver fuhr los.
Während er den Geländewagen den Milchpfad hinaufsteuerte, mußte Xaver immer wieder an Zilli denken. Ihr Mann war ihre große Liebe gewesen. Die beiden waren ein besonders schönes Paar gewesen. Sie waren sehr glücklich miteinander, das konnte jedermann sehen. Obwohl ein dunkler Schatten über ihrer Ehe lag, gaben sie die Hoffnung nie auf. Sie hatten früh geheiratet. Leider blieben ihnen Kinder versagt. Jeder von den beiden wußte, wie sehr der andere darunter litt. Sie gingen deshalb besonders liebevoll miteinander um und lasen dem Partner jeden Wunsch von den Augen ab.
Xaver erinnerte sich an Zillis vierzigsten Geburtstag. Sie hofften damals immer noch Eltern zu werden. Es gab einige Paare in Waldkogel, die erst spät Eltern wurden. Außerdem sah man Zilli weder damals noch heute das Alter an. Sie versprühte Jugendlichkeit und eine ganz besondere Fröhlichkeit. Ihre Zuversicht war groß und stark. Gleichzeitig vertrauten die beiden den himmlischen Mächten.
»Wenn wir Eltern werden sollen, dann werden wir es! Wenn wir es nicht werden sollen, dann fügen wir uns in unser Schicksal«, sagte Zillis Mann.
Er hielt nichts von medizinischen Eingriffen und Tricks. Das wollte er seiner geliebten Cäcilia nicht zu-
muten. So waren die Jahre vergangen.
Dann, es war kurz nach Zillis Geburtstag, wurde ihr geliebter Mann beim Mähen einer Hochalmwiesen von einem Stein getroffen. Es war nur ein einziger Brocken, der vom Berg heruntergekommen war. Es war wohl Schicksal, daß Zillis Mann gerade an der Stelle stand, an der der Stein aufschlug. Der große Brocken traf ihn im Rücken. Er brach ihm das Rückgrat. Dr. Martin Engler stellte fest, daß er sofort tot war. Das war ein Trost für Zilli gewesen, daß ihr geliebter Mann hatte nicht leiden müssen. Zilli trug diesen Schicksalsschlag mit Fassung. Sie bewirtschaftete weiter den Draxel Hof .
Diese Ereignisse waren jetzt fast zehn Jahre her. Jeder in Waldkogel hätte verstanden, wenn Zilli wieder geheiratet hätte. Vielleicht wäre sie dann sogar spät doch noch Mutter geworden. Aber Zilli zog sich auch nach dem Trauerjahr zurück. Sie hielt ihrem verunglückten Mann die Treue über den Tod hinaus.
Xaver Baumberger nahm sich vor, mit Meta zu sprechen. Zilli sollte einen besonders schönen Geburtstag haben.
Xaver hielt auf der Oberländer Alm nur kurz an. Er stieg nicht aus. Er ließ nur die Kinder aussteigen.
»Und schön aufpassen beim Aufstieg! Net leichtsinnig sein!«
»Xaver Großvater, des mußt net jedesmal sagen! Das wissen wir. Wir passen schon auf«, moserte Sebastian.
Xaver Baumberger fuhr Sebastian durch das Haar.
»Ich weiß, daß ihr schon groß seid. Und leichtsinnig seid ihr auch net. Trotzdem kann ich net anders, als es zu sagen. Des ist eben so bei Erwachsenen, die sagen Sachen oft immer und immer wieder. Damit will ich nur sagen, wie sehr ich euch mag und es schlimm wäre, wenn euch etwas zustoßen würde. Doch nun geht! Ich werde den Toni und die Anna anrufen und ihnen sagen, daß ihr etwas später dran seid, weil ihr noch lange mit dem jungen Hasen gespielt habt.«
Die Kinder liefen los. Xaver Baumberger schaute ihnen nach und freute sich, daß das Schicksal die beiden zu ihnen geführt hatte. Die Ehe von Toni und Anna war bisher kinderlos. Wenn es ihnen so gehen sollte, wie Zilli und ihrem Mann, dann haben sie wenigstens Ersatzkinder, den Basti und die Franzi. Dankbar warf Xaver Baumberger einen Blick hinauf zum Gipfel des »Engelssteigs«.
Es ist nicht schön, wenn ein Paar keine Kinder hat. Wenn dann einer geht oder auch später im Alter, dann ist es besonders schlimm. Die arme Zilli. Jetzt ist sie ganz allein. Was soll mal später werden? Wer soll den Hof übernehmen, in den sie und ihr Mann so viele Arbeit gesteckt haben? So redete Xaver Baumberger mit den Engeln auf dem »Engelssteig«. Er bat um Beistand für Zilli und ein Ereignis, das glücklich machen würde. Dabei wußte Xaver auch nicht, was geschehen könnte. Aber die Engel und der Herrgott und die Heiligen, die werden es schon wissen. So vertraute er Zilli der himmlischen Fürsorge an.
Dann fuhr Xaver Baumberger zurück.
Meta saß mit Zilli in der Küche hinter dem Wirtsraum. Die beiden Frauen hatten schon alles beredet. Es sollte nachmittags Kaffee und Kuchen geben und später Abendessen und Bier vom Faß. »Beim Baumberger« wird an diesem Tag wegen einer Feier geschlossen, aber in Wirklichkeit würde wohl jeder aus Waldkogel vorbeischauen und mitfeiern. Es sollte auch Tanz geben für die Jungen und die Älteren, die die Füße nicht stillhalten konnten. Die Musiker würden im Nebenzimmer spielen. Dort könnte auch getanzt werden.
Bald waren alle Einzelheiten besprochen und Zilli verabschiedete sich. Xaver und Meta brachten sie hinaus und sahen ihr eine Weile nach, wie sie die Hauptstraße von Waldkogel entlang schritt.
*
Cäcilia Draxel ging nicht nach Hause. Sie hatte sich für diesen Tag noch etwas anderes vorgenommen. Sie steuerte das Pfarrhaus an. Als sie läutete, kam Helene Träutlein zur Tür, die Haushälterin von Pfarrer Heiner Zandler.
»Grüß Gott, Zilli! Der Herr Pfarrer wartet im Garten auf dich!«
»Grüß Gott, Helene! Danke!«
»Willst du Kaffee oder Tee oder ein Saft?«
»Danke! Ich komme soeben von den Baumbergers. Ich habe mit der Meta schon mehrere Tassen Kaffee getrunken. Hast du ein Wasser? Oder einen kalten Saft?«
»Freilich! Ich habe sogar etwas ganz Besonderes. Ich habe ein neues Rezept ausprobiert: kalte Waldmeisterlimonade auf Pfefferminzbasis. Des ist genau der richtige Durstlöscher an so einem heißen Tag wie heute.«
Helene Träutlein brachte Cäcilia in den Garten. Pfarrer Zandler saß in der Gartenlaube. Er stand auf, als er Zilli kommen sah.
»Grüß Gott, Herr Pfarrer! Danke, daß Sie sich so schnell Zeit für mich nehmen.«
»Grüß Gott, Cäcilia! Des ist meine Aufgabe. Ich bin für meine Schäfchen da, wenn sie mich brauchen.«
Der Geistliche bot Zilli einen Platz an. Sie plauderten über das Wetter und die angenehme Kühle in der Gartenlaube, bis Helene mit einem Krug und zwei Gläsern kam. Als langjährige Haushälterin stellte sie nur kurz das Tablett ab und verschwand sofort wieder im Haus. Sie wußte, was sich gehört.
Pfarrer Zandler schenkte ein. Sie tranken. Helenes selbstgemachte Limonade schmeckte wirklich köstlich.
»So, Madl! Was hast auf dem Herzen? Dein Anruf hat mich doch ein bisserl überrascht heute morgen, Cäcilia.«
Pfarrer Zandler nannte Zilli meistens Cäcilia.
»Ja, Herr Pfarrer! Ich habe heute nacht länger wach gelegen – mal wieder«, sie lächelte etwas verlegen. »Es ist net schön, so wie es ist. Ich komme gut mit allem zurecht. Habe genug Geld, damit ich meine Hilfskräfte anständig bezahlen kann. Die sind net nur während des Sommers auf dem Hof und auf unserer Alm. Naa, naa! Die bekommen ihren Lohn des ganze Jahr. Aber ich habe Sorgen. Was soll mal später aus dem Hof werden? Darüber habe ich mir seit langem viele, viele Gedanken gemacht. Dabei habe ich mich immer gefragt, was würde mein lieber Mann dazu sagen.«
Cäcilia seufzte.
»Dein Mann war ein prächtiges Mannsbild. Manchmal denke ich, daß der Herrgott so einen tüchtigen Burschen im Himmel gebraucht hat.«
»Ja, so wird es gewesen sein, Pfarrer Zandler. Da muß ich zurückstehen. Aber was soll ich mit dem Hof machen? Die Schwester meines Mannes, also meine Schwägerin, die ist weit fortgezogen. Sie hat in der französischen Schweiz einen Hotelier geheiratet. Deren Kinder sind alle im Hotelfach und in alle Welt verstreut. Die wollen den Hof sicherlich net. Wenn ich ihnen den Grund und Boden vermache, dann tun sie den doch nur verkaufen. Des will ich net. Meine Verwandte wohnen in Marktwasen. Sie haben die Landwirtschaft aufgegeben. Die Kinder arbeiten alle in Berufen in Kirchwalden. Der Älteste ist bei der Post und die beiden Madln eignen sich auch net als Bäuerin. Also muß ich mir was einfallen lassen, sagte ich mir. In einigen Wochen werde ich fünfzig Jahre. Bis dorthin will ich das geregelt haben.«
Pfarrer Zandler schaute Cäcilia Draxel ernst an. Er räusperte sich.
»Krank bist aber net?«
Sie lachte.
»Naa! Der Martin hat mich letzte Woche untersucht. Ich bin kerngesund und kann hundert werden, sagt er. Trotzdem muß des geregelt werden. Des mit dem Hof liegt mir wie eine Last auf den Schultern und drückt mich nieder. Es ist, als läge ein großer Stein auf meinem Herzen.«
Pfarrer Zandler hörte nur zu. Er ließ Zilli reden. Er trank einen Schluck.
»Also – ich habe niemanden, der Interesse an dem Hof hat. Erben, meine Nichten und Neffen und auch die von meinem Mann, die gibt es schon. Aber ich bin sicher, daß die alle sofort verkaufen würden. Dann wäre des zu Ende: die Tradition von so vielen Generationen. Schon allein bei der Vorstellung krampft sich mein Herz zusammen.«
Zilli trank ihr Glas aus. Pfarrer Zandler schenkte ihr nach.
»Wissen Sie, es muß doch jemand zu finden sein, der den Hof weiterführt! Meinen S’ net auch?«
»Was willst damit sagen, Cäcilia?«
Die Bäuerin schaute Pfarrer Zandler in die Augen. Sie holte ihr Taschentuch aus der Schürzentasche ihres Dirndls und schneuzte sich die Nase. Es ging ihr doch recht nah.
»Mein guter Mann und ich, wir haben oft drüber geredet, was wir machen, wenn des in den nächsten Jahren nix mehr werden sollte mit einem Kind. Dann wollten wir eines annehmen oder auch zwei, ein Madl und einen Bub. Älter sollten sie schon sein, dachten wir. Die meisten Leut’, die wollen nur Säuglinge und Kleinkinder. Wir dachten, daß die Waisenhäuser voll sind von älteren Kindern, die niemand haben will. Irgendwann müssen die das Waisenheim verlassen. Dann sind diese armen Würmchen ganz auf sich gestellt, haben niemand. Des muß schwer sein, keine richtige Heimat zu haben!«
Cäcilia wischte sich erneut die Nase.
»Nun ja! Mittlerweile sind viele Jahre vergangen. Damals hatten wir daran gedacht, ein Kind so zwischen zwölf und fünfzehn Jahre aufzunehmen. Heute denke ich, es wäre besser, wenn ich jemanden finden könnte – vielleicht ein Madl – das so um die zwanzig ist oder auch älter. Ich wäre bestimmt eine gute Freundin und dann eines Tages auch eine gute Mutter.«
»Dann willst später dem Madl den Hof vererben?«
»Ja, wenn es Freude daran hat und ich sehe, daß es in der Rolle als Bäuerin aufgehen tut.« Cäcilia lachte. »Klingt wie im Film, wie? Hof sucht Erbe oder Erbin? Bin ich verrückt?«
Pfarrer Zandler verneinte. Er hielt es für eine gute Idee. Er stimmte Zilli auch zu, daß sie es erst einmal mit einem Madl probieren sollte. Da sie als Frau wohl besser damit zurecht käme.
»Ja und nun zu meiner Bitte, Herr Pfarrer! Ich benötige Hilfe. Können’s mir helfen, so ein Madl zu finden?«
»Mei, Cäcilia! Des ist eine Aufgabe!«
Er atmete durch und dachte einen Augenblick nach. Dabei betrachtete er die Bäuerin. Er sah in ihre blauen Augen, in denen so viel Einsamkeit lag.
Pfarrer Zandler räusperte sich.
»Ich habe gute Verbindungen zu einigen kirchlich geführten Waisenhäusern und Häusern für ältere Waisen. Ich könnte das einmal mit der Mutter Oberin des Franziskaner Ordens bereden. Die Franziskanerinnen nehmen sich seit langer Zeit der Bildung und Erziehung von Kindern an.«
»Oh, des wäre schön. Redens’ mit der Mutter Oberin!«
»Wie soll des Madl sein? Hast du da Vorstellungen?«
Cäcilia zuckte mit den Schultern.
»Was soll ich da sagen? Ich komme mir so vor, als suchte ich aus einem Katalog aus. Naa, naa, Herr Pfarrer! Da kann und will ich nix sagen. Da vertraue ich dem lieben Gott und der Heiligen Mutter Maria! Die Maria, die wird schon wissen, wie des Madl sein soll. Ich kann nur sagen, daß es mir herzlich willkommen ist. Ich will dem Madl eine Heimat geben, verstehen Sie?«
»Des ehrt dich, daß du keine bestimmten Vorstellungen hast. Ich denke, daß das Madl ehrlich sein soll, fleißig, anständig, die Landwirtschaft muß es mögen und die Berge. Ist des so?«
»Ja, des kann hinkommen! Ich hätte auch nix dagegen, wenn es einen fröhlichen Charakter hat. Mein Mann war ein ganz Fröhlicher. Aber des wissen Sie ja! Er war immer zu einem Scherz aufgelegt und hat auch manchen Spaß gemacht. Doch dabei war er nie verletzend.«
Pfarrer Zandler griff nach seinem Terminkalender, der neben ihm auf der Bank lag. Er blätterte darin.
»Nun gut! Ich habe ohnehin bald einen Termin mit der Mutter Oberin. Ich werde sie kontaktieren und ihr alles sagen. Wenn ich sie in drei Wochen sehe, vielleicht weiß sie dann schon jemanden.«
»Das wäre wunderbar!« seufzte Zilli.
Pfarrer Zandler verwickelte Zilli dann doch noch in ein längeres Gespräch. Dabei kitzelte er einige ihrer Träume aus ihr heraus. Zilli hatte sich in den einsamen Nächten ausgemalt, wie es sein würde, wenn ein Madl auf den Hof käme. Es war klar, daß sie es zuerst einmal als so etwas wie eine Haustochter anstellen wollte. Das würde bedeuten, daß sie alles gemeinsam machen würden. Die Arbeit und die Freizeit würde Zilli mit dem Madl teilen. Cäcilia Draxel war davon überzeugt, daß sie im Laufe der Wochen und Monate das Madl dann schon kennenlernen würde.
»Abends können wir zusammen vor dem Haus auf der Bank sitzen und stricken. Wir können zusammen Kuchen backen und Marmelade einkochen. Wir werden Sauerkraut stampfen und Gurken einlegen.«
Während Zilli erzählte, strahlten ihre Augen.
»Und die Sonntage werden nicht mehr so einsam sein«, fügte sie leise hinzu.
»Ich verstehe! Dann will ich sehen, was ich für dich tun kann, Cäcilia. Eine Garantie, die kann ich natürlich nicht übernehmen. Es kann gutgehen. Es kann aber auch schiefgehen.«
»Das weiß ich doch, Herr Pfarrer Zandler! Eine Garantie, daß im Leben alles so wird, wie man es sich wünscht, die hat man bei eigenen Kindern auch nicht. Es kann doch sein, daß die Kinder keinen Hof übernehmen wollen. Ich sehe das bei den Neffen und Nichten meines Mannes und bei meinen eigenen Verwandten. Als Eltern hätten wir da auch keinen Druck ausgeübt. Jeder Mensch hat das Recht auf sein eigenes Leben. Allerdings glaubte mein guter Mann – und ich glaube das auch, – daß es uns schon möglich gewesen wäre, unserem Kindl die Liebe zum Hof zu vermitteln. Was gibt es Schöneres als mit dem Vieh und der Natur zu leben? Vielleicht finde ich ein Madl, das auch so denkt.«
»Der Himmel wird es schon richten, Cäcilia!«
»Ja, das wird er! Es ist ein Versuch! Bitte denken Sie nicht, daß ich egoistisch bin. Es geht net nur darum, daß ich im Alter jemanden um mich habe. Ich würde schon gern jemanden glücklich machen.«
Cäcilia seufzte.
»Es ist schwer zu sagen, zu beschreiben, was da drinnen in meinem Herzen vor sich geht. Doch ich bin zuversichtlich, daß ich auf dem richtigen Weg bin. Ich habe heute nacht lange auf dem Balkon vor dem Schlafzimmer gestanden und in der Dunkelheit hinauf zum Gipfel des ›Engelssteigs‹ gesehen. Es war eine sternenklare Nacht. Der Vollmond stand direkt über dem Gipfel. Es kam mir so vor, als könne ich in der Dunkelheit das goldene Gipfelkreuz sehen. Lange habe ich mit den Engeln geredet, ihnen all meine Sorgen und Nöte, meine Hoffnungen und auch meine Ängste und Bedenken anvertraut. Dann wurde es ganz ruhig in meinem Herzen.«
»Das hast du gut gemacht, Cäcilia! Seit Jahrhunderten vertrauen die Leut’ in Waldkogel den Engeln auf dem Gipfel des ›Engelssteigs‹. Ein jeder weiß, daß diese himmlischen Wesen von dort in den Himmel aufsteigen und die Gebete, Wünsche und Sehnsüchte der Menschen hinaufbringen.«
Cäcilia nickte. Gleichzeitig dachte sie auch an den anderen Berg, an das ›Höllentor‹. Dieser andere Hausberg von Waldkogel war gefürchtet. Die Waldkogeler waren davon überzeugt, daß der Teufel dort ein Tor zur Hölle hatte. Wenn er herauskam, geschah ein Unglück. Außerdem war der Berg mit seinen ständig abrutschenden Hängen, tiefen Felsspalten und dem bröckelnden Gestein sehr gefährlich. Er war für Touristen gesperrt. Selbst die Einheimischen mieden ihn. Nur in Begleitung sehr erfahrener Bergführer wurden Erkundigungstouren zur Sicherung der Hänge gemacht. Die Hänge veränderten sich ständig.
Pfarrer Zandler schenkte noch einmal die Gläser voll. Dann war die Kanne leer. Sie tranken. Cäcilia schaute auf die Uhr.
»Oh, schon so spät! Wie schnell die Zeit vergeht! Vielen herzlichen Dank, daß Sie mir zugehört haben, Herr Pfarrer. Danke für Ihre Bereitschaft, mir zu helfen!«
»Das ist meine Aufgabe, Cäcilia! Nun gehe schön heim. Sei unbesorgt. Ich werde mit der Mutter Oberin reden und dir dann Bescheid geben. Ich rufe dich an oder komme vorbei!«
Sie standen auf. Pfarrer Zandler gab Cäcilia seinen Segen und brachte sie hinaus auf die Straße. Die Bäuerin ging nicht sofort heim. Sie besuchte erst noch die Kirche und stiftete der Mutter Gottes viele Kerzen. Anschließend stand noch ein Besuch beim Grab ihres Mannes an. Zuerst ordnete Cäcilia die Blumen. Dann setzte sie sich auf die steinerne Einfassung und erzählte ihrem Mann von ihrem Vorhaben und dem Gespräch mit Pfarrer Zandler. Zilli hörte in sich hinein und spürte eine Ruhe und Gewißheit, daß sie auf dem richtigen Weg war. Voller Ruhe und Zuversicht ging sie nach Hause.
*
Die Sonne stand groß und tiefgolden im Westen. Ein warmer Abend-wind trug den Salzduft der Nordsee bis in den noblen Hamburger Vorort. Dr. Ingo Hansen und seine Frau Frauke saßen auf der Westterrasse der großen, sehr gepflegten Gründerzeitvilla und nahmen einen Schlummertrunk zu sich. Sie schauten in den großen parkähnlichen Garten, den ein festangestellter Gärtner ständig pflegte. Es war still, nur das Rauschen des künstlichen Wasserfalls war zu hören.
»Du bist stiller als sonst, Ingo. Bedrückt dich etwas? Hast du Ärger oder Sorgen im Betrieb?«
Ingo lächelte seiner Frau zu. Sie ging auf die Sechzig zu und war immer noch eine Schönheit.
»Nein! Alles in Ordnung! Entschuldige, wenn ich mit meinen Gedanken nicht bei dir war. Wie war dein Tag heute? Was hast du gemacht?«
»Du bist nicht sehr geschickt, Ingo! Mir kannst du nichts vormachen. Dich bedrückt doch etwas – oder? Es beschäftigt dich etwas. Das spüre ich. Wenn man einen Menschen liebt, dann bekommt man seine Schwingungen mit. Ich fühle, daß dir etwas auf der Seele lastet. Haben wir nicht immer alles geteilt? Wir haben doch immer zusammengehalten, in guten wie in schlechten Tagen.«
Ingo stellte sein Glas ab. Er legte seinen Arm um seine liebe Frau, die neben ihm saß, und drückte ihr einen Kuß auf die Wange.
»Ach, liebste Frauke! Manchmal habe ich Zweifel, ob wir alles richtig gemacht haben. Wir gehen langsam auf den Abend des Lebens zu. Ich ziehe Bilanz für mich.«
»Sicher haben wir alles richtig gemacht. Tüchtig bist du gewesen, als du den maroden Betrieb deines Vater übernommen hast. Das Unternehmen war verschuldet. Auf der Villa lasteten Hypotheken. Du hast modernisiert, die Firma zum Erfolg geführt. Heute geht es uns gut, sehr gut. Was ist es also, was dich bedrückt?«
»Dirk! Dirk, unser Junge! Darüber denke ich viel nach. Sicher haben wir beide – da will ich dich bewußt mit einbeziehen – alles getan, daß heute alles so ist, wie es ist. Wir können stolz sein auf das Erreichte. Das Unternehmen exportiert Maschinen in alle Welt. Wir machen Gewinn, die Villa ist schuldenfrei und modernisiert. Wir können uns Hauspersonal leisten. Doch ich frage mich oft, ob es recht ist, dies alles unserem Dirk aufzubürden?«
Frauke lehnte ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes.
»Liebster, wir bürden Dirk nichts auf. Er hat all die Aufgaben freiwillig übernommen.«
Ingo seufzte.
»Frauke, da bin ich mir nicht so sicher. Dirk ist nur in die Fußstapfen seines Bruders getreten, nach Knuts tragischem und tödlichem Autounfall. Er war einfach da und hat die Aufgaben seines älteren Bruders übernommen. Ich beobachte Dirk schon seit einigen Monaten. Er macht alles sehr – sehr gut, vielleicht noch besser, als es Knut gemacht hätte. Aber er ist so ernst. Er ist so verschlossen. Dabei ist er jung. Ihm fehlt die Jugendlichkeit, die Unbeschwertheit! Was sein Bruder zu viel hatte, hat Dirk zu wenig. Nie lächelt er!«
»Ich weiß nicht, wie Dirk in der Firma ist. Das weißt du besser. Daß er sich mit viel Pflichtbewußtsein den gestellten Aufgaben widmet, das sehe ich auch von hier aus. Er bleibt immer länger im Büro. Er kommt während der Woche noch kaum zum gemeinsamen Abendessen heim. Jetzt ist er wohl auch noch im Büro.«
Frauke lächelte.
»Das war bei dir damals auch nicht anders. Da war es oft auch Mitternacht, bis du gekommen bist.«
»Ich weiß, liebste Frauke! Du hast immer auf mich gewartet. Dann saßen wir in der Küche und redeten miteinander.«
»O ja! Du hast mir alles erzählt. Du bist bei all den Sorgen aber immer voller Zuversicht und freudiger Schaffenskraft gewesen. Nie habe ich dich gebremst. Du hast das gebraucht.«
»Richtig! Danke für dein Verständnis! Trotz allem fühlte ich mich damals glücklich. Es ging aufwärts – mit jedem Tag einen ganz, ganz winzigen Schritt. Ich freute mich über jeden Erfolg, über jeden Fortschritt. Das ist es, Frauke! Dirk hat wunderbare Erfolge. Er ist großartig. Doch er zeigt seine Freude nie. Hat er etwas erreicht, dann legt er die Meßlatte wieder ein Stück höher. Sicherlich bin ich sehr stolz auf ihn. Doch ich habe meine Bedenken. Es macht ihn nicht glücklich.«
»Meinst du wirklich?«
»Ja, das vermute ich stark! Für ihn ist alles Pflicht. Diese Pflicht wandelt er um in einen fast krankhaften Ehrgeiz. Er betäubt seine Gefühle mit Erfolgen und immer neuen Erfolgen. Er arbeitet nur. Er hat keine Familie, nicht einmal eine Freundin. Er treibt keinen Sport. Er geht nicht aus. Mein Gott, Frauke! Was ist das für ein Leben? Der Junge wird eines Tages vor die Hunde gehen. Er geht am Leben vorbei.«
Frauke kuschelte sich in den Arm ihres Mannes.
»Du fragst dich, ob es etwas gab oder gibt, das Dirk so werden ließ? Du fragst dich, ob dein Verhalten ihn dazu treibt?«
»Richtig! Dann ging mir auf, daß ich mehr mit Knut zusammen war, weil er der Älteste war und einmal das Unternehmen führen sollte. Ich weiß eigentlich wenig von den anderen Kindern. Dirk kenne ich noch weniger als Viola. Vielleicht liegt es auch daran, daß Viola mehr redete. Sie sprach und spricht über alles, was sie bewegt. Es ist, als denke sie laut nach. Dirk schweigt und handelt. Er zeigt keinerlei Gefühlsregungen. Er schlägt niemals über die Stränge. Sage du mir, was geht unserem Buben nah? Für was hat er sich interessiert? Er ist mir so fremd. Frauke, hilf mir!«
Frauke streichelte die Wange ihres Mannes.
»Ich verstehe dich! Aber ich vermute, daß Dirk selbst nicht weiß, was ihm Freude macht. Denke doch einmal nach. Dirk hatte gerade sein Abitur gemacht und wollte vor dem Studium ein Jahr ins Ausland. Dann geschah das mit Knut. Dirk sagte alles ab. Er ging sofort in die Firma und nahm Knuts Sessel ein. Nebenbei studierte er an der Fernuniversität Betriebswirtschaft und Wirtschaftsrecht. Da kann man nur den Hut vor ihm ziehen. Wir können stolz auf ihn sein.«
»Sicherlich, Frauke! Das können wir. Doch ich will nicht Kinder haben, auf die ich stolz sein kann. Meine Kinder sollen glückliche Menschen sein! Viola ist glücklich. Sie steht auch ihren ›Mann‹, – besser ›Frau‹ – in der Firma. Aber sie kann sich freuen. Sie lebt irgendwie. Bei Dirk fehlt die Lebensfreude.«
»Vielleicht hätte er im Leben gern etwas ganz anderes gemacht, Ingo!«
»Dieser Gedanke kam mir auch schon. Doch was? Warum tut er es nicht? Er muß diesen Weg nicht gehen. Ich sehe, daß er nicht glücklich ist. Warum? Warum? Warum? Ich will dieses Opfer nicht. Verstehst du mich, Frauke?«
Sie nickte.
»Frauke, was soll ich tun? Ich will das nicht weiter mit ansehen! Für mich war der Weg richtig! Aber mich beschleicht die Erkenntnis, daß Dirk gerne etwas anderes getan hätte. Erzähle mir von ihm. Was hat ihm als Kind Freude gemacht? Wofür hat er sich begeistert?«
Frauke stand auf. Sie ging ins Haus und kam einige Augenblicke später mit einigen dicken Fotoalben zurück. Sie legte sie Ingo auf den Schoß.
»Hier, schau!«
Ingo fuhr mit der Hand über den ledernen Einband. Er schlug das erste Fotoalbum auf. Er betrachtete Seite für Seite und Bild nach Bild. Er lächelte. Seine Frau war eine begeisterte Fotoamateurin. Sie hatte jedes Ereignis der drei Kinder festgehalten und sie in Alben geordnet.
»Das sind Dirks Alben! Für jedes unserer Kinder habe ich solche Bände zusammengestellt. Viola hat ihre mit in ihre Wohnung genommen, als sie mit ihrem Freund zusammengezogen ist. Sie wollte ihm von ihrer Kindheit erzählen und bat mich um Fotos. Du kannst dir nicht vorstellen, wie begeistert sie war, ihr Leben so dargestellt zu finden.«
»Ich bin auch begeistert! Und auch sprachlos! Da wird mir wieder klar, wie wenig ich von Dirk weiß. Schau hier!«
Ingo zeigte auf ein Foto. Darauf war Dirk zu sehen, wie er am Nordseestrand aus Sand Berge anhäufte.
Frauke lachte.
»Das ist typisch Dirk! Das war irgendwann in den Sommerferien. Ich war mit den Kindern alleine an der See. Alle bauten Sandburgen. Nur Dirk baute ein Gebirge mit Bergen und Tälern, mit kleinen Bergseen und Gebirgsbächen. In der Schule nahmen sie gerade die Alpen durch und Dirk baute sie nach. Schau hier in der Ecke! Der Zipfel gehört zu einer Landkarte. Die hatte er sich in einer Buchhandlung gekauft. Blättere mal um, Ingo!«
Er schlug die nächste Seite auf. Ingo lachte laut. Dirk hatte auf jeden Gipfel kleine Papierzettel gesteckt.
»Darauf hatte er die Namen der Berge geschrieben. Es machte ihm viel Freude. Er war den ganzen Tag beschäftigt.«
»Sicherlich hast du mir davon erzählt, Frauke. Allein – ich kann mich daran nicht mehr erinnern. Welche Schande!«
Er schaute seine Frau an.
»Ist nicht schlimm! Aber erinnerst du dich daran, daß Dirk nach dem Abitur sich ein Jahr freinehmen wollte. Er wollte nach Amerika, sich die Rocky Mountains ansehen und in Südamerika die Anden, dann standen die Berge von Neuseeland und Australien auf dem Programm. Er wollte eine Tour durch den Himalaja machen und den Fuji in Japan ansehen und raufwandern, so hoch wie es eben möglich ist.«
Ingo sah seine Frau überrascht an.
»Ich weiß, daß Dirk vorhatte, sich die Welt anzusehen, bevor er mit dem Studium beginnen wollte. Doch daß es sich dabei quasi um eine Weltgebirgstour handeln sollte, war mir entfallen.«
Ingo wurde verlegen.
»Nun ja. Ich wußte es nicht! Was ist daraus geworden? Warum macht er keinen Urlaub? Er könnte doch jetzt fahren! Warum macht er nicht wenigstens einen Kurzurlaub in den Alpen? Statt dessen sitzt er fast Tag und Nacht im Büro. Warum? Was ist aus seinen Träumen geworden? Muß man Träume nicht leben? Sollte man nicht alles versuchen, damit die Träume Wirklichkeit werden? Ich hatte auch Träume. Ich wollte erfolgreich sein, das Unternehmen meines Vaters und Großvaters erhalten, aufbauen und ausbauen. Ich habe meinen Traum verwirklicht. Ist das Unternehmen auch Dirks Traum?«
Ingo schaute seine Frau an.
»Schon als Kind spielte ich mit Motorteilen und interessierte mich für Technik. Es war eine Leidenschaft – so wie bei Dirk es die Berge sind – offensichtlich. Warum spricht er nicht darüber? Hat er es verdrängt?«
»Ich weiß es nicht, Liebster! Er hat schon lange nicht mehr von den Bergen geredet. Frage ihn! Vielleicht bekommst du eine Antwort.«
Die Sonne sank tiefer. Die Dämmerung senkte sich über Haus und Garten. Ingo und Frauke gingen hinein. Sie setzten sich an den Kamin und betrachteten weiter die Bilder in den Fotoalben. Es war schon fast Mitternacht, als sie die Treppe hinauf zum Schlafzimmer gingen. Von draußen drang das Motorengeräusch von Dirks Auto herein.
»Ich hätte Lust, sofort mit ihm zu reden, Frauke!«
»Laß es! Jetzt hat das auch noch Zeit bis zum Wochenende. Es ist spät. Du kannst mit Dirk am Sonntag beim Frühstück darüber reden. Das sonntägliche gemeinsame Frühstück versäumt er nie.«
»Das ist eine gute Idee! Dann sind Viola und ihr Verlobter auch hier. Weißt du, ich denke, daß sich Dirk die Zeit nehmen sollte für seinen Traum von den Bergen. Zumindest sollte er einmal einige Wochen Urlaub in den Alpen machen.«
»Das ist eine gute Idee! Fraglich, ob er es tut. Vielleicht weiß ich einen Trick, ihn dazu zu bringen.«
»Bist ganz schön raffiniert, Frauke. Weihst du mich ein?«
»Mal sehen. Vielleicht greift er deine Anregung auch so auf. Ich manipuliere nur ungern. Das ist nicht fair, denke ich.«
Ingo legte seinen Arm um Frauke.
»Du bist eine wunderbare Frau und eine sehr gute Mutter!«
Er küßte sie.
»Wir werden das schaffen! Dirk muß wieder der fröhliche Mensch werden, der er als Junge war. Er ist erst dreißig und kommt mir älter vor, als ich selbst bin. Er wirkt so versteinert und verknöchert.«
»Nun mache dir nicht so viele Gedanken, Ingo! Ich werde am Sonntag das Gespräch schon steuern. Dann kannst du den Faden aufgreifen.«
Frauke schmiegte sich an ihren Mann. Sie liebte ihn sehr. Er war ein wunderbarer Ehemann und Vater.
*
Nachdem Pfarrer Zandler Cäcilia verabschiedete hatte, ging er in sein Arbeitszimmer. Er schloß die Tür. Das war für seine Haushälterin das Zeichen, daß er alleine sein wollte. Pfarrer Zandler setzte sich in den großen Sessel, zündete sich eine Pfeife an und dachte nach. Er überlegte, wie er Cäcilia helfen konnte. Sicherlich würde er mit der Mutter Oberin reden. Doch er mußte sein Anliegen auch richtig darlegen. Es war eine richtige Mission, die er zu erfüllen hatte. So verging die nächste Stunde mit Nachdenken.
Dann griff Pfarrer Zandler zum Telefon und rief im Mutterhaus des Ordens an. Es dauerte eine Weile, dann meldete sich die Oberin. Pfarrer Zandler schilderte andeutungsweise sein Anliegen und bat um einen baldigen Termin.
»Vielleicht können Sie mir dann am Rande der Konferenz in drei Wochen schon etwas sagen«, gab der Pfarrer seiner Hoffnung Ausdruck.
Zu Pfarrer Zandlers Überraschung war die Oberin bereit, sich sofort mit ihm zu treffen. Sie überließ es ihm, ob er gleich kommen wollte. Das erstaunte den Geistlichen doch.
Die Mutter Oberin lachte am Telefon.
»Ja, wie heißt es so schön? In größter Not ist Gottes Hilfe am nächsten! Auch ich habe eine schwierige Aufgabe zu bewältigen. Ich mache mir so meine Gedanken. Vielleicht können wir beide uns gegenseitig helfen, Pfarrer Zandler. Schaffen Sie das noch heute?«
»Mei! Des ist zu machen! Es sind ja nur etwas über einhundert Kilometer. Dann fahre ich sofort los! Und ein herzliches Vergelt’s Gott!«
Das Gespräch war beendet. Pfarrer Zandler sprang auf und riß die Tür seines Arbeitszimmers auf.
»Träutlein!« rief er laut durch das Pfarrhaus.
Helene Träutlein kam aus der Küche angelaufen. Sie hatte an der Stimme des Pfarrers erkannt, daß etwas Wichtiges vorliegen mußte.
»Ja, hier bin ich! Was gibt es?«
»Ich muß ins Mutterhaus der Franziskanerinnen. Ich habe einen sofortigen Termin mit der Mutter Oberin. Es kann spät werden, bis ich zurückkomme.«
»Was wird aus dem Abendessen?«
»Mei, Helene! Ich muß fort! Wie kannst du da an das Abendessen denken?«
Helene Träutlein gab sich beleidigt.
»Weil des unverantwortlich ist, sich mit leerem Magen hinter des Steuer zu setzen… und weil ich einen schönen kalten Braten aufgeschnitten habe.«
»Gut, dann gebe ich noch ein Viertelstündchen dazu! Ich muß mich aber beeilen!«
Helene Träutlein und der Geistliche aßen in der Küche. Helene war neugierig. Zu gern hätte sie gewußt, was hinter dem plötzlichen Termin steckte. Aber Pfarrer Zandler gab sich verschlossen. Er aß schneller als sonst. Er trank auch kein Bier dazu, sondern nahm nur ein Glas Wasser. Dann brach er auf.
»Ja, was ist mit der Abendmesse?« fragte Helene.
»Mei, des hätte ich fast vergessen. Hänge bitte einen Zettel an die Kirchentür, daß die Messe heute abend und eventuell auch die Frühmesse ausfällt.«
Helene Träutlein blickte höchst erstaunt.
»Nun schau net so! Es kann spät werden oder ich muß sogar übernachten. Jedenfalls ist es wichtig. Des Gespräch mit der Oberin kann lange dauern. Und du weißt selbst, wie schnell es Nebel in den Bergen geben kann. Dann will ich in der Nacht net zurückfahren.«
Mit diesen Worten ließ Pfarrer Zandler Helene Träutlein stehen. Er eilte hinaus zum Auto und fuhr ab. Sie sah ihm kopfschüttelnd hinterher.
Nach über einer Stunde Fahrt erreichte er das große Kloster der Franziskanerinnen. Die Schwester an der Pforte war über seinen Besuch informiert und brachte ihn sofort zur Oberin.
Die beiden begrüßten sich herzlich.
»Ihr Anruf hat mich genau zur richtigen Zeit erreicht, Pfarrer Zandler. Und Ihr Anliegen und meine Sorgen die passen zusammen wie Schloß und Schlüssel.«
Die Oberin bot Pfarrer Zandler einen Stuhl an. Dann schob sie ihm eine Mappe über den Tisch.
»Das ist die Akte von Josefa Taubert. Schauen Sie selbst!«
Pfarrer Zandler schlug den Aktenordner auf. Auf der ersten Seite war ein Foto einer jungen Frau im Dirndl.
»Des ist ein fesches Madl! Meinen Sie, daß des Madl auf den Draxel Hof paßt?«
Die Oberin ließ einen kleinen Imbiß und Bier bringen, das die Schwestern selbst in kleiner Menge brauten. Dann erzählte sie. Josefa Taubert war fünfundzwanzig Jahre alt. Sie war schon als Säugling und Kleinkind oft im Heim gewesen, weil ihre Mutter immer wieder ins Krankenhaus mußte. Josefas Vater verließ seine schwangere Ehefrau, als er erfuhr, daß sie krank war und nie mehr endgültig gesund werden würde. So dachte er jedenfalls.
»Ich will es deutlich sagen! Der Schuft hat sich davongemacht, sich vor der Verantwortung gedrückt. Die Ehe wurde annulliert.«
Dann erfuhr Pfarrer Zandler, daß Josefa, die Josi gerufen wurde, von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben wurde. Schwester Oberin verteidigte die Frau und Mutter.
»Sie wollte das Beste für ihr Kind! Eine Familie und eine gesunde Mutter konnte sie ihr net bieten. Sie wünschte sich, daß die Josefa in einer Familie mit Geschwistern aufwächst.«
Doch in all den Jahren fand sich kein Elternpaar, daß die Josefa haben wollte. Die Oberin äußerte den Verdacht, daß es an Josefas leiblicher Mutter lag, die eben chronisch krank war. Jedes Elternpaar, das bereit war, auch ein älteres Kind zu nehmen, lehnte das Mädchen deshalb ab.
»Da waren eben die Ängste, daß die Josi die Erbkrankheit ihrer Mutter auch in sich tragen könnte. Für des Madl kam die moderne Genforschung ein bisserl zu spät. Wir haben, als es dann möglich war, auf Kosten des Ordens des Madl untersuchen lassen. Die Josefa ist kerngesund. Ihre Mutter hat die Krankheit nicht weitervererbt. Außerdem ist diese Krankheit heute heilbar. Das Ganze war damals dramatisiert worden.«
»Was wurde aus Josefas Mutter?«
Diese Frage konnte die Oberin dem Pfarrer nicht beantworten. Die Frau hatte das kleine Mädchen mit vier Jahren zur Adoption gegeben und damit war die Verbindung abgebrochen.
»Josefa hat auch niemals nach ihrer Mutter gefragt.«
Dann erfuhr Pfarrer Zandler, daß Josefa eine sehr gute Schülerin war. Sie hatte Krankenschwester gelernt und eine Spezialausbildung für die Pflege von Frühgeburten gemacht. Josefa arbeitete mehrere Jahre in einem großen Klinikum.
»Doch irgendwie findet sie draußen keinen Anschluß, sagt sie. Josefa hat eine kleine Wohnung in der Nähe der Klinik, in der sie arbeitet. Doch sie findet schwer Freunde und ist ziemlich alleine. Richtig einsam ist das Madl. Deshalb hat sie sich vor einigen Wochen an mich gewandt. Sie will Nonne werden. Wir haben uns lange unterhalten. Dabei wurde mir klar, daß es bei dem Madl weniger die Berufung ist als die Zuflucht, die Geborgenheit, die sie im Kloster sucht.«
Die Oberin seufzte.
»Das ist keine gute Voraussetzung für ein Leben im Dienst des Herrn«, bemerkte Pfarrer Zandler.
»Nein, das ist keine gute Voraussetzung! Wir haben einen Mangel an Novizinnen in der heutigen Zeit. Das gebe ich unumwunden zu. Doch ich bin nicht bereit, jede junge Frau zu nehmen. Ich will ganz offen reden. Die Josefa fühlt sich nicht so berufen, wie es sein soll. Das sagt sie selbst. Es ist eine Art Flucht – eine Zuflucht.«
Die Oberin griff nach dem Foto.
»Sie ist so ein hübsches Madl! Sie hat wunderschöne blaue Augen und schönes schwarzes Haar. Sie liebt Kinder über alles. Sie würde eine gute Mutter abgeben, denke ich mir. Aber leider, leider hat ihr der Himmel noch keinen Burschen über den Weg geschickt. So geht sie zur Arbeit und macht Überstunden. Den Rest der Zeit verbringt sie mit Handarbeiten in ihrer kleinen Wohnung. Sie strickt leidenschaftlich Pullover, Westen, Socken, Schals und Handschuhe für die Kinder im Waisenhaus. Sagen Sie selbst, Herr Pfarrer. Ist das nicht eine Verschwendung von Schönheit und Talenten? Da frage ich mich, was der Himmel sich dabei denkt. Auch wenn des eine Sünde ist, so etwas zu denken.«
Die Oberin seufzte. Sie erzählte von anderen Kindern, Madln und Burschen, die nach ihrer Ausbildung ins Leben gegangen waren und es meisterten.
»Wir sind sehr stolz auf sie! Doch die Josi ist so ein bisserl unser Sorgenkind. Ich denke mir, daß sie es nie schafft, im Kloster richtig die Erfüllung zu finden. Im Grunde sucht sie etwas anderes. Verstehen Sie?«
Pfarrer Zandler verstand. Er schätzte die Oberin als sehr gute Menschenkennerin ein. Noch selten hatte sie sich geirrt.
Er blätterte weiter in den Akten. Das Madl machte einen guten Eindruck auf ihn.
»Sie denken, daß die Josi des richtige Madl wäre für den Draxel Hof?«
»Ja! Einen Versuch ist es allemal wert. Ich bin mir sicher, daß sie die Möglichkeit wahrnimmt. Ich werde mit ihr reden. Und wenn die Bäuerin eine warmherzige und liebe Frau ist, dann findet die Josi dort vielleicht eine Heimat.«
»Die Draxelbäuerin ist eine ganz liebe und warmherzige Person. Außerdem sehen sich die beiden etwas ähnlich. Die Cäcilia hat auch blaue Augen und schwarzes Haar.«
Pfarrer Zandler bat die Oberin um das Foto. Sie lieh es ihm gerne aus.
»Wie wollen wir jetzt weiter vorgehen? Wie verbleiben wir?« fragte er.
Die Oberin überlegte einen Augenblick.
»Ich rede gleich morgen mit Josi! Sie ist zur Zeit hier. Sie macht Urlaub und bummelt ihre viele Überstunden ab. Des Madl hat gearbeitet bis zur Erschöpfung. Ich denke, es wollte die Leere in sich ausfüllen. Ich sagte ihr, daß sie in dem erschöpften Zustand keine Entscheidung treffen sollte. Sie macht also Urlaub hier, so wie viele von draußen die Ruhe und Stille im Kloster suchen. Wir bieten diese Einkehr- und Besinnungsurlaube an.«
»Aha! In der Zwischenzeit könnte ich mit Cäcilia Draxel reden, wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben, Frau Oberin.«
»Nein, das habe ich nicht. So könnte es laufen. Aber ich will Josefa nicht einfach zum Draxel Hof schicken. Ich will ihr einige Tage Bedenkzeit geben.«
»Des ist auch nur gut«, bemerkte Pfarrer Zandler. »Außerdem kann sich die Cäcilia dann auch auf den Zuwachs einstellen. Wir haben vereinbart, daß die Pläne, die sie mit einem Madl verbindet, erst einmal net erwähnt werden sollten. Sie will das Madl erst mal kennenlernen.«
Die Oberin stimmte zu. Sie schlug vor, daß Josi auf dem Draxel Hof ihren Resturlaub verbringen könnte. Dann würden sich die beiden Frauen näher kennen- und hoffentlich auch schätzenlernen.
»Dann hoffen wir, der Himmel gibt uns seinen Segen, Oberin!«
»Das wird er bestimmt! Hat er das nicht schon? Wie heißt es? Wenn irgendwo eine Tür zugeht, dann öffnet der Herrgott ein Fenster.«
»Ja, da ist etwas Wahres daran! Es fügt sich alles. Ich suchte nach einer Haustochter für die Cäcilia – und Sie machten sich Sorgen um Josefa. Das geht alles gut zusammen. Dann packen wir es an!«
Es war alles gesagt. Außer dem Foto gab die Oberin Pfarrer Zandler noch einen Briefumschlag mit. Darin hatte sie auf die Schnelle bis zum Eintreffen des Pfarrers für die Draxelbäuerin einiges notiert.
»Geben Sie der Bäuerin einfach meinen Brief!«
»Des mache ich doch gern!«
Pfarrer Zandler bedankte sich noch einmal. Er fuhr an diesem Abend noch zurück nach Waldkogel. Der Draxel Hof lag in völliger Dunkelheit, als der Geistliche auf der Straße davor hielt. Leise ging er zur Haustür und warf den Brief der Oberin durch den Briefschlitz, verbunden mit einigen Worten, die er auf die Rückseite des großen Kuverts geschrieben hatte. Dann fuhr er zum Pfarrhaus. Er parkte sein Auto und betrat zuerst die Kirche. Dort zündete er vor dem Marienaltar eine große Kerze an. Sie würde die ganze Nacht brennen und auch noch am Morgen, wenn die Draxelbäuerin den Brief finden würde.
Helene Träutlein war noch auf, als Pfarrer Zandler von der Kirche aus das Pfarrerhaus betrat.
»Sie sind doch noch gekommen. Ist alles in Ordnung? Alles geregelt?«
Pfarrer Zandler lachte.
»Bist ganz schön neugierig, Träutlein! Ja, wenn du es wissen willst. Es ist alles auf einem guten Weg! Und jetzt ›Gute Nacht‹!«
»Gute Nacht, Herr Pfarrer!«
Dann ging Pfarrer Zandler sofort auf sein Zimmer.
*
Es war Sonntag. Familie Hansen saß im großen Eßzimmer und nahm das Frühstück ein. Die Tür zum Garten war offen. Die Sonne schien herein und ein leichter Wind bewegte die Vorhänge. Der Tisch war schön gedeckt und alle waren guter Stimmung. Viola, die Jüngste der Hansens, redete und redete. Ihre Augen strahlten. Sie sah richtig glücklich aus. Dr. Ingo Hansen beobachtete seinen Sohn Dirk. Dieser hörte seiner Schwester zu und stelle einige Zwischenfragen. Viola überlegte, im Winter mit ihrem Verlobten eine längere Kreuzfahrt zu machen.
»Sag etwas dazu, Papa!«
»Das ist eine gute Idee, Viola! Mache das ruhig. Später, wenn ihr erst einmal verheiratet seid, wenn Kinder da sind, dann sind solche Pläne nicht mehr so leicht zu verwirklichen.«
Da kam ihm ein Gedanke und er fügte hinzu: »Allerdings muß ich dir sagen, daß du ein ganz klein wenig egoistisch bist, Viola. Das will ich dir aber nicht zum Vorwurf machen, denn mir wurde klar, daß ich es auch bin.«
»Klingt bei dir nach heftiger Selbstkritik, Papa! Du willst mich auf den Arm nehmen, wie?«
»Nein, liebste Viola. Es ist mir ernst. Ich denke dabei an deinen Bruder Dirk. Er ist jetzt schon so lange in der Firma. Er macht nie Urlaub. Wenn du Urlaub machst, übernimmt er deine Aufgaben, Viola. Wäre es nicht an der Zeit, daß er einmal in Urlaub fährt und du ihn vertrittst?«
»Klar! Richtig, Vater!«
Dirk Hansen räusperte sich.
»Fahre ruhig, Viola. Ich brauche keinen Urlaub. Ich vertrete dich gerne.«
»Danke, Bruderherz! Aber das lasse ich nicht gelten. Papa hat recht. Wir sind alle etwas egoistisch. Nun, egoistisch ist vielleicht zu hart gesagt. Ich will es ›gedankenlos‹ nennen.«
»Diese Diskussion bringt nichts. Ich plane keinen Urlaub. Du kannst deine Pläne verwirklichen, Viola. Da unterstütze ich dich gerne.«
Ein winziges warmherziges Lächeln huschte über Dirks Gesicht.
Viola schüttelte den Kopf. Sie war eine hochintelligente junge Frau, die sich nicht scheute, Dinge ohne Umschweife beim Namen zu nennen. Das tat sie bei geschäftlichen Verhandlungen und noch mehr im familiären Kreis. So sagte sie es Dirk auf den Kopf zu.
»Dirk! Du drückst dich! Du willst nicht in Urlaub, weil du vor irgend etwas Angst hast!«
Dirk errötete leicht. Er schaute seiner Schwester direkt in die Augen.
»Unsinn! Wovor soll ich Angst haben?«
»Vielleicht davor, daß ich an deinem Stuhl säge. Da kannst du unbesorgt sein. Das Unternehmen ist so groß und Vater braucht uns beide. Es muß etwas anderes sein. Du bist ein unverbesserliches Arbeitstier. Du vergräbst dich in deine Arbeit. Es gibt noch anderes, sehr viel Schönes im Leben.«
Viola zählte auf:
»Segeln, Golf, Tennis, Disko und dann auch noch die Liebe. Wie willst du eine Frau finden, Dirk, wenn
du nicht entspannt unter die Leute gehst? Es wird langsam Zeit für dich, daß du dich umsiehst. Dirk!«
»Willst du mich verkuppeln? Bitte beschränke dein Managementtalent auf den Betrieb. Laß mein Privatleben da raus!«
»Papperlapapp! Ich kann mich nicht raushalten, Dirk. Oder doch? Ja, wenn ich es recht bedenke, ist es leicht, sich da herauszuhalten. Du hast nämlich überhaupt kein Privatleben.«
»Mein Leben ist die Arbeit, meine Aufgabe! Ich bin zufrieden, so wie es ist. Beenden wir das Thema, Viola! Ich mische mich nicht in dein Leben ein und verlange, daß du mich mein Leben leben läßt.«
»Gern, Dirk! Nur noch ein Wort zum Schluß! Du lebst dein Leben nicht. Du lebst ein fremdes Leben. Du bist wie ein Schauspieler in eine fremde Rolle geschlüpft. Allerdings muß ich anerkennen, daß du darin eine nicht mehr zu steigernde Perfektion entwickelt hast. Das hat einen »Oskar« verdient. Du spielst nicht, du lebst diese Rolle, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche!«
Die Eltern warfen sich Blicke zu. Viola hatte den Part des Themas übernommen, den eigentlich ihr Vater anschneiden wollte. Sie beobachteten Dirk genau. Er bekam rote Wangen. Das war immer das einzige Zeichen gewesen, wenn er sich über etwas erregte.
»Jetzt gehst du zu weit, Viola! Woher willst du wissen, daß ich nicht mein Leben lebe? Wie kommst du darauf? Höre auf! Ich will nicht darüber reden. Wenn dich Menschen und ihr angebliches fremdes Leben interessieren, dann studierte Psychologie und mache eine Praxis auf«, sagte Dirk mit Härte in der Stimme
Seine Schwester lächelte ihn an. So schnell ließ sich Viola nicht einschüchtern.
»Das letzte will ich überhört haben. Den Mund verbieten kannst du mir auch nicht. Es ist an der Zeit, daß dich jemand erinnert. Das ist mir just im Augenblick klargeworden. Ich sage es noch einmal, du hast Angst, in Urlaub zu gehen. Du könntest dich ja wohlfühlen und vielleicht von einem anderen Leben träumen. Du hast deine Träume verdrängt. Entschuldige, ich vergaß sie auch. Wie war das damals nach dem Abitur? Wolltest du nicht eine Weltreise machen? Standen nicht alle Hochgebirge auf deinem Plan? Gütiger Himmel! Was hast du mich mit deiner Bergleidenschaft genervt! Meine Freundinnen wurden von ihren Brüdern mit Autogeschichten zugetextet. Wie beneidete ich sie darum! Die Brüder schraubten an Autos in der Garage. Dann konnten die Mädchen wenigstens damit fahren. Aber du redetest nur vom Fuji, den Gipfeln der Anden, der Rockies und des Himalaja. Was ist daraus geworden? Bitte mache wir nicht weiß, daß das alles nur Jugendträumereien waren.«
Dirk Hansen schoß das Blut in den Kopf. Seine Schwester konnte ihn schon verwunden. Er war verlegen.
»Ich habe der Bergleidenschaft nicht abgeschworen, wenn du das meinst. Aufgehoben ist nicht aufgeschoben. Ich bin noch jung, ich habe Zeit. Vorerst paßt so eine Reise nicht in meinen Lebensentwurf.«
»Richtig, großer Bruder! Weil du nicht dein Leben lebst. Ich habe Freude an dem, was ich tue. Ich bin da eher so wie Papa oder wie Knut war. Du bist anders. Bei dir ist alles Pflicht, alles Verantwortung. Ich will es dir so sagen: Beim Eiskunstlauf gibt es eine Pflichtübung und eine freie Kür. Du absolvierst keine Kür, sondern zwei Pflichtprogramme.«
Dirk errötete.
»Gut, Viola! Jetzt hast du gesagt, was du unbedingt sagen mußtest. Nun ist es genug. Laß uns den Sonntag genießen.«
Ingo legte seine Hand auf Dirks Hand.
»Junge! Deine kleine Schwester hat recht. Du denkst so wenig an dich! Gut, daß Viola davon gesprochen hat – mich erinnert hat«, gab Ingo vor. »Du hast damals deine Weltreise aufgegeben. Das war sicherlich sehr nobel von dir. Aber du solltest sie machen. Nimm dir frei, nimm ein Sabbatjahr, wie man sagt, und ziehe los. Laß deine Seele baumeln. Viola und ich, wir halten hier alles am Laufen. Du kannst unbesorgt fahren. Außerdem gibt es Handys und das Internet.«
»Danke, Vater! Das ist sehr großzügig, aber…«
Sein Vater fiel ihm ins Wort:
»Aber – nichts dergleichen! Du fährst! Oder trifft es zu, daß du vor etwas Angst hast? Junge! Dirk, mein guter Junge! Was ist es?«
Dirk wand sich. Er wollte nicht antworten. Es war ganz still im Zimmer. Alle schauten Dirk an. Dirks Mutter ergriff das Wort.
»Dirk! Wir sind hier eine Familie, dein Vater, ich und Viola. Ihr Verlobter gehört auch dazu. Wir hatten nie Geheimnisse voreinander. Das macht uns stark. Wir alle sehen doch, daß du vor etwas – nun, ich will es einmal ›ausweichen‹ nennen.«
»Da ist nichts, Mama!«
Dr. Ingo Hansen zuckte mit den Schultern. Er warf Blicke in die Runde.
Viola griff das Gespräch auf. Es war ihr messerscharfer analytischer Verstand, der ihr blitzschnell die Erkenntnis kommen ließ.
»Dirk, ich bleibe dabei! Du drückst dich! Und ich scheue mich auch nicht davor, dir zu sagen warum. Du hast Angst, daß du deinen Lebensträumen begegnest. Du fürchtest dich davor, daß du irgendwo einen Ort findest, an dem deine Seele sich wohlfühlt. Du hast Angst, daß du eine Aufgabe findest, die dein rastloses Herz zur Ruhe bringt. Ich bewundere dich für deine Disziplin und Selbstlosigkeit. Du bist ein großartiger Mensch. Doch ich nehme dein Opfer nicht an. So, wie ich unsere Eltern einschätze, wollen sie dein Opfer auch nicht. Vater lebt seinen Traum vom Unternehmer. Es war sein Traum. Dein Traum ist es nicht. Die Welt geht nicht unter, wenn du etwas anderes findest. Die Eltern haben uns erzogen, daß wir immer das tun, was uns glücklich macht. Ich bin glücklich – du nicht. Gehe hinaus in die Welt und schaue dich um. Wenn du nicht findest, was du suchst, dann kommst du wieder. Doch dann wirst du das Gefühl haben, nichts versäumt zu haben, nichts unversucht zu haben. Dirk, ich schätze dich sehr. Mich verbindet mit dir eine tiefe Geschwisterliebe, besonders seit wir nur noch zwei sind. Wenn du es dir zuliebe nicht tun kannst, dann tue es mir zuliebe. Nimm das Angebot von Papa an. Nimm dir eine Auszeit! Sofort, ohne nachzudenken! Gehe rauf in deine Zimmer und packe deinen Rucksack! Ziehe einfach los! Denke nicht nach! Springe ab! Tue es, Dirk! Bitte, tue es!«
Dieser so leidenschaftliche Aufruf stieß bei Dirk nicht auf taube Ohren. Er traf ihn mitten ins Herz. Mit einem Schlag waren alle Träume wieder da. Ja, Viola hatte so recht! Er hatte Angst vor sich selbst, Angst, er könnte seinen Träumen verfallen, etwas finden, was ihn restlos glücklich macht.
Es war ganz still im Eßzimmer. Dirk rührte in seinem Tee.
»Vielleicht ist es so, wie du sagst, Viola. Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht sollte ich wirklich einen Urlaub planen. Doch so spontan – nein, das will ich nicht. Es muß alles geplant sein. Die Berge sind kein Spaziergang.«
Frauke warf ihrem Mann einen Blick zu. Dann sagte sie:
»Dirk, erinnerst du dich an die junge hübsche Anlagenberaterin bei der Bank, diese Frau Zwirner?«
»Ja! Was ist mit ihr?«
»Sie hat in die Berge geheiratet. Sie wohnt jetzt auf einer Berghütte, die sie zusammen mit ihrem Mann betreibt. Sie ist sehr glücklich. Niemand aus ihrer Familie und ihrem Freundeskreis konnte sich damals vorstellen, daß sie dort oben in den Bergen das findet, was sie so glücklich macht. Doch sie ist es.«
»Woher weißt du das?«
»Ach, ich treffe öfters ihre Großmutter. Sie zeigte mir Fotos. Diese junge Frau hat wirklich eine Heimat gefunden. Sie ist in Waldkogel. Das soll ein sehr schöner Ort sein. Ihre Großmutter war zur Hochzeit dort.«
Frauke machte eine kleine Sprechpause und fuhr fort:
»Wie wäre es, wenn du zu Anfang erst einmal einige Tage in die Berge fährst? Sagen wir ein langes Wochenende oder eine Woche. Besuche doch diese Anna, so nennt sie sich jetzt und ihren Mann Toni. Dann hast du jemanden aus deiner Heimat zum Reden. Außerdem bist du wirklich nicht sehr trainiert für große Bergtouren. Du sitzt immer am Schreibtisch. Nimm den Kurzbesuch auf der Berghütte einfach als Trainingsmaßnahme für deine Weltbergtour – irgendwann. Das ist doch ein Angebot und ein guter Kompromiß, oder? Ich mache mir auch Sorgen um dich, Dirk. Mir zuliebe! Spanne aus!« Frauke schaute auf die Uhr. »Nimm den Zug bis München und dann einen Leihwagen. Wenn du gleich aufbrichst, dann bist du bis zum Abend in Waldkogel. Morgen früh wanderst du rauf auf die Berghütte.«
Frauke stand auf. Sie sah in die Runde. Alle nickten ihr zu.
»Das ist eine wunderbare Idee, Frauke«, sagte ihr Mann zu.
»Komm, Dirk, ich helfe dir packen! Viola schaut im Internet nach einer Zugverbindung!«
Violas Verlobter meldete sich zu Wort: »Ich fliege dich auch gerne mit meinem Flugzeug nach München. Dann schaffst du es noch heute auf die Berghütte! Wie ist es?«
Dirk zögerte. Sein Vater schmunzelte.
»Dann geht es wohl nicht anders. Du zwingst mich, den Patriarchen auszugraben.«
Alle lachten.
»Also, mein Junge! Du gehst mindestens eine Woche in die Berge! Deine Mutter hilft dir packen! Das Angebot, dich nach München zu fliegen, nimmst du auch an! Fertig! Das ist mein Wort als Familienoberhaupt.«
»Vater?«
»Nichts da! Ich lasse mit mir nicht handeln!«
Dirk trank seinen Tee aus. Er stand auf. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Seine Augen strahlten wie schon lange nicht mehr.
»Dann muß ich mich dir und der Familie wohl fügen, wie?«
»Das mußt du!« lachte sein Vater.
Ingo stand auf und legte seinen Arm um die Schultern seines Sohnes.
»Bist ein guter Sohn! Doch jetzt denke an dich, was auch kommt. Ich wünsche dir alles, alles Gute! Und wenn du länger bleiben willst, dann mache dir keine Gedanken. Versprichst du mir das? Schau mal, Junge. Da gibt es etwas, was ich dir noch nie gesagt habe. Du mußt nicht mein Nachfolger werden. Viola ist auch da! Und wenn sie und ihr Zukünftiger nicht wollen, dann verkaufe ich das Unternehmen. Mein Herz hing daran. Es muß nicht automatisch so sein, daß es auch eure Lebensplanung ist.«
»Du würdest wirklich verkaufen, Vater?« staunte Dirk.
»Ja!«
»Da habe ich auch noch etwas mitzureden. Vielleicht findet sich aus der nächsten Generation jemand, der Interesse hat, Papa! Wir wollen im nächsten Frühling heiraten und Kinder haben. Also, du mußt schon noch etwas durchhalten«, warf Viola ein.
Dirk lächelte.
»Es soll vorkommen, daß in einer Unternehmensnachfolge eine Generation übersprungen wird. Aber darüber sollten wir reden, Papa!«
»Das werden wir! Nach deinem Besuch in Waldkogel. Ich denke, du solltest jetzt packen. Frauke kommt gleich nach. Ich denke, sie sollte sich bei der alten Frau Zwirner nach der Telefonnummer dieser Berghütte erkundigen und dich dort ankündigen.«
Dirk nickte. Er rannte fast in sein Zimmer. Etwas in seinem Innern beflügelte ihn. Es war die Vorfreude auf die Berge.
Dann ging alles ganz schnell. Nach einer Stunde saß er mit Viola und ihrem Bräutigam im Flugzeug auf dem Weg in den Süden. Als sie Stunden später in München landeten, schloß Dirk seine Schwester in die Arme.
»Viola, ich danke dir! Danke, daß du mich gezwungen hast, meine Träume auszugraben und einen Anfang zu machen. Ich stimme dir zu. Ich habe Angst, daß ich etwas finden könnte, das mich wirklich glücklich macht.«
»Dann mußt du diesem Ruf, dieser Stimme in deinem Herzen folgen, Dirk. Das mußt du mir versprechen, ja?«
Statt einer Antwort drückte Dirk seine Schwester fest an sich. Dann stieg er in den Leihwagen und fuhr davon in Richtung Berge, in Richtung Waldkogel. Viola winkte ihm nach. Im Herzen schickte sie ihm viele gute Wünsche hinterher.
*
Trotz des Sonntagsverkehrs an diesem frühen Abend kam Dirk gut voran. Das lag vielleicht auch daran, daß er in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Die Wochenendausflügler fuhren aus den Bergen zurück und Dirk steuerte gegen Waldkogel und die Berge. Er fuhr langsam und genoß den lauen Fahrtwind des offenen Sportwagens. Er atmete tief ein. Es duftete nach Tannen und Wiesen. Immer wieder schweifte sein Blick hinauf zu den Bergen.
Da geschah es. Erst im letzten Augenblick sah er die junge Frau, die mit einem Rucksack die Straße entlangging. Dirk trat auf die Bremse. Gleichzeitig zog er den Wagen nach links. Zum Glück kam ihm in diesem Augenblick kein Fahrzeug entgegen. Er landete im Graben auf der anderen Straßenseite.
Dirk blieb hinter dem Steuer sitzen. Er war unfähig, sich zu bewegen. Er fühlte sich wie gelähmt. Es war nicht auszudenken, wenn er genau wie sein älterer Bruder in einen Autounfall verwickelt würde – ihm am Ende vielleicht noch etwas zustoßen würde. Dirk klopfte das Herz bis zum Hals. Er legte die Arme über das Lenkrad und den Kopf darauf. Es drehte sich alles.
»Geht es Ihnen nicht gut? Sind Sie verletzt? Hallo! Antworten Sie!«
Dirk fühlte, wie ihn eine zarte Hand scheu an der Schulter berührte. Ihre Stimme klang lieblich. Dirk sortierte noch einen Augenblick die Gedanken. Was nehme ich mich so wichtig? Fast hätte ich die junge Frau überfahren!
Er hob den Kopf und schaute sie an. Er blickte in zwei große wunderschöne leuchtendblaue Augen, die von langen schwarzen Wimpern umrahmt waren. Welch ein Anblick, dachte er. Er schaute sie nur an.
»Hallo! Können Sie mich hören?« rief die junge Frau laut.
»Ja! Ich höre und verstehe Sie!«
Sie lachte ihn an. Dann fühlte sie seinen Puls.
»Tut Ihnen etwas weh?«
»Nein! Ich hätte Sie fast überfahren! Dann verlor ich die Kontrolle über das Auto. Es ist nicht mein Wagen. Es ist ein Leihwagen, der reagiert anders auf solch heftige Lenkmanöver.«
Die junge Frau faßte sich an die Brust. Sie lächelte ihn an.
»Dem Himmel sei Dank, daß Ihnen nichts geschehen ist. Das hätte ich mir nie verziehen. Es ist alles meine Schuld. Ich war zu weit auf der Straße.«
»Und Sie liefen auf der falschen Straßenseite, oder? Wollten Sie nach Waldkogel? Dann waren Sie falsch. Wenn Sie allerdings zurück nach Kirchwalden wollten, dann war es die richtige Straßenseite.«
»Ich will nach Waldkogel! Ich habe den Bus versäumt, weil mein Zug Verspätung hatte. Da dachte ich mir, ich laufe los. Vielleicht nimmt mich unterwegs ein Bauer mit dem Traktor mit. Ich dachte, es kommt auch ein Traktor. Das war ein Irrtum. Es war wohl Ihr Sportwagen, dessen Motor so unerwartet dröhnte. Bitte entschuldigen Sie mein Verhalten.«
»Nur, wenn ich Sie mit nach Waldkogel nehmen darf.« Dirk lachte und stieg aus dem Auto. »Falls ich mit eigener Kraft aus dem Graben komme.«
»Einen Versuch ist es wert, wenn nicht, dann muß doch ein Trecker her, denke ich!« kommentierte die junge Frau.
Dirk stieg ins Auto. Er versuchte vergeblich, das Auto rückwärts aus dem Graben zu fahren. Es gelang ihm nicht. So gab er Gas und fuhr auf den Acker. Die ersten Meter gingen gut. Dann fraßen sich die Räder in der Erde fest.
»Warten Sie! Es ist nicht mehr weit bis Waldkogel. Ich laufe die Straße weiter – diesmal auf der richtigen Seite – und organisiere Hilfe.«
Dirk nickte.
Er schaute ihr nach. Es wäre ein leichtes für ihn gewesen, über sein Handy eine Autowerkstatt anzurufen. Aber Dirk sah davon ab. Das wäre zu einfach gewesen und dann hätte er das zauberhafte Wesen mit den großen blauen Augen wohl nicht mehr wiedergesehen. So blieb Dirk im Auto sitzen und wartete.
Es verging eine halbe Stunde. Dann kam ein Bauer mit einem Traktor und einem Abschleppseil und zog Dirks sportlichen Leihwagen aus dem Acker. Dirk entlohnte den Bauern.
»Da wäre noch ein besonderes Trinkgeld drin, wenn ich erfahren kann, wo ich die junge Frau mit den blauen Augen finden kann.«
»Mei, die findest du die nächste Zeit auf dem Draxel Hof. Sie ist so etwas wie eine Gesellschafterin oder auch Haustochter. So irgendwie dazwischen, hat uns die Bäuerin erklärt. Die muß anscheinend große Stücke auf des Madl halten. Sie hat uns allen einen langen Vortrag gehalten – schon gestern. Ja, ja, gestern hat sie von der Josefa erzählt.«
»Josefa!« wiederholte Dirk wie in Trance.
Der Mann grinste.
»Dir gefällt des Madl auch, wie! Der Blick von ihr geht einem durch und durch. Des war bei uns eine Aufregung, als sie angekommen ist! Schade, daß ich dich aus dem Dreck ziehen mußte. Jetzt habe ich des auf dem Hof versäumt«, duzte er Dirk sofort.
»Dann bist du vom Draxel Hof?«
»Ja! Ich bin«, lachte er, »modern gesagt: der Vorarbeiter. Traditionell heißt des Großknecht. Ich werde Seppel gerufen.«
»Danke, Seppel! Ich bin der Dirk. Ich wünsche dir einen schönen Abend und danke für die Auskunft.«
Dirk zögerte einen Augenblick.
»Bestelle Josefa Grüße und ein herzliches Dankeschön. Sage ihr, ich würde mich die Tage noch persönlich bei ihr bedanken. Jetzt muß ich los. Will noch zur Oberländer Alm. Von dort aus soll es zur Berghütte gehen.«
»Des ist richtig. Aber mit dem Auto kommst net auf die Berghütte. Da führt keine Straße hinauf. Da mußt du schon wandern. Und bei der Almwiese, dort wo die Touristen parken, da mußt du aufpassen, sonst hängst du mit deinem Sportflitzer wieder fest.«
»Danke, Seppel!« rief ihm Dirk zu und fuhr weiter.
Es war wirklich nicht weit bis Waldkogel. Dirk schaute auf dem Zettel nach, auf dem seine Mutter, nach dem Telefonat mit Annas Großmutter, die Wegbeschreibung notiert hatte. Er fand den Milchpfad und erreichte bald die Oberländer Alm.
Wenzel und seine Frau Hildegard, Hilda genannt, saßen vor der Almhütte in der Abendsonne.
Dirk nickte ihnen zu und wollte gleich den Weg zur Berghütte einschlagen.
»Grüß Gott! Willst heute abend noch rauf auf die Berghütte? Da mußt du dich beeilen, daß du noch vor der Dunkelheit raufkommst. Des ist gefährlich, wenn es dunkel wird.«
»Ich werde mich schon nicht verlaufen. Wie lange ist die Strecke?«
»Nun, wenn du net trödelst, dann schaffst du des in einer Stunde. Die Kinder sind schneller. Aber die machen die Strecke am Tag auch mindestens zweimal, morgens runter zu uns und mittag nach der Schule wieder hinauf.«
»Danke für die Auskunft. Noch einen angenehmen Abend!« rief ihnen Dirk zu.
Wenzel zog an seiner Pfeife und wartete, bis er sicher war, daß ihn der junge Wanderer nicht mehr hören konnte. Dann sagte er zu seiner Hilda:
»Des war ein ganz vornehmer Bursche. Er wünscht einen angenehmen Abend. So ein dalkerts Gered’! Als hätt’ irgend jemand in den Bergen einen angenehmen Abend. Schmarrn! Wir haben einen schönen Abend, einen geruhsamen Feierabend, wenn es möglich ist. Mei, wir sind doch hier in den Bergen und net in der Stadt.«
»Wenzel, nun reg’ dich net auf! Der Bursch wollte nur höflich sein!« sagte Hilda und stopfte weiter die Löcher in Wenzels Socken.
Dirk kam gut voran. Er spürte zwar, daß er die letzten Jahre hinter dem Schreibtisch verbracht hatte. Doch sein Ehrgeiz trieb ihn an, auch auf die Gefahr, daß er sich einen Muskelkater holen würde. Er setzte Fuß vor Fuß, um noch vor Einbruch der Dunkelheit die Berghütte zu erreichen. Die Sonne war nur noch zur Hälfte über den Bergen zu sehen. Sie leuchtete rotgolden im Westen und strahlte die Berge mit ihren nackten Felswänden und den schneegedeckten Gletschern an, daß sie in zartem Rosa bis tiefem Dunkelrot leuchteten.
Atemlos erreichte Dirk die Berghütte.
Viele der Hüttengäste saßen auf der Terrasse und schauten der untergehenden Sonne nach.
»Guten Tag, ich bin Dirk Hansen!« ging Dirk auf den großen sympathischen Mann zu, der hinter dem Tresen in der Berghütte Bier zapfte.
»Mei, so, du bist also der Dirk! Da wird sich meine Anna freuen, Besuch aus ihrer Heimat zu haben. Ich bin der Antonius Baumberger, der Hüttenwirt. Gerufen werde ich Toni. Dann ein ›Herzliches Willkommen‹ und ein fröhliches ›Grüß Gott‹, Dirk! Die Anna bringt die Kinder ins Bett. Sie wird gleich kommen.«
Toni rief Alois herbei und stellte ihn vor.
»Alois, bist du so lieb und zeigst dem Dirk seine Kammer. Ich zapfe ihm inzwischen ein Bier und mache ihm eine Brotzeit. Er schaut aus, als könnte er eine Stärkung vertragen.«
»Das kann ich wirklich! Bin in Sachen Bergwandern aus der Übung und habe auch seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.«
»Mei, Bub! Des war aber leichtsinnig, so in die Berge zu gehen«, tadelt ihn der alte Alois sofort. »Man muß immer eine Brotzeit dabei haben und auch eine Flasche mit einem Getränk.«
Alois ging voraus und zeigte Dirk die Kammer. Sie war schlicht und einfach, ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch vor dem Fenster, ein Hocker neben dem Bett und einige Haken an der Wand für die Kleider. Auf dem Tisch stand eine Waschschüssel und ein Krug mit kaltem Wasser.
Dirk bedankte sich bei dem alten Alois. Dann schloß er die Tür. Er warf seinen Rucksack ab, zog sich aus und wusch sich mit dem kalten Wasser. Danach legte er frische Kleider an. Er fühlte sich jetzt schon besser.
Als er hinaus in die Wirtsstube trat, sah er Anna, die für ihn den Tisch deckte.
»Frau Zwirner – entschuldigen Sie – Sie sind ja jetzt Frau Baumberger!«
»Ja, das bin ich! Das bin ich von Herzen gern. Aber hier in den Bergen sind wir doch alle Bergkameraden. Also ich bin die Anna! Zwar kennen wir uns aus einer anderen Welt, so kommt es mir oft vor, wenn ich an mein früheres Leben denke. Aber wir wollen es so halten mit Anna und Du, einverstanden?«
»Gern! Dirk!« Er reichte Anna die Hand.
Anna lachte.
»Wie ist das Wetter an der Waterkant?«
»Schön war es heute! Aber anders als hier!«
Anna stimmte ihm zu.
»Freut mich, daß du da bist. Deine Mutter hat schon zweimal angerufen.«
Dirk lachte.
»Das sieht Mama ähnlich! Nicht, daß sie in Sorge wäre über ihren großen Jungen. Es ist vielmehr, daß sie sicher sein will, daß ich wirklich bei euch auf der Berghütte bin. Du mußt nämlich wissen, daß der Familienrat mich mindestens eine Woche in Zwangsurlaub geschickt hat.«
Anna lachte.
Dann erzählte sie, daß ihre Freundin Sue sie damals auch gegen ihren Willen einfach bei Tonis Eltern in Waldkogel vor deren Wirtshaus und der Pension abgeladen hatte. Dirk hörte amüsiert zu.
»Wie sich Lebensläufe ähneln können!«
Toni trat hinzu.
»So ist des net ganz, Dirk! Die Anna war in mich verliebt, auch wenn sie des damals noch net so richtig wahrhaben wollte. Aber ich wußte gleich, daß sie des Madl ist, des ich will. Bei dir ist es etwas anders. Du bist auf Familienrat hier.«
Dirk biß in ein Stück Käse. Er kaute und schmunzelte.
»Und doch gibt es eine Ähnlichkeit zwischen dir und mir, Toni! Dir ist auf dem Weg nach Waldkogel im Zug deine Zukünftige begegnet. Mir ist sie auf der Landstraße begegnet, kurz vor Waldkogel. Ich bin so erschrocken, daß ich das Auto in den Acker gefahren habe und von jemanden mit dem Traktor herausgezogen werden mußte. Deshalb bin ich auch später hier als vorgesehen.«
»Wer ist des Madl? Hast mit ihr geredet?«
Dirk kam ins Schwärmen. Trotz des Hochbetriebs in der Berghütte setzten sich Toni und Anna einen Augenblick zu Dirk an den Tisch. Mit glänzenden Augen beschrieb Dirk Hansen die junge Frau mit den wunderschönen blauen Augen.
»Die muß wirklich neu sein auf dem Draxel Hof!« sagte Toni. »Wenn du des Madl erobern willst, dann bist du hier oben völlig falsch am Platz, Dirk. Da mußt dich unten im Dorf einquartieren.«
»Daran habe ich auch schon gedacht.«
Dirk überlegte und schmunzelte. Er war der Stratege im Unternehmen der Familie Hansen. So legte er sich sofort einen Plan zurecht.
»Am besten wäre es, ich bekäme ein Quartier auf dem Draxel Hof. Vermieten die Zimmer?«
Toni schüttelte den Kopf.
»Naa, net daß ich wüßte. Aber ich werde nachdenken, was ich für dich tun kann. Des mache ich aber nur, wenn es dir ernst ist mit dem Madl!«
Dirk lachte Toni an.
»Wie war es mit dir? War es dir nicht sofort ernst, als du die Anna im Zug gesehen hattest? Muß ich dir mehr sagen, Toni?«
Toni grinste und rieb sich das Kinn.
»Naa, mußt net mehr sagen! Reden wir später oder morgen darüber. Jetzt muß ich mich wieder um die Hüttengäste kümmern. Die sind alle durstig, und die Anna muß zurück in die Küche.«
Dirk verstand. Er wollte auch alleine sein. Er aß zu Ende. Dann nahm er sein Bierglas und ging hinaus auf die Terrasse der Berghütte. Er setzte sich und schaute in den nächtlichen Sternenhimmel über den Bergen, dem Tal und Waldkogel. Dabei dachte er an die junge Frau, die ihm unverhofft über den Weg gelaufen war. Welch ein Zufall! Oder was es Fügung? Dirk machte sich Gedanken über sie. Sie hat bestimmt einen Freund. Jemand, der so schön ist wie sie, der muß doch in festen Händen sein, oder? Dirk bemühte sich, seine Hoffnungen und Erwartungen in Grenzen zu halten. Allein, es gelang ihm nur unvollkommen. Dieser Blick in ihre Augen war bei ihm bis ins Herz gedrungen. Niemals in seinem Leben würde er diesen Blick vergessen.
Wie gern wäre er jetzt bei ihr! Doch damit muß ich mich noch gedulden, sagte sich Dirk. Es muß mir ein Trost sein, daß sie hier in Waldkogel ist. Vielleicht schaut sie in diesem Augenblick von ihrem Fenster aus hinauf zu den Sternen und denkt auch an mich.
»Gute Nacht, Josefa! Schlafe gut und träume schön!« flüsterte Dirk ganz leise vor sich hin mit dem Blick zu den Sternen.
Dann stand er auf und streckte sich. Toni kam aus der Berghütte und brachte ihm ein Bier.
»Willst nicht mit mir reinkommen?«
»Nein, vielleicht später! Ich bin etwas…« Dirk lachte leise. »Ich bin etwas aufgewühlt. Normalerweise habe ich meine Gefühle sehr unter Kontrolle. Aber jetzt fahren sie mit mir Achterbahn. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
Toni legte Dirk die Hand auf die Schulter.
»Es ist eben viel zusammengekommen. Da sind die Berge und jetzt der Sternenhimmel. Ihn kann man in keiner Stadt so sehen. Dann die gute klare Bergluft und die Höhe. Zum Schluß noch das überraschende Zusammentreffen mit einem Madl, das dein Herz berührte. Das alles zusammen, das bringt sogar den stärksten Burschen an den Rand dessen, was er ertragen kann. Aber net nur Burschen haben damit zu kämpfen. Du solltest morgen einmal ausführlich mit der Anna reden. Mei, das war schon ein Gefühls-abenteuer für sie, damals, als sie nach Waldkogel kam. Sie war verliebt, wollte es nicht zugeben. Weigerte sich nur einen einzigen Fuß auf die Berge, in die Berge zu setzen. Bis sie von Bello erfuhr.«
»Wer ist Bello?«
»Ach, stimmt! Den kennst du nicht! Das ist unser junger Neufundländerrüde. Der liegt im Flur zwischen den Kinderzimmern und paßt auf. Später, so gegen Mitternacht, da schleicht er sich in die Wirtsstube der Berghütte. Eigentlich habe ich es Bello zu verdanken, daß Anna dann doch mit auf die Berghütte kam.«
»Schön für dich und für Anna! Wer weiß, wie es sonst mit euch geworden wäre?«
»Des hätte wahrscheinlich etwas länger gedauert ohne die unverhoffte Hilfe von Bello. Aber wenn zwei Menschen füreinander bestimmt sind, dann kommen sie auch zusammen. Daran glaube ich fest. Das mußt du auch tun.«
»Ich will mich auf jeden Fall um Josefa bemühen. Leider habe ich keinen Bello.«
»Jetzt mache dir mal net so viele Gedanken. Bleibst jetzt ein bisserl bei uns und genießt die Berge. Ich werde versuchen, über meine Mutter etwas über die Josefa herauszubekommen. Meine Mutter und die Draxelbäuerin, die kennen sich gut. Außerdem feiert die Bäuerin bald bei uns im Wirtshaus ihren fünfzigsten Geburtstag. Da gibt es für meine Mutter noch einiges zu bereden. Bei dieser Gelegenheit wird sie schon etwas über dein Madl erfahren.«
Dirk seufzte.
»Dein Madl! Das klingt zu schön, um wahr zu sein.«
»Mußt daran glauben! Dann wird des schon. Bei mir und der Anna war des auch so. Jetzt bleibst du sitzen und träumst noch ein bisserl und trinkst dein Bier. Morgen früh bringe ich die Kinder in die Schule. Anschließend besuche ich gleich meine Mutter und rede mit ihr. Dann dauert es nimmer lang, dann tust du alles wissen, was du wissen willst.«
»Meinst, die Josefa hat einen Freund?« fragte Dirk unsicher.
»Naa! Da hätte sie dich net so angesehen! Des würdest du in deinem Herzen spüren, Dirk. Höre auf zu denken! In den Bergen tut man fühlen. Bleibe hier sitzen und lausche dem Klang der Berge.«
»Dem Klang der Berge? Was meinst du damit, Toni?«
»Die Berge, die geben dir Ruhe in dein Herz und tiefen inneren Frieden und Gelassenheit. Du mußt nur lauschen, tief in dein Herz hineinhören, dann hörst du die Berge.«
Dirk überlegte eine Weile.
»Ja, ich erinnere mich, wie es früher war. In den Schulferien vor dem Abitur war ich in den Bergen. Damals habe ich ganz alleine weite Hochgebirgswanderungen gemacht. Ich bin von Schutzhütte zu Schutzhütte gewandert. Oft saß ich bis tief in die Nacht alleine unter dem Sternenhimmel. Ich war jung und suchte meinen Weg. In den Bergen, im stillen Gespräch mit der Natur fand ich die Lösung. Doch dann kam alles anders. Ich warf meine Pläne über den Haufen und machte eine Kehrtwendung.«
»Klingt, als würdest du es bedauern?«
»Bedauern? Nein! Es war so, wie es war. Ich wollte es auch. Aber es gelang mir nur, weil ich all meine Träume verdrängte.«
»Des ist schon mal gut, daß du des erkannt hast. Jetzt mußt du nur wieder eine Richtungsänderung vornehmen, dann wird’s schon werden. Wenn du des alleine net schaffen tust, dann kann dir die Josefa vielleicht dabei helfen.«
Toni ging wieder hinein in die Berghütte und ließ Dirk Hansen alleine.
*
Josefa war nach dem Zusammentreffen mit Dirk die Straße nach Waldkogel weitergegangen. Mit klopfendem Herzen stand sie dann auf dem großen Hof des schönen Draxel Anwesens. Sie blickte sich um und prägte sich alles ein.
»Das ist also der Draxel Hof«, flüsterte sie leise vor sich hin.
Er wirkte friedlich auf Josefa. Er sah aus, als könnte hier nur das Glück wohnen. Dabei hatte ihr die Oberin von dem schweren Schicksal des Bauern und besonders der Bäuerin erzählt, die jetzt in Folge ihrer Kinderlosigkeit, nach dem Tode ihres Mannes, sehr einsam war. Josefa wußte aus eigener Erfahrung, was Einsamkeit bedeutete. So war sie der Bitte der Oberin gerne nachgekommen, eine Weile auf dem Draxel Hof zu leben.
Die Haustür ging auf. Eine Frau trat heraus. Was Josefa zuerst auffiel, war ihr dichtes schwarzes Haar, das sie wie ein junges Mädchen auf der einen Seite zu einem Zopf geflochten trug, genau wie sie selbst.
»Grüß Gott! Du mußt die Josefa sein. Soll ich Josefa sagen oder Josi? Ich bin die Cäcilia und gerufen werde ich Zilli! Sei mir recht herzlich willkommen!«
»Grüß Gott! Josi – nicht Josefa!«
Die Bäuerin lachte die junge Frau an.
»Ich denke, wir passen gut zusammen. Du trägst dein Haar genauso wie ich. So etwas nennt man in der heutigen Zeit doch Partnerlook, denke ich. Es ist eigentlich etwas für junge Madln. Aber meinem verstorbenen Mann hat des immer gefallen. Da habe ich die Frisur beibehalten. Ich denke mir, wenn er von dort oben aus dem Himmel auf die Erde schaut und mich so sieht, dann wird er seine Freude dran haben. Jetzt sieht er zwei mit schwarzen seitlichen Zöpfen. Mei, des wird ihn freuen!«
Josefa war verlegen. Die Bäuerin bat sie in die Küche.
»So setze dich! Ich habe schon früher mit dir gerechnet. Deshalb habe ich den Kaffeetisch gedeckt. Magst ein Stück Kuchen?«
»Oh, Gott! Den hätte ich fast vergessen!«
Josefa schlug die Hände vor das Gesicht.
Dann sprudelte es aus ihr heraus, daß der Zug mit Verspätung in Kirchwalden angekommen war, daß sie den Bus verpaßt hatte, daß sie die Landstraße entlanggegangen war und auf einen jungen Mann im Sportwagen getroffen war, der dann im Graben landete. Dort auf dem Acker wartete er darauf, abgeschleppt zu werden.
»Ich muß noch jemanden finden, der ihn da rauszieht!«
»Keine Sorge! Des haben wir gleich!«
Zilli ging hinaus. Noch bevor sie zurückkam, hörte Josefa, wie ein Traktor vom Hof rollte.
»So, der Seppel macht des!« sagte Zilli, als sie wiederkam.
Ihr entging nicht, daß Josefa verlegen errötete.
»War des ein fescher Bursch’?«
Jetzt wurde Josefa tief dunkelrot.
»Sehr fesch!«
»Na, wenn er in Waldkogel ist, dann siehst du ihn bestimmt wieder. Willst jetzt ein Stück Kuchen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte die Bäuerin der jungen Frau ein Stück Kuchen auf den Teller und schenkte ihr Kaffee ein. Zilli trank auch Kaffee und aß Kuchen. Die beiden Frauen musterten sich.
»Ich freue mich wirklich, daß du hier bist. Ich werde dir anschließend dein Zimmer zeigen. Dann kannst du dich ein bisserl frisch machen. Ich will dich net ganz verplanen an deinem ersten Abend. Aber ich schlage vor, wir machen einen Spaziergang durch das Dorf. Du bist doch noch nie in Waldkogel gewesen, oder?«
Josefa schüttelte den Kopf.
»Scheint ein schönes Dorf zu sein, auf den ersten Blick!«
»Des ist es. Des ist es mit Gewißheit. Und die Leut’, die haben alle das Herz auf dem rechten Fleck. Des wirst du aber auch selbst herausfinden.«
Die Bäuerin beobachtete Josi genau. Während die junge Frau aß, betrachtete sie die Kücheneinrichtung der großen Wohnküche.
»Die Kücheneinrichtung ist wunderschön. So etwas Schönes habe ich bisher noch nie in Wirklichkeit gesehen, höchstens einmal im Film. Das Holz glänzt wunderschön.«
»Du mußt einmal mit der Hand darüberfahren. Es fühlt sich wunderbar an. Die Urgroßmutter meines Mannes hat sie vom Tischler anfertigen lassen. Die Möbel reibe ich zweimal im Jahr mit Bienenwachs ein. Das gibt den schönen Glanz. Im Laufe der mehr als hundert Jahre ist die Oberfläche so mit Wachs getränkt, daß Feuchtigkeit abperlt wie auf einer Glasplatte. Du kannst die Möbel ruhig anfassen.«
Zilli mußte Josi dann doch noch etwas ermutigen, bis sie aufstand. Ganz zart befühlte sie die bemalten Türen. Zilli trat neben Josi und öffnete die Schränke.
»Da ist ja ein Kühlschrank drin und sogar ein Tiefkühlschrank!« staunte die junge Frau.
Zilli lachte.
»Ja, das stimmt. Mein Mann hat die Geräte einbauen lassen.«
»Die Küche ist wirklich wunderschön und kein modernes Gerät stört die Ausstrahlung der alten Möbel. Aber es gibt sie. Sie sind nur versteckt.«
Sie setzten sich wieder.
»Josi! Was hat dir die Oberin über deinen Aufenthalt hier gesagt?«
»Sie bat mich, meine Zeit hier zu verbringen. Damit würde ich ihr einen großen Gefallen tun.« Josi bekam rote Wangen. »Aber ich glaube, da steckt noch etwas ganz anderes dahinter.«
»So? Was vermutest du?«
»Nun, ich hatte nie eine eigene Familie. Ich weiß nicht, wie man in einem großen Haus oder auf einem Hof lebt. Ich weiß wenig vom Leben. Wahrscheinlich soll ich hier Erfahrungen sammeln.«
Josi schaute auf ihren Teller.
»Ich würde gern in das Kloster eintreten. Aber die Oberin sagte, daß das nichts für mich sei. Ich vertraue ihr. Sie kennt mich gut. Sie war lange Zeit die Oberschwester in dem Waisenhaus, in dem ich aufgewachsen bin. Dann sagte sie noch, daß du ein bisserl einsam wärst und dich nach Gesellschaft sehntest. Ich sollte mich wie eine Verwandte fühlen, die bei einer Tante… oder so… zu Besuch sei. Das ist schwer für mich. Ich habe doch keine Verwandte und weiß also nicht, wie das ist.«
»Des ist ein bisserl viel verlangt, Josi. Da stimme ich dir zu. Aber ich denke, daß die Oberin dir damit etwas anderes sagen wollte. Du sollst keine Hemmungen haben. Du hast doch keine Angst vor mir, oder?«
Josi lachte und schaute Zilli in die Augen.
»Nein, das habe ich nicht.«
»Das freut mich. Weißt du, andere fahren vielleicht in Urlaub, um neue Menschen kennenzulernen. Ich will nicht vom Hof fort. Da dachte ich mir, ich lade mir jemanden ein. Jetzt bist du hier.«
»Aber es gibt doch den Seppel und wohl auch noch andere Helfer. So alleine kannst du nicht sein.«
»Das ist richtig. Aber des sind Männer, die zupacken. Sie sind alle tüchtig. Aber Gesellschaft sind sie für mich nicht. Ich hoffe, dir gefällt es und du bleibst eine Weile.«
»Ja, ich dachte erst einmal so vier Wochen.«
»Nun, vier Wochen sind schon ein ganz guter Anfang. Alles andere wird sich ergeben.«
Josi bekam große Augen.
»Was soll sich ergeben?«
Zilli sah den ängstlichen Blick in Josis Augen.
»Ach, Madl! Wenn wir uns verstehen, und daran hab’ ich keinen Zweifel, dann wünsche ich mir, daß du länger bleibst. Ich bin hier alleine und meine Abende sind sehr einsam.«
»Das kenne ich!« sagte Josi leise. »Da habe ich oft lieber gearbeitet, statt alleine in meiner Wohnung zu sein.«
Zilli stand auf und räumte den Tisch ab. Josi half ihr dabei.
»So, jetzt zeige ich dir das Haus.«
Zuerst führte Zilli das junge Madl durch die unteren Räume. Das Haus war groß und weitläufig. Es gab ein Eßzimmer, ein Wohnzimmer und ein Arbeitszimmer. Der Altenteil lag auch im Erdgeschoß. Alles war sehr gepflegt. Dann gingen sie hinauf. Zuerst zeigte Zilli Josefa ihr Zimmer. Es war ein großes Zimmer mit einem Balkon. Die Wände waren mit Tapete mit kleinen Rosenmustern beklebt. Die Möbel waren aus dunklem Holz. Es gab ein großes Bett mit einem Baldachin, einen Schrank, eine Kommode, einen Waschtisch, Nachtschränkchen rechts und links neben den Betten, Tisch und zwei Stühle. Die Bettwäsche war blütenweiß mit gehäkelten Spitzen.
Josefa stand wie angewurzelt in der offenen Tür.
»Das ist… das ist viel zu schön für mich. Das ist wie für eine Prinzessin.«
Zilli legte den Arm um Josefa und lachte. Sie drückte sie an sich.
»Madl! Dann ist es gerade recht. Es macht mir Freude, dich zu verwöhnen. In dem Zimmer wohnte die Schwester meines Mannes, bis sie heiratete. Es war immer eines der Mädchenzimmer hier im Haus. Komm, ich helfe dir deine Sachen auspacken.«
Zilli nahm Josi den Rucksack aus der Hand und kippte ihn auf dem großen Bett aus.
»Hast net viel dabei!«
»Nein! Nur etwas Dünnes für heiße Tage und etwas Warmes, wenn das Wetter in den Bergen umschlägt. Ich lege auch keinen großen Wert auf Kleidung. Ich habe nicht viel und ich brauche auch nicht viel. Wann soll ich sie denn anziehen, die Sachen? In der Klinik bekomme ich die Dienstkleidung gestellt. Ich bin nicht wie andere. Ich gehe nicht aus und so…« Josis Stimme erstarb.
Zilli schüttelte den Kopf.
»Das ist aber kein Leben für ein Madl in deinem Alter«, sagte Zilli leise. »Aber irgendwie kann ich dich verstehen.«
Zilli räumte Josis wenige Sachen in den großen Kleiderschrank. Dann hakte sie sich bei Josi unter und führte sie durch die anderen Räume.
»So ein großes Haus! So viele Zimmer!«
»Ja, die Draxelbauern, die hatten immer eine große Familie. Nur mein Mann und ich haben diese Tradition nicht fortsetzen können. Aber das ist eine andere Geschichte. Damit will ich dich jetzt nicht belasten.«
Nachdem Zilli ihr das ganze Haus gezeigt hatte, führte sie Josi durch die Ställe. Mit Freude sah die Bäuerin, wie Josi auf die Tiere zuging.
»Hier gibt es fast alles, was zu einem Hof gehört, Kühe und Kälbchen, Schweine mit den Ferkeln, Hühner, Hasen, Gänse, zwei Pferde und Katzen. Aber es gibt keinen Hofhund. Das finde ich gut. Es macht mich immer traurig, wenn ich die Hofhunde an der Kette angebunden sehe.«
»Ich mag Hunde besonders gern. Sie sind so treu.«
»Früher, bis zum letzten Winter, gab es auch noch einen Hund. Ich werde mir auch wieder einen zulegen. Welche Rasse magst du?«
»Keine bestimmte Rasse. Also, ich würde mir einen Hund aus dem Tierheim holen und ihm ein schönes Zuhause geben.«
Zilli streichelte Josi die Wange.
»Bist ein gutes Madl. Hast ein Herz für die arme Kreatur.«
Der Rundgang war beendet.
Wie Zilli angekündigt hatte, machten die beiden Frauen einen Spaziergang durch Waldkogel. Dabei erzählte Zilli Josi viel über den Ort und die Berge. Die Geschichten über den »Engelssteig« und das »Höllentor« ließ Zilli nicht aus.
»An den Geschichten muß etwas dran sein«, sagte Josefa leise. »Es ist ein sehr tröstlicher Gedanke, daß die Engel dort oben auf dem Gipfel sind.«
»Ja, das ist ein wirklich tröstlicher Gedanke. Ich schaue auch oft hinauf und rede mit den Engeln. Dabei ist mir auch der Gedanke gekommen, daß ich mir jemanden einladen könnte. Und jetzt bist du da!«
»Ja, jetzt bin ich da! Nochmals vielen Dank!«
»Du mußt dich nicht bedanken, Josi. Ich freue mich, daß du hier bist. Wir werden uns eine schöne Zeit machen. Wanderst du gerne?«
»Ich bin noch nicht viel gewandert.«
»Dann werden wir das ändern. Du mußt doch die schönen Berge kennenlernen. Wir können auf die Berghütte wandern. Von dort aus hat man einen wunderschönen Blick über das ganze Tal.«
Zilli redete und redete. Sie machte Pläne und Vorschläge. Dabei sah sie sehr glücklich aus. Josefa hörte zu. Sie nahm sich vor, die Zeit ihres Aufenthaltes auf dem Draxel Hof auch für Zilli schön zu machen.
Sie gingen am Ufer des Bergsees entlang und setzten sich ins Gras. Dort blieben sie und sahen, wie die Sonne sich langsam neigte und die Nacht sich ankündigte. Die Wellenkämme leuchteten golden und rosa im Abendlicht. Als es kühler wurde, gingen sie langsam zurück zum Draxel Hof.
Zilli tischte das Abendessen auf. Es gab selbstgemachte Wurst und Käse, Bauernbrot und Tomaten mit viel Schnittlauch aus dem Garten.
»Das schmeckt wunderbar. Da schmeckt man richtig die Natur. Das sind Gartentomaten und keine Plastiktomaten«, kicherte Josi. »Das Gemüse aus dem Supermarkt nenne ich so: Plastikgemüse.«
»Das hast du treffend gesagt«, lobte sie Zilli.
Nach dem Essen räumten sie den Tisch ab. Zilli spülte das Geschirr und Josi trocknete ab. Dabei war sie ganz in Gedanken. Zilli bemerkte es.
»Was denkst du, Madl?«
Zilli errötete.
»Es war ein wunderschöner Tag. Er war so ereignisreich. Ich muß das alles erst einmal verarbeiten.«
»Das sollst du auch. Du wirst gut schlafen heute nacht. Ich verstehe, daß du erschöpft bist. Vielleich habe ich dir auch etwas viel zugemutet. Aber ich bin eben so glücklich, daß du da bist, Madl.«
»Wann stehst du morgen früh auf? Kannst du mich bitte wecken? Ich habe keinen Wecker.«
Zilli schmunzelte.
»Einen Wecker, den habe ich auch nicht. Unser Hahn kräht ziemlich laut. Da wirst du schon wach werden. Aber dann mußt du net gleich aufstehen. Schlafe dich aus! Wirst sehen, die Luft hier in den Bergen macht auch müde. Ich klopfe dann später an deine Tür.«
»Aber nicht zu spät! Es ist doch morgens bestimmt viel zu tun auf dem Hof. Ich möchte auch etwas tun. Allerdings mußt du mich anlernen. Ich weiß nichts – kenne die Arbeiten in der Landwirtschaft nicht, Melken und so.«
»Zum Melken gibt es Melkmaschinen. Darum kümmert sich der Seppel. Du kannst dir alles ansehen und selbst entscheiden, wo du versuchen willst, Hand anzulegen. Einverstanden?«
»Einverstanden, Zilli!«
Sie waren mit der Küchenarbeit fertig. Weil Josi einige Male herzhaft gähnen mußte, beschloß Zilli, daß sie schlafen gingen. Sie brachte Zilli bis zu ihrer Zimmertür.
»Gute Nacht, Madl! Träume schön die erste Nacht auf dem Draxel Hof.«
»Danke! Dir auch eine gute Nacht, Zilli!«
»Die werde ich bestimmt haben!«
*
Es war mitten in der Nacht, als Cäcilia Draxel aus dem Tiefschlaf aufschreckte. Eine Unruhe beschlich sie. Wie eine Mutter nach ihrem Kind schaute, ob es auch schlief und gut zugedeckt war, wollte Zilli, einem inneren Drang folgend, nach Josi sehen. Sie stand auf und warf sich ein großes wollenes Umschlagtuch um die Schultern. Dann schlich Zilli den Flur entlang. Die alten breiten, dunklen Holzdielen knarrten unter ihren Schritten.
Richtig! Unter der Tür von Josefas Zimmer war Licht zu sehen.
»Des Madl hat das Licht brennen lassen. Vielleicht hat es Angst in der ersten Nacht im fremden Haus«, flüsterte Zilli vor sich hin.
Leise drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür.
Josi saß im Bett und schrieb.
»Du bist noch wach? Kannst net schlafen?«
Josi raffte eilig das Heft zusammen und verbarg es unter der Bettdecke. Zilli schmunzelte.
»Schreibst du Tagebuch?«
»Ja! Immer, wenn ich mir über etwas klarwerden muß, dann schreibe ich darüber. Nicht immer wird die Sache dann gelöst. Aber ich fühle mich besser.«
»Dann bereitet dir etwas Kummer? Habe ich etwas Falsches getan oder gesagt? Es würde mir sehr leid tun.«
»Bewahre, Zilli! Das hat nichts mit dir zu tun! Ich bin gestern nicht nur hier angekommen, ich habe auch noch etwas anderes erlebt. Jetzt bin ich wegen der Sache etwas verwirrt. Ich muß immer wieder daran denken. Das wundert mich selbst und ist auch beunruhigend. So etwas ist mir noch nie passiert!«
Die Bäuerin zog ihr Schultertuch enger um ihren Körper.
»Magst mit mir drüber reden, Josi? Vielleicht kann ich dir einen Rat geben?«
Josi zuckte mit den Schultern. Sie überlegte. Zilli trat zu ihr ans Bett und setzte sich. Sie schaute Josi liebevoll an.
Josi nahm ihren ganzen Mut zusammen.
»Zilli, ich muß immer wieder an den jungen Mann mit dem Sportwagen denken, der im Acker festsaß.
Er geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Wenn ich das Licht ausmache, dann sehe ich ihn in Gedanken vor mir.«
»Nur das ist es?« Zilli lachte herzlich. »Mei, Madl! Gute Josi! Die Antwort ist einfach. Du hast dich verliebt!«
Josi starrte Zilli mit großen Augen an.
»Verliebt? Ja – nein – ich weiß nicht! Aber ich kenne ihn doch nicht! Ich habe ihn nur kurz gesehen.«
Zilli tätschelte Josis Hand.
»Des genügt, Madl! Bei dir hat der Blitz eingeschlagen. Du bist verliebt! Das war dann wohl Liebe auf den ersten Blick, wie man sagt.«
Josi sah Zilli mit großen Augen an. Sie schluckte.
»Meinst du wirklich? Ist das so? Geht das so, wenn man sich verliebt? So schnell? So plötzlich? Ich kenne nicht einmal seinen Namen. Außerdem… wenn es so wäre… es geht nicht! Zwar hat die Mutter Oberin gesagt, daß es besser für mich wäre, wenn ich heiraten und eine Familie gründen würde. Das wäre auch eine Berufung. Und diese Aufgabe würde besser sein für mich. Aber dieser Fremde mit dem großen Auto verwirrt mich.« Josi schüttelte den Kopf. »Der braucht nicht mich. Der nimmt mich auch nicht. Der nimmt ein reiches Madl. Das ist genau wie mit den jungen Ärzten im Krankenhaus. Die heiraten auch immer reich. Geld kommt zu Geld, sagte die alte Stationsschwester immer. Damit hat sie recht.«
»So einen Schmarren! Liebe kommt zur Liebe! Wer nicht der Liebe folgt, den bestraft das Leben. Wenn du und dieser junge Autofahrer füreinander bestimmt sind, dann kommt ihr auch zusammen. Das ist so mit der Liebe.«
Dann erzählte Zilli Josi die Geschichte von Toni und Anna. Josefa hörte aufmerksam zu und staunte.
»Das muß dann wirklich Liebe gewesen sein, bei der Anna und dem Toni.«
»Das war es! Es war wirkliche Liebe! Jetzt erzählst du mir einmal ganz ausführlich, wie das war mit dir und dem jungen Mann. Versuche dich an jede Einzelheit zu erinnern.«
Josi preßte die Hände auf ihre Brust. Ihr Herz klopfte ganz schnell. Sie spürte jeden Schlag. Sie erzählte Zilli, wie sich alles zugetragen hatte.
»Ja, so ist es gewesen! Jetzt muß ich immer an ihn denken!«
»Das ist Liebe! Du bist verliebt! Das ist wunderbar!« freute sich Zilli. »Der Bursche muß hier irgendwo in Waldkogel stecken. Willst du ihn finden?«
Josi errötete und zuckte unsicher mit den Schultern.
»Zuerst mußt du dir selbst zugestehen, daß du dich verliebt hast. Das ist das Schönste, was so einem herzigen Madl wie dir passieren kann. Wehre dich nicht gegen das Gefühl. Ändern kannst du es ohnehin nicht.«
»Was soll ich jetzt machen?«
»Du lauschst auf dein Herz. Das wird dir den Weg schon zeigen. Die Zeit, in der man verliebt ist, gehört zu der schönsten und besten Zeit im Leben einer Frau. Jetzt versuchst du, noch ein bisserl zu schlafen. Laß das Licht brennen, wenn du besser einschlafen kannst und wenn du magst, dann kannst du auch die Tür einen Spalt auflassen.«
Josi nickte eifrig. Zilli stellte die Nachttischlampe auf den Fußboden. Das Licht war jetzt gedämpfter. Zilli griff nach der Bettdecke und deckte Josi zu. Sie streichelte ihr über das Haar wie einem kleinen Mädchen.
»Nun versuche zu schlafen! Träume von ihm! Augen zu! Ich bleibe noch eine Weile hier sitzen.«
Josi schloß gehorsam die Lider.
»So lieb und fürsorglich war noch niemand zu mir, Zilli. Danke!« murmelte Josi leise.
»Schon gut, Madl!« sagte Zilli leise. »Schlaf jetzt!«
Es dauerte nicht lange, dann gewann Zilli den Eindruck, daß Josefa eingeschlafen war. Die Bäuerin blieb noch eine Weile am Bett sitzen und betrachtete sie.
Josi ist wie ein Kind, dachte die Bäuerin. Sie ist zwar eine junge Frau, aber das Leid, das sie in ihrem Leben erfahren mußte, wiegt schwer. Sie konnte das alles nur durchstehen, weil sie sich allen Gefühlen gegenüber verschloß. Da ist die Liebe ein großer Schritt für sie. Niemand hat sie darauf vorbereitet. Das wird jetzt meine Aufgabe sein. Dafür will ich dankbar sein.
Zilli streichelte Josefa über das schwarzes Haar und ging hinaus. Sie lehnte die Tür nur an.
*
Am nächsten Morgen war Cäcilia früh auf den Beinen. Sie rief Seppel zu sich in die Küche.
»Was gibt es, Bäuerin?«
»Setz dich! Hier hast einen Kaffee!«
»Danke, Bäuerin!« sagte Seppel mit Verwunderung in der Stimme.
Zilli setzte sich zu Seppel an den Tisch. Sie musterte ihn genau.
»Seppel! Du hast doch gestern den jungen Mann aus dem Acker gezogen. Hat er etwas gesagt? Wie heißt er? Wo kommt er her? Was weißt du von ihm?«
»Auf was willst hinaus, Draxelbäuerin?«
»Ich stelle hier die Fragen! Net du! Verstanden! Also rede jetzt!«
Der ungewöhnlich scharfe Ton seiner Arbeitgeberin macht Seppel nervös.
»Geredet haben wir net viel! Er wollte wissen, wo ich herkomme und wie ich heiße. Ich hab’ ihm gesagt, ich sei der Seppel vom Draxel Hof. Er heißt Dirk! Seinen Familiennamen hat er net genannt. Dann hat er sich noch nach dem Weg zur Berghütte erkundigt. Ich habe ihn gewarnt, daß er aufpassen muß, sich mit seinem Sportwagen nicht oben auf der Oberländer Alm erneut festzufahren.«
»Was hast für einen Eindruck von ihm?«
»Mei, Bäuerin! Des ist schwer zu sagen. Er ist eben ein Fremder, ein Tourist. Aber er machte einen freundlichen Eindruck auf mich. Und er hat bezahlt.«
Seppel griff in seine Hosentasche und legte einhundertfünfzig Euro auf den Tisch.
»Hier, Bäuerin, des gehört wohl dir. Gestern wollte ich dich net stören, weil doch die Josefa angekommen war. Wenn du mich jetzt net reingerufen hättest, dann wäre ich nach der Stallarbeit von selbst gekommen und hätte dir des Geld gebracht. Des mußt mir glauben!«
»Ich glaube dir, Seppel! Warum hat er dir so viel gegeben?«
»Richtig aufgedrängt hat er es mir. Er sagt, daß ein Abschleppdienst ihn mindestens diese Summe gekostet hätte, wenn nicht noch mehr, weil es Sonntag war. Also, wenn du mich fragen tust. Der hat Geld wie Heu! Aber ich hab’ net den Eindruck, daß er ein Großkotz ist.«
Cäcilia kannte ihren Seppel gut. Er war damals, kurz nach ihrer Heirat, auf den Hof gekommen und bis heute geblieben. Er war zuverlässig, fleißig und sehr ruhig. Doch an diesem Morgen brachte er es kaum fertig, länger als einige Sekunden die Bäuerin anzusehen. Verlegen und nervös rührte er in dem Kaffeebecher.
Cäcilia schlug einen freundlichen Ton an.
»Dich beunruhigt doch etwas, Seppel. Willst du es mir net sagen? Die Wahrheit kommt immer raus, des weißt du doch, oder?«
Seppel nickte.
»Der Dirk, der wollte dann noch eine Auskunft von mir. Dafür hat er mir ein Trinkgeld versprochen. Aber ich hätte sie ihm auch so gegeben. Ich schäme mich, daß ich die Auskunft quasi verkauft habe.«
Seppel räusperte sich.
»Er hat sich nach dem Madl erkundigt. Er wußte ihren Namen net. Da habe ich ihm erzählt, daß sie Josefa heißt und hier auf dem Hof ist. Er sagte, ich soll ihr Grüße ausrichten und er wollte auch noch selbst vorbeikommen und sich für ihre Hilfe bedanken.«
Die Bäuerin schmunzelte.
»Ja, ja! Die Josi ist schon ein fesches Madl. Die fällt jedem Burschen auf. Sie schläft noch. Ich werde ihr die Grüße übermitteln. Danke, Seppel! Und des Geld kannst behalten. Des bisserl Benzin, des verbraucht wurde, des kann ich verschmerzen. Danke, daß du dich der Sache angenommen hast. Es war ja Sonntag und Abschlepparbeiten gehören net zu deinen eigentlichen Aufgaben. Aber wenn jemand in Not ist, dann tun wir helfen. So war des schon immer in Waldkogel. Dafür will ich kein Geld. Also behalte es und kaufe deiner Frau was Schönes davon. Dafür kriegst du bei den Bollers im Laden schon ein schönes Dirndl. Über ein neues Dirndl freut sich jede Frau.«
»Danke, Bäuerin! Des mache ich!«
Seppel mußte grinsen. Er rieb sich verlegen das Kinn.
»Gibt es noch etwas?«
»Also, Bäuerin, da ist noch was! Ich denke, der Bursche ist richtig narrisch nach dem Madl. Dem seine Augen, die haben geleuchtet, als er nach dem Madl gefragt hat und rot ist er geworden wie ein Schulbub. Des wollte ich noch sagen.«
»Ist gut, Seppel! Danke! Aber kein Wort – zu niemanden. Ich will kein Getratsche auf dem Hof. Die Josefa wurde mir anvertraut und ich muß auch auf den Ruf des Madls achten.«
»Kannst dich auf mich verlassen, Bäuerin!«
»Das weiß ich doch, Seppel!«
Sie tranken beide ihren Kaffee aus. Dabei sprachen sie über die anstehende Tagesarbeit. Dann ging Seppel hinaus in den Stall.
*
Cäcilia war nicht die einzige, die an diesem Morgen sehr früh aufgewacht war. Auch Dirk Hansen wachte früh auf. Die meisten Hüttengäste schliefen noch. Anna und Toni saßen in der Küche und frühstückten.
»Guten Morgen, ihr beide!«
»Guten Morgen, Dirk! Schon wach? Ausgeschlafen oder aufgehört?«
»Diese Frage kann ich dir schwer beantworten, Toni. Aber ich will dir etwas anderes sagen. Es ist nicht so, daß es mir hier auf der Berghütte nicht gefällt. Ich komme auch später gern wieder. Doch jetzt suche ich mir ein Zimmer in Waldkogel.«
Toni lachte. Anna schmunzelte. Dirk grinste verlegen.
»Aha, willst in der Nähe des
Madls sein, wie?«
»Ja! Diese Josefa geht mir nicht aus dem Kopf. Dabei schaffe ich es normalerweise gut, vor dem Einschlafen abzuschalten. Aber ihr Anblick hat mich bis in meine Träume verfolgt.«
Toni stellte noch einen Teller und einen Kaffeebecher auf den Tisch. Während er Dirk Kaffee einschenkte, sagte Toni:
»Des ist net verwunderlich! Du bist in des Madl verliebt. Des ist so! Des ist ganz normal. Dabei hast du es einfacher als ich damals. Ich habe in der ersten Nacht, nach dem ich meine liebe Anna im Zug gesehen hatte, wahre Höllenqualen ausgestanden. Ich kannte nur einen Gedanken: Wie komme ich in Kontakt mit ihr? Wie kann ich ihr Herz erobern? Die Stunden an dem Tag, bis ihre Freundin Sue sie dann nach Waldkogel gebracht hatte, waren die längsten meines Lebens. Mei, war ich nervös! Ich war zu nix zu gebrauchen. Mit meinen Gedanken war ich nur bei meiner Anna. Was ich dir damit sagen will, Dirk? Tue, was immer du tun mußt. Du kannst hier oben deinem Madl net nahe kommen. Ich bringe später die Kinder runter in die Schule. Wir wechseln uns ab. Eine Woche holt mein Vater sie morgens auf der Oberländer Alm ab und eine Woche unser Freund, der Bürgermeister Fritz Fellbacher. In der dritten Woche bin ich an der Reihe. Kommst mit uns. Meine Eltern geben dir gern ein Zimmer. Dann kannst du deinem Madl nachstellen und ihr Herz erobern. Ich wünsche dir alles Gute dabei! Ich wünsche dir, daß du glücklich wirst.«
»Danke, Toni!«
Dirk schlug vor, daß sich Toni den Weg sparen könnte. Er würde die Kinder mit hinunternehmen. Toni und Anna waren einverstanden. Toni würde mit Bello bis zur Oberländer Alm mitgehen und dann die frische Milch, Sahne, Butter und Käse heraufbringen.
Sie frühstückten. Toni rief bei seinen Eltern an und redete mit ihnen wegen einem Zimmer für Dirk.
»Des geht klar, Dirk! Die Pensionszimmer sind alle belegt, aber die Eltern geben dir das Zimmer, in dem Anna und ich wohnen, wenn wir unten im Tal sind. Des steht jetzt leer. Des kannst gerne nutzen.«
Dirk bedankte sich. Er war mit seinen Gedanken schon unten im Tal auf dem Weg zu Josefa.
*
Kurz nach acht Uhr fuhr Dirk Hansen auf den Hof des Draxel Hofes. Cäcilia sah ihn durch das Küchenfenster und eilte hinaus.
»Grüß Gott! Du mußt der Dirk sein! Ich habe dich schon erwartet. Willst zu der Josi, wie?«
»Ja! Grüß Gott, wie man hier sagt. Josi? Damit meinen Sie bestimmt Josefa?«
»Ja, so heißt des Madl! Ich bin die Draxelbäuerin! Dann komme mit mir!«
Dirk griff nach dem großen Blumenstrauß, der auf dem Beifahrersitz des Autos lag. Cäcilia ging voraus. Dirk folgte ihr. Sie führte ihn in den schönen Bauerngarten hinter dem Haus. Dort setzten sich sie unter einen Apfelbaum.
»So, Bub! Du willst also zu der Josi! Da mußt du hier noch ein bisserl warten. Des Madl tut noch schlafen. Des hat die halbe Nacht wachgelegen.«
»Dann erging ihr es genau wie mir!« rutschte es Dirk heraus.
Er errötete tief und betrachtete verlegen die Blumen aus Metas Garten.
»Ich trage wohl Eulen nach Athen, wenn ich mir den Garten hier so ansehe. Aber ich wollte Josi etwas mitbringen.«
»Ein Madl freut sich immer über einen Blumenstrauß von dem Burschen, der ihr gefällt.«
Dirk wurde lebhaft.
»Bäuerin! Draxelbäuerin, wollen Sie damit sagen, daß Ihnen Josefa von mir erzählt hat. Hat sie über mich gesprochen?«
»Nun mal langsam! Ganz ruhig! Ich habe ein bisserl ein schlechtes Gewissen, wenn ich dir – wir sagen hier zu Leut’, die wir mögen gleich ›Du‹ – des ist dir doch recht?«
Dirk nickte eifrig.
»Gut! Dann kannst Cäcilia zu mir sagen. Also! Wie gesagt, ich habe ein bisserl ein schlechtes Gewissen, wenn ich mit dir über die Josi rede. Auf der anderen Seite trage ich auch Verantwortung für des Madl. Die Josi ist ein ganz liebes Madl. Sie ist ein richtig unschuldiges Lämmchen und ich will net, daß sie verletzt wird. Also, ich will mal von hinten anfangen. Kinder, die waren mir und meinem Mann net vergönnt. Ich weiß net, wie eine Mutter in so einem Fall mit dem Burschen redet, der sich für ihr Madl interessiert. Da habe ich keine Erfahrung. Ich will dich nur warnen. Wenn du ernste Absichten hast, dann ist nix einzuwenden. Aber wenn des nur eine Liebelei ist, dann mußt aufpassen, daß sich die Josi keine Hoffnungen macht, die sich net erfüllen. Des Madl hat sich wohl in dich verliebt. In seinem Herz ist ein Gefühlsdurcheinander ausgebrochen, das ich net mit Worten beschreiben kann. Das kommt auch daher, daß die Josefa, sagen wir, eine Waise ist. Das heißt, sie hat keine Familie, keine Mutter, keinen Vater, keine Geschwister. Sie ist eine Einzelgängerin und etwas scheu gewesen bisher. Wenn sich so ein Madl verliebt, dann ist das ein großer Schritt, verstehst?«
Die Bäuerin musterte Dirk von oben bis unten.
»Scheinst aus einem feinen Haus zu stammen. Und mit den Händen tust auch net arbeiten. Das kann ich sehen. Also, ich habe auf der einen Seite kein Recht, mich ins Leben von der Josi einzumischen. Auf der anderen Seite, werde ich sie beschützen, weil sie mir ans Herz gewachsen ist. Gehe bitte so mit ihr um, daß sie keinen Schaden nimmt, hörst du?«
Dirk sah die Bäuerin mit großen Augen an. Dann schmunzelte er.
»Cäcilia, du mußt meine Schwester Viola kennenlernen. Ich bin sicher, daß ihr sehr gute Freundinnen werdet. Viola geht auch immer sofort darauf los und bringt die Sache, die ihr am Herzen liegt, auf den Punkt. Unmißverständlich! Meistens wenig diplomatisch!«
»Scheint ein gutes Madl zu sein, deine Schwester! Die weiß, auf was es ankommt im Leben, net auf leere Worte und Schönrederei!«
»Du beschreibst Viola sehr treffend, Bäuerin! Sie kann auch genau so streng sein wie du. Sie ließ mir gestern morgen keine Wahl und brachte die ganze Familie hinter sich. Sie schickten mich in Zwangsurlaub. Viola und ihr Verlobter brachten mich mit dem Flugzeug nach München. Gut möglich, daß Viola sogar kontrolliert, ob ich es mir auch gutgehen lasse.«
»War deine Schwester schon einmal hier in Waldkogel?«
»Nein! Aber meine Mutter kennt die Großmutter von Anna, der Frau vom Toni. Die hat meinen Aufenthalt ihr eingefädelt.«
»Dann haben die Frauen bei euch in der Familie auch das Sagen, wie? Nun ja, hier auf den Höfen ist es allemal so. Nach außen hin schicken wir die Mannbilder vor. Aber auf dem Hof wird nichts gemacht, das die Bäuerin net abgesegnet hat. Die Frauen kriegen die Kinder und sind für die Erziehung verantwortlich, das es dann mit den Höfen weitergeht. Das war seit Generationen schon so und so wird es auch bleiben. Ich bin net konservativ, aber die bewährten Traditionen soll man achten und beibehalten, jedenfalls im großen und ganzen, denke ich.«
»Eine gute Einstellung!« bemerkte Dirk.
Cäcilia Draxel stand auf.
»Du kannst hier warten. Ich werde nach Josi sehen und sie dir dann schicken.«
»Danke! Ich meine es ehrlich! Das will ich dir noch sagen!«
Cäcilia sah Dirk in die Augen. Ja, er meint es wirklich ehrlich, dachte sie. Sie sagte aber nichts.
Dann ließ sie Dirk mit all seinen Gedanken alleine und ging zurück ins Haus. Er war jetzt noch verwirrter als vorher. Er hatte sich das Zusammentreffen mit der jungen Frau anders ausgemalt. Er wollte sich zuerst für ihre Hilfe bedanken – sie zum Essen einladen –, danach vielleicht einen Spaziergang machen – ihr langsam näherkommen –, ihr seine Liebe gestehen. Er wollte sie täglich sehen, sie näher kennenlernen… und so weiter… und so weiter.
Doch jetzt, nach dem unverblümten Gespräch mit Cäcilia, überlegte sich Dirk, wie er die Angelegenheit angehen sollte.
Was will ich?
Wie sage ich es Josi?
Um diese beiden Fragen drehte sich alles.
Dirk grübelte noch über das Verhältnis zwischen Cäcilia und Josi nach. So wie sich die Bäuerin verhalten hatte, lag ihr sehr viel an Josi. Doch sie war keine Verwandte. Wenn Josi keine eigene Familie hatte, dann war die Bäuerin vielleicht so eine Art Patin?
Dirk mußte mit jemanden reden. So rief er Toni auf dem Handy an. Er erzählte ihm alles. Toni lachte.
»Ich habe meine Anna gleich mit auf die Berghütte genommen und ihr alles gezeigt. Vielleicht solltest du doch länger in Waldkogel bleiben. Soll ich mal mit der Draxelbäuerin reden? Vielleicht kannst du auf den Hof ziehen und mit anpacken. Dann bist du deiner Josi nah?«
»Ein verlockender Gedanke, Toni. Ich werde es mir überlegen. Aber so einfach wird da nichts zu machen sein.«
Toni lachte.
»Das ist einfacher, als du denkst. Meine Mutter und die Draxelbäuerin kennen sich gut und schätzen sich. Wenn meine Mutter die Cäcilia bittet, dir auf dem Hof ein Zimmer zu geben, dann tut sie es bestimmt. Du kannst mich ja wieder anrufen, wenn du eine Entscheidung gefällt hast.«
Dirk hörte Anna im Hintergrund etwas sagen.
»Du, Dirk! Anna läßt dir schöne Grüße ausrichten. Sie denkt an dich! Sie fragt sich, ob du in Waldkogel bleibst, wenn du das Madl heiratest. Anna würde sich freuen, jemanden aus ihrer alten Heimat hier zu haben.«
»So weit bin ich noch nicht, Toni!«
»Dann fang an, dir darüber Gedanken zu machen!«
Sie redeten noch eine Weile, dann legte Dirk auf.
Stimmt, dachte er. Toni hat recht. Wie wird die Zukunft mit Josi aussehen? Wird ihr Hamburg gefallen? Ich muß sie bald einmal heimbringen. Dirk erinnerte sich an das Angebot seines Vaters, daß er ein Sabbatjahr nehmen könnte. Der Gedanke gefiel ihm immer mehr.
*
Als die Draxelbäuerin ins Haus kam, traf sie auf Josi, die aufgeregt, mit hochrotem Kopf die Treppe herunterkam.
»Das ist… da steht… das muß das Auto von diesem jungen Mann sein… auf dem Hof!« stammelte und stotterte Josefa mit hochrotem Kopf.
Cäcilia legte beruhigend den Arm um Josis Schultern.
»Ja, er ist hier! Er heißt Dirk! Doch erst einmal einen guten Morgen!«
»Guten Morgen, Zilli! Entschuldige meine Unhöflichkeit.«
Cäcilia schob Josi in die Küche und drückte sie auf einen Stuhl.
»Erst wird gefrühstückt.«
»Ich habe keinen Hunger! Ich bekomme keinen Bissen hinunter.«
Cäcilia lachte.
»Es ist bekannt, daß Verliebte glauben, sie könnten nur von Luft und Liebe existieren.«
Der Tisch war schon gedeckt.
»Ich habe mit dem Frühstück auf dich gewartet. Ich habe nur mit dem Seppel eine Tasse Kaffee getrunken. Nun laß uns essen. Dann sage ich dir, wo er auf dich wartet. Ich habe kurz mit ihm geredet. Ein fescher Bursche, das muß ich schon sagen.«
Cäcilia schenkte Josi Kaffee ein. Weil diese sehr aufgeregt war, bestrich ihr Cäcilia ein Brot mit guter Butter aus eigener Milch und gab Erdbeermarmelade darauf. Sie schnitt das Brot in kleine mundgerechte Stücke.
Josefa schaute auf ihren Teller.
»Das Brot schaut gut aus. Du hast das so lieb gemacht, wie eine…« Josefa ließ das Wort aus, »…für ihr Kind.«
»Mutter – wolltest du sagen, nicht wahr?«
»Ja!« flüsterte Josi leise.
Die Draxelbäuerin atmete tief.
»Josi, ich muß mit dir reden. Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sind für mich große Werte. Ich habe gehofft, daß ich mehr Zeit habe, mit dir über diese Angelegenheit zu reden. Ich dachte vielleicht in einigen Wochen, wenn es dir hier gefällt und du dich ein bisserl heimisch fühlst. Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Da muß ich meine Pläne ändern. Es ist mir jetzt wichtig, daß du weißt, daß ich dich aus einem besonderen Grund eingeladen habe. Wenn du dich nicht verliebt hättest, dann wäre alles einfacher. Aber es kann auch sein, daß es dadurch einfach wird. Das kann ich noch nicht genau entscheiden. Also höre!«
Josefa klopfte das Herz. Sie aß ein Klötzchen Butterbrot mit Marmelade nach dem anderen. Sie schaute Cäcilia mit großen Augen an.
»Also! Ich habe eine bestimmte Absicht verfolgt, als ich ein Madl auf den Hof eingeladen habe – als ich dich auf den Hof geholt habe. Ich habe in einigen Wochen Geburtstag. Ich werde fünfzig Jahre alt.«
»Du siehst viel jünger aus, Zilli!« warf Josefa ein.
»Danke! Unterbrich mich bitte nicht. Ich mag nach außen ruhig wirken. Aber ich bin auch ganz schön aufgeregt. Oh, Gott, stehe mir bei! Laß mich die richtigen Worte finden.«
Die Bäuerin warf einen flehentlichen Blick in Richtung des Herr-gottswinkels in der Küche. Josefa blickte sich auch um. Sie sah, daß die Kerze nicht brannte. Die junge Frau stand auf und zündete sie an.
»So, jetzt ist es besser! Ich höre dir gerne zu, Zilli! Sage mir, was du auf dem Herzen hast. Heute nacht habe ich dir mein Vertrauen geschenkt. Jetzt schenke du mir dein Vertrauen.«
»Ja! Das stimmt!«
Cäcilia nahm einen zweiten Anlauf.
»Das war so! Ich bin zu Pfarrer Zandler gegangen und habe ihn gebeten, mir zu helfen jemanden zu suchen – ein Madl – das vielleicht für immer auf dem Draxel Hof bleiben möchte. So viel ich weiß, hast du als Kind immer gehofft, daß jemand kommt und dich als sein Kind annimmt. Der Himmel allein weiß, warum wir uns nicht früher kennengelernt haben. Also, ich hätte dich sofort genommen und mein lieber verstorbener Mann auch, da bin ich mir sicher. Jetzt bist du ein junges Madl und kannst selbst entscheiden. Bitte überlege dir, ob du dir vorstellen kannst, für immer hier bei mir zu leben. Wie das juristisch ist, das weiß ich nicht. Aber ich hoffe, daß es auch jetzt noch möglich ist, etwas zu machen, daß du wie eine Tochter hier bist.«
Es war jetzt ganz still in der Küche. Nur das Ticken der alten Pendeluhr war zu hören. Wenn es möglich gewesen wäre, das Klopfen von Josis Herz so laut zu hören, wie sie es schlagen hörte, dann hätte der Lärm die Berghänge erzittern lassen.
Josi schluckte. Sie schaute Cäcilia mit großen Augen an.
»Ja, Josi! Als ich dich da gestern auf dem Hof stehen sah und dich begrüßt habe, da habe ich es gewußt. Du bist die Richtige! Ich habe dich gleich in mein Herz geschlossen. Ich würde dich gerne aufnehmen wie eine eigene Tochter. Dich adoptieren, wenn du willst? Das mußt du nicht gleich entscheiden, Josi. Ich wollte nur, daß du es weißt, bevor du mit Dirk redest. Wenn du willst, dann betrachte mich ab sofort als deine nächste Verwandte und den Draxel Hof als deine Heimat.«
Cäcilias Stimme bebte leicht.
»Aber wie gesagt: Es ist deine Entscheidung. Ich denke, daß du nicht Ja sagst aus materiellen Gründen. Dazu hast du ein zu unschuldiges Herz. Du bist nicht berechnend.«
Josefa wandte den Blick ab. Sie schaute aus dem Fenster und schwieg. In Gedanken durchlebte sie ihr ganzes bisheriges Leben, die Jahre im Waisenhaus, die Hoffnungen und Enttäuschungen, die sie erfahren hatte. Immer wieder hatten sich adoptionswillige Ehepaare für Josefa interessiert. Doch dann nahmen sie ein anders Kind. Jetzt war es soweit. Endlich sagte jemand ja zu ihr.
Josefa drehte den Kopf zu Cäcilia.
»Ich habe auch dich gleich ins Herz geschlossen. Außerdem sehen wir uns etwas ähnlich, wenn wir auch keine Blutsverwandte sind. Seit ich dich gesehen habe, dachte ich mir – und besonders heute nacht –, es wäre schön, eine ältere Schwester zu haben. Du wirkst auch viel jünger als du bist. Aber als Adoptiv-mutter nehme ich dich auch gerne an. Das ist viel besser. Willst du mich denn wirklich? Bist du dir ganz sicher, daß du mich willst?«
»Madl! Meine liebe Josi! Ja, ich bin mir ganz sicher. Wie ich heute nacht so an deinem Bett saß, da habe ich endgültig den Entschluß gefaßt.«
Cäcilia stand auf. Josefa stand auf. Stumm nahmen sie sich in die Arme und hielten sich ganz fest. Beiden rollten die Tränen über die Wangen.
Dann nahm Cäcilia ihr Taschentuch und trocknete die Tränenspuren im Gesicht von Josefa, wie sie es bei einem Kleinkind gemacht hätte. Es quollen immer wieder neue Tränen aus den großen blauen Augen. Es war, als löse sich in ihrem Herzen eine Verkrampfung, und die Tränen des Glücks spülten alles Leid der Jahre der Einsamkeit fort. Immer wieder nahm Cäcilia Josefa in den Arm.
»Zilli! Ich habe eine Bitte!« sagte Josi leise mit großen, etwas ängstlichen Augen.
»Welche? Was kann ich für dich tun?«
»Ich will diesen Dirk jetzt nicht sehen. Kannst du ihm sagen, daß es noch etwas dauert. Meinst du, er wartet?«
Cäcilia streichelte Josefas Wange.
»Das tut er bestimmt. Wir flunkern ein bisserl! So eine kleine Notlüge ist wohl verzeihbar. Du gehst jetzt rauf auf dein Zimmer und ich gehe in den Garten und rede mit Dirk. Ich lade ihn für einen anderen Tag ein. Einverstanden? Wir sind jetzt eine Familie und halten zusammen.«
»Danke, Zilli! Oder soll ich schon… darf ich schon… also… kann ich Mama zu dir sagen?«
Cäcilia Draxel schloß Josefa in die Arme.
»Das darfst du! Wir gehen später gleich zum Bürgermeister Fellbacher. Der kennt sich in diesen juristischen Dingen aus. Der wird uns sicherlich bei den Formalitäten helfen.«
»Ma… Mama! Die Oberin im Mutterhaus, die kennt sich da bestimmt aus. Die kann auch weiterhelfen.«
»Das ist eine gute Idee! Bist ein schlaues Madl! Was hab’ ich für ein kluges Kindl! Jetzt gehst rüber ins Arbeitszimmer und rufst die Oberin gleich an. Ich rede derweil mit deinem Dirk.«
»Danke! Du kannst ihm ruhig andeuten, daß er mir gefällt und ich ihn gern wiedersehe. Nur jetzt nicht. Für mich ist eben ein Traum in Erfüllung gegangen. Etwas – von dem ich träumte, seit ich denken kann. Du hast mir eine Heimat geschenkt, Mama! Die will ich erst ganz kennenlernen. Du mußt mir alles erzählen über dich und den Draxel Hof.«
»Und über den Draxelbauer!«
»Ja, über den auch! Wir sollten vielleicht als erstes gemeinsam zum Friedhof gehen? Würde dir das Freude machen?«
»Große Freude!«
Cäcilia fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht.
»Dann packen wir es an! Du telefonierst mit der Oberin! Ich rede mit Dirk! Danke, daß du so viel Vertrauen zu mir hast, Josi.«
Josi lachte herzlich.
»Ich habe gerade erkannt, daß es Vorteile hat, eine Mama zu haben. Die kann ich dann vorschicken.«
Sie lachten.
»Anschließend gehen wir zum Friedhof – und dann einkaufen. Ich freue mich schon darauf, dich ein bisserl zu verwöhnen. Der Kleiderschrank in deinem Zimmer ist viel zu leer.«
»Wie machen wir das mit meinem Urlaub und meiner Arbeit in der Klinik?«
»Ich überlasse es dir! Ich kann dir ein Auto kaufen, dann kannst du pendeln. Allerdings ist das eine große Fahrerei. Du kannst auch kündigen. Du bist meine Tochter. Du gehörst auf den Draxel Hof, jeden Tag, wenn du willst.«
»Nichts lieber als das! Wir holen uns aber bald einen Hund aus dem Tierheim.«
»Wir können auf dem Rückweg vom Einkaufen bei unserer Viehdoktorin vorbeigehen. Die Doktorin heißt Beate Brand und ist sehr lieb und tüchtig. Sie kann dir sicherlich weiterhelfen. Vielleicht weiß sie von einem Hund, der dringend eine neue Familie braucht.«
»Das ist eine gute Idee, Mama! Jetzt rufe ich die Oberin an.«
Josefa umarmte Cäcilia und drückte ihr einen Kuß auf die Wange.
»Ich kann es immer noch nicht fassen! Kneife mich! Es ist wirklich wahr? Du willst mich adoptieren, obwohl du mich erst seit gestern kennst?«
»Ja! Im Herzen spüre ich, daß wir eine gute kleine Familie abgeben. Ich habe immer auf mein Herz gehört, Josi. Das solltest du auch immer tun. Ein Herz irrt sich nie.«
Cäcilias Herz klopfte, als sie Josefa nachsah, wie sie ins Arbeitszimmer lief, um mit der Oberin zu telefonieren. Dann ging Cäcilia in den Garten.
Das Gespräch mit Dirk dauerte eine Weile. Josefa verbarg sich hinter dem Vorhang im Wohnzimmer. Von dort aus sah sie, wie Cäcilia Dirk am Auto verabschiedete und er davonfuhr.
»Josi! Mein Madl! Wo bist du?«
»Hier im Wohnzimmer! Er ist fort! Kommt er auch wieder?«
»Ja, mein Liebes! Er kommt wieder. Ich habe ihn zum Kaffee eingeladen am nächsten Sonntag. Bis dorthin wird er wieder rauf auf die Berghütte gehen. Ich habe ihm gesagt, er soll jeden Abend beim ›Erkerchen‹ auf dich warten. Vielleicht möchtest du ihn ja dort besuchen? Das ›Erkerchen‹ ist ein wunderschöner Platz, und vor allem Verliebte treffen sich dort. Hier, die Blumen hat er dir mitgebracht. Die Vasen stehen im Küchenschrank unten links.«
»Danke, Mama! Ich werde sie schon finden!«
Josefa drückte die Blumen an ihr Herz. Sie atmete den Duft ein und freute sich über das erste Liebeszeichen von ihm.
*
Auf dem Weg zum Friedhof erzählte Josefa von ihrem Telefongespräch mit der Oberin.
»Sie hat sich sehr für mich gefreut. Sie sagte, dann seien ihre vielen Gebete für mich endlich in Erfüllung gegangen. Sie freut sich darauf, dich kennenzulernen. Sie kennt einen Rechtsanwalt und Notar für Familienrecht und Adoptionen. Sie gab mir die Adresse. Sie bot an, im Hintergrund etwas die Fäden zu ziehen, daß die Angelegenheit zügig bearbeitet wird. Ich soll, so bald wie möglich, mit dir kommen. Sie ist sehr neugierig auf dich!«
»Dann fahren wir gleich heute nachmittag! Wir wollen die hilfsbereite Oberin nicht warten lassen. Schließlich haben wir beide ihr unser kleines Familienglück zu verdanken.«
Für Cäcilia war es ein bewegender Augenblick, als sie mit Josefa am Grab ihres Mannes stand.
»Das ist die Josi! Ich werde sie zu unserer Tochter machen. Sie ist ein gutes, braves und kluges Kindl. Dir hätte sie auch gefallen. Daß ich hier stehe und ein bisserl weine, darüber mußt net traurig sein, mein Guter, wenn du von dort oben runterschaust. Es sind Freudentränen. Ich bin glücklich. Es hat eine neue wunderbare Zeit begonnen auf dem Draxel Hof.«
»Willst net auch etwas sagen?« fragte Zilli Josi.
Diese räusperte sich.
»Also, die Zilli ist eine liebe warmherzige Frau. Ich hab’ sie gleich in mein Herz geschlossen. Wir verstehen uns gut. Ich vertraue ihr und sie vertraut mir. Der Draxel Hof ist wunderbar und ich bin dankbar – aus tiefstem Herzen dankbar – für diese Heimat.«
Dann legten sie Blumen nieder und sprachen ein Gebet.
Auf dem Rückweg zündeten Josefa und Cäcilia in der Kirche zwei große Kerzen an. Pfarrer Zandler beobachtete sie von weitem. Er hielt sich aber zurück. Er sah, wie gut sich die beiden verstanden. Außerdem war er von der Oberin bereits informiert worden.
Arm in Arm gingen Cäcilia und Josefa über den Marktplatz und betraten den Andenken – und Trachtenladen Boller.
»Grüß dich, Zilli!« rief die Inhaberin. »Mei, schaust gut aus!«
»Grüß Gott, Veronika! Dazu habe ich auch allen Grund. Des ist meine Adoptivtochter Josefa.«
»Ach, was du net sagst? Des ist ja eine Überraschung! Des kann man kaum glauben, so ähnlich wie ihr euch seid.«
»Daß du nicht auf dumme Gedanken kommst, Veronika Boller! Ich kann mir schon denken, was du dir in deinem Hirnkasten denkst. Des Madl ist wirklich meine Adoptivtochter. Wenn du des net glauben willst, dann frage Pfarrer Zandler. Und jetzt will ich mein Kindl, mein liebes Madl, neu einkleiden. Also zeig mal, was du hast!«
Veronika Boller war ihre Bemerkung doch peinlich. Cäcilias scharfe Worte verfehlten nicht ihre Wirkung. Zilli, die sonst als liebe und ruhige Waldkogelerin bekannt war, zeigte die Zähne wie eine Tigerin, die ihr Junges verteidigt. Veronika Boller wußte, sie mußte sich in acht nehmen.
»Liebe Zilli! Was hast du dir denn für dein Madl vorgestellt?«
Zilli sprach sich leise mit Josi ab. Dann wählten die beiden aus. In der Umkleidekabine und auf der Ladentheke häuften sich bald die Kleidungsstücke. Josi kam gegen den Kaufrausch ihrer Mama nicht an. Sie gab schließlich nach, weil sie sah, wieviel Freude es Cäcilia machte. So probierte sie ein Dirndl nach dem anderen. Dazu kamen Wanderkleidung und einfache Landhausmode für den Alltag aus Jeansstoff mit Stickereien. Zilli fand, daß Josi das gut auf dem Hof tragen konnte. Aber das war nur der Anfang. Es kamen noch Pullover, Westen, Schuhe, Umschlagstücher und viele Kleinigkeiten dazu.
»So, das war es, Veronika! Packe alles zusammen. Dein Mann kann uns das zusammen mit der Rechnung auf den Hof bringen, so in einer Stunde. Wir haben noch etwas vor.«
Veronika nickte nur und hielt den beiden die Tür auf.
Draußen sagte Zilli zu Josi.
»Komm, laß dich anschauen! Fesch schaust aus. Der Jeansanzug im Landhausstil mit der rotblau karierten Bluse steht dir gut.«
»Ich mag das Material. Das läßt sich gut waschen, wenn mal ein Fleck darauf ist, was bei Landarbeit nicht ausbleibt. Wenn wir heute nachmittag die Oberin besuchen, möchte ich in meiner kleinen Wohnung vorbeifahren. Erstens sollst du sehen, wie ich gelebt habe. Dann will ich meine Gummistiefel holen. Die sind für den Stall ganz praktisch.«
»Das wird eine Überraschung für den Seppel sein«, lachte Zilli.
»Daran wird er sich gewöhnen müssen. Ich will richtig mit anpacken. Damit mir niemand etwas nachsagen kann und ich Bescheid weiß. Ich fühle mich zwar wie eine Prinzessin, aber es schadet nichts, wenn ich auch weiß, wie man die Erbsen sortiert.«
»Ich verstehe dich! Mußt aber nicht gleich übertreiben. Sollst dir erst mal eine schöne Zeit machen.«
Dann waren sie auch schon vor der Praxis der Tierärztin angekommen. Frau Dr. Brand kam von einem Hausbesuch. Sie stieg aus dem Auto.
»Grüß Gott, Doktorin! Des ist meine Adoptivtochter Josi! Sie meint, es wäre an der Zeit, daß wir wieder einen Hund auf dem Hof bekommen. Ich denke mir, daß du gute Verbindungen zu den Tierheimen aus der Umgebung hast. Wir würden gern einen Hund aus dem Heim nehmen.«
Beate Brand grüßte freundlich. Dann bat sie Zilli und Josi mit in die Praxis. Es war noch keine Sprechstunde. Die Veterinärmedizinerin führte sie in ihre Wohnung. Mitten im Wohnzimmer stand ein Hundekorb. Darin lagen zwei kleine Welpen.
»Die kannst haben, Bäuerin! Die Mutter mit den neugeborenen Hundewelpen wurden auf dem Parkplatz bei der Tankstelle in Marktwasen gefunden. Es waren fünf Welpen. Drei habe ich nicht retten können, die Mutter leider auch nicht. Sie war schwer verletzt. Ich habe sie erlösen müssen. Ich ziehe die Kleinen mit der Hand auf. Sie haben eine enge Bindung aneinander. Ich würde sie ungern auseinanderreißen. Die Rasse, die ist nicht genau zu bestimmen. Die Mutter war recht groß.«
Beate Brand holte zwei kleine Flaschen mit Milch. Josi griff mit der einen Hand nach einem der Welpen und mit der anderen nach der Flasche. Sie ließ das winzige Hundekind trinken.
»Du machst das wiklich sehr geschickt!«
»Ich bin Krankenschwester und habe eine Zusatzausbildung als Kinderschwester für Frühgeborene.«
»Ah! Das erklärt einiges! Nun, wie ist es?« wandte sich Beate an die Bäuerin.
Die schaute Josi an und sagte:
»Was meinst du, Josi? Wir können beide nehmen!«
Josefa strahlte und nickte eifrig.
Die Tierärztin sagte, sie könnten die Welpen in einer Woche abholen.
»Namen habe ich ihnen noch nicht geben. Die müßt ihr mir vorher sagen, dann kann ich sie in die Impfpapiere eintragen.«
»Da wird uns schon etwas einfallen, nicht wahr, Josi?«
»Bestimmt, Mama!«
Josi genoß es, das Wort »Mama« auszusprechen.
Cäcilia und Josefa blieben länger als vorgesehen bei der Tierärztin. Sie tranken noch eine Tasse Tee mit ihr. Dann fuhren sie heim auf den Draxel Hof. Cäcilia machte schnell das Mittagessen. Währenddessen räumte Josi die neuen Kleidungsstücke in ihren Schrank. Dabei überlegte sie, was sie am Nachmittag zum Besuch bei der Oberin anziehen würde. Es war ein ganz neues Leben für die junge Frau. Plötzlich wollte sie schön sein und hübsche Sachen tragen. Sie wollte gefallen. Dabei dachte sie auch an Dirk. Sie nahm sich vor, ihn bald zu sehen.
*
Nach dem Mittagessen telefonierte Josefa noch einmal mit der Oberin und kündigte an, daß sie mit Cäcilia kommen würde. Sie bat die Oberin um ihre Unterstützung bei der juristischen Abwicklung der Adoption. Die Oberin versprach, sofort alles in die Wege zu leiten.
Als Cäcilia und Josefa im Mutterhaus der Franziskanerinnen eintrafen, wurden sie sofort von der Oberin empfangen. Sie war nicht alleine. In ihrem Arbeitszimmer wartete der Familienanwalt und Notar. Er begrüßte die beiden Frauen freundlich. Dann legte er ihnen dar, wie die Adoption eines Erwachsenen nach dem Gesetz möglich war. Er hatte die Papiere bereits vorbereitet und mußte nur noch einige Daten von Cäcilia einsetzten.
Dann unterschrieben sie. Zuerst leistete Cäcilia ihre Unterschrift und dann Josefa.
Der Anwalt versprach, die Dokumente sofort an das zuständige Amt weiterzuleiten, damit baldigst die Urkunde ausgestellt werden konnte. Danach würde Josefa auch neue Personenpapiere erhalten und konnte sich dann offiziell Josefa Draxel nennen.
Die Oberin und der Anwalt sprachen ihre Glückwünsche aus. Es war ein bewegender Augenblick. Selbst die strenge Mutter Oberin bekam glänzend feuchte Augen.
»Ich wünsche euch beiden Gottes Segen und ein schönes Leben, voller gegenseitiger Achtung, Liebe, Harmonie und Sonnenschein an jedem Tag.«
Josefa bedankte sich auch für die liebevolle Fürsorge, die sie all die Jahre zuvor erfahren hatte.
Anschließend fuhren Cäcilia und Josefa in Josis kleine Wohnung. Im nahegelegenen Supermarkt besorgten sie sich Bananenkisten und packten den größten Teil von Josefas Sachen ein. Cäcilias großer Geländewagen war voll. Sogar auf dem Dachgepäckträger türmten sich die Kisten.
Als sie fertig waren, reichte Cäcilia Josefa die Autoschlüssel.
»Du kannst fahren!«
»Soll ich wirklich? Ich habe zwar den Führerschein, bin aber schon lange nicht mehr gefahren und so ein großes Auto noch nie.«
»Das wird schon! Mußt ja nicht rasen.«
Josefa fuhr langsam, fast zu langsam. Aber sie ließ sich von den hupenden Fahrzeuge hinter ihr nicht aus der Ruhe bringen.
»Was machen die für ein Gezeter?« schimpfte die junge Frau. »Sie können doch überholen, wenn sie wollen.«
Die Landstraße nach Waldkogel war sehr kurvenreich. Es gab nur ein gerades Stück, auf dem man überholen konnte. Dort schoß ein Auto an ihnen vorbei. Es war ein grüner, etwas kleinerer Geländewagen. Josi warf einen Seitenblick in Richtung des Fahrers. Ihr Herz blieb fast stehen.
Er hatte sie auch erkannt. Er gab Gas, brauste ein Stück voraus und hielt dann an. Er sprang aus dem Auto und stellte sich mitten auf die Straße. Er breitete die Arme aus. Josefa war gezwungen zu halten. Sie sprang auch aus dem Auto.
»Dirk, was soll das? Willst du, daß ich es bin, die jetzt in den Graben fährt?«
Dirk Hansen strahlte sie an.
»Nicht unbedingt! Aber dann hätte ich Gelegenheit, dich zu retten! Ein reizvoller Gedanke.«
Er ging einfach auf sie zu und schloß sie in die Arme.
Josefa wußte im ersten Augenblick nicht, wie ihr geschah. Doch dann wehrte sie sich nicht mehr. Sie fühlte Dirks starke Arme. Sie fühlte seine warmen Lippen auf den ihren, wie er sie zärtlich küßte. Die Welt um sie herum versank. Es gab nur noch sie und ihn.
»Glücklich?« flüsterte er leise.
»Ja, glücklich!«
Josefa sah ihm in die Augen und las darin wie in einem Buch.
»Ich dachte, du bist auf der Berghütte.«
»Ich war in Kirchwalden und habe einen ganz besonderen Einkauf getätigt. Außerdem habe ich den Leihwagen zurückgegeben und mir diesen kleineren Geländewagen gekauft. Der ist besser für die Berge.«
Dirk schaute sie zärtlich an und drückte ihr erneut einen Kuß auf die Lippen.
»Ich war auf dem Weg zum Draxel Hof! Ich konnte nicht mehr warten. Ich mußte dich sehen! Ich muß dir etwas sagen! Josi, ich liebe dich! Ich liebe dich! Du bist meine große Liebe.«
»Dirk, ich bin ebenso in dich verliebt!«
Josefa griff sich an die Brust. Ihr Herz klopfte. Sie suchte nach Worten.
»Ich freue mich, daß du mir nicht böse bist, daß ich dich heute morgen nicht sehen wollte.«
Dirk legte seinen Finger auf ihre Lippen.
»Psst! Ich weiß alles. Zilli hat mit mir geredet. Es war ein großer Tag für dich!«
»Ja, das war er wirklich! Ich habe jetzt eine Heimat, ein wirkliches Heim, ein wunderschönes Zuhause. Darauf habe ich mein ganzes Leben hin gefiebert. Ich suchte einen Platz, wo ich Wurzeln schlagen kann. Den habe ich jetzt gefunden. Ich bin glücklich und Zilli – ich meine Mama – ist auch glücklich.«
Sie standen mitten auf der Straße. Die Autos hielten in beiden Richtungen. Ein Autofahrer stieg aus und schrie:
»Madl, jetzt sag ihm schon, daß du ihn willst. Sonst blockiert der liebestolle Kerl noch Stunden die Straße.«
Josefa und Dirk mußten lachen.
Dirk nahm Josi bei der Hand, sie traten zur Seite. Dann gingen sie zu Zilli.
»Grüß Gott, Dirk! So schnell sieht man sich wieder. Kommst mit zum Draxel Hof. Des Auto ist voll mit Josis Sachen. Da brauchen wir einen starken Mann, der zupacken tut«, blinzelte Cäcilia Dirk an. »Den Weg kennst du ja! Ich setze mich hier ans Steuer. Die Josi kann mit dir fahren. Schau dir des Madl an! Die kann jetzt net hinter das Steuer. Die ist viel zu trunken vor Glück!«
Dirk hob Josefa hoch und trug sie zu seinem Auto. Cäcilia sah ihnen nach und schmunzelte. Sie rutschte vom Beifahrersitz auf den Fahrersitz. Bevor sie losfuhr und Dirk folgte, schaute sie hinauf zum Gipfel des »Engelssteigs«.
»Also, da mutete ihr mir ein bisserl viel zu, liebe Engel. Es schaut so aus, als würde ich an einem Tag Mutter und gleich noch eine zukünftige Schwiegermutter.«
Dann fuhr sie los.
Als sie auf dem Draxel Hof ankam, sie war langsam gefahren, standen Josefa und Dirk neben dem Auto und küßten sich. Cäcilia lächelte und freute sich an Josefas Glück. Dann kommt doch bald eine neue Generation auf den Draxel Hof, hoffte sie.
Die nächsten Stunden verbrachte Josi mit Auspacken und Einräumen ihrer Sachen. Dirk half ihr dabei. Josefa mußte oft über ihn lachen. Er war nicht sehr geschickt.
Doch schließlich war alles geschafft. Die beiden gingen nach unten in die Küche. Es war Zeit für das Abendbrot. Cäcilia hatte den Tisch gedeckt. Durch die offenen Fenster drang das Angelusläuten und rief die Menschen zum Tisch.
Die Draxelbäuerin faltete die Hände und sprach das Tischgebet. Dann schlug sie das Kreuzzeichen. Sie aßen.
»Wirst du lange Urlaub machen, Dirk?« fragte die Bäuerin.
»Mein Vater hat mir angeboten, daß ich mir ein Jahr Zeit nehmen könnte.«
Dirk erzählte von seiner Familie und dem Unternehmen. Er sprach liebevoll von seiner Schwester Viola. Josi und Cäcilia hörten aufmerksam zu, wie er davon sprach, daß er in den Bergen bleiben wollte.
»Ich suche mir eine kleine Wohnung!« merkte er an.
Josi neigte ihr Gesicht zu Cäcilias Ohr und flüsterte ihr etwas zu.
»Ja, wenn du des willst, Madl, dann können wir des so machen. Des liegt bei dir. Du bist jetzt meine Tochter und kannst mitentscheiden. Also, ich habe nichts dagegen.«
Josi errötete.
»Wir haben hier auch Zimmer! Der Altenteil steht leer. Er hat sogar einen eigenen Eingang. Cäcilia – meine Mama – und ich denken, daß du dir die Räume ansehen kannst. Sie sind sehr einfach. So etwas wirst du nicht gewöhnt sein.«
»Das macht mir nichts aus. Daß ich ständig in deiner Nähe bin, das wiegt alles auf. Dafür würde ich sogar auf dem Fußboden schlafen.«
Josi errötete.
»Bist du dir ganz sicher, daß du wirklich ein ganzes Jahr bleiben kannst?«
»Ja! Bei meinem Vater ist ein Wort auch ein Wort, genau wie hier in den Bergen. Und danach, das muß ich erst regeln. Aber darüber kann ich mit meinen Eltern reden, wenn ich meine Sachen hole. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst, Josi. Dann lernst du sie alle kennen. Ich will bald fahren. Wann paßt es dir?«
Zuerst wechselte Josi Blicke mit Cäcilia, dann schüttelte sie den Kopf.
»Langsam, langsam, Dirk!«
»Ich dachte, du liebst mich?«
Josi schaute Dirk mit großen Augen an.
»Ja, Dirk! Ich bin in dich verliebt! Aber ich bin erst hier auf dem Draxel Hof angekommen, in meiner neuen Heimat. Da will ich hier bleiben. Ich habe mich immer nach einer Heimat gesehnt. Ich will hier Wurzeln schlagen!«
Josi griff über den Tisch und streichelte Dirks Hand.
»Dirk! Du hast mir – uns, von deiner Familie, von deinem Leben erzählt. Ich danke dir für deine Offenheit, deine Ehrlichkeit. Du hattest wohl immer eine dich wohlbehütende Familie. Trotzdem bist du immer auf der Suche gewesen. Du weißt für dich noch nicht, wohin der Weg dich führt. Ich achte und ehre deinen Familiensinn. Ich finde es großartig, wie du nach dem Unfalltod deines Bruders dich eingebracht hast. Doch ich habe auch die Untertöne gehört. Irgendwie denke ich, daß du jetzt selbst für dich auf der Suche bist. Für mich ist die Suche abgeschlossen. Alles, was ich gesucht habe, habe ich gefunden, hier auf dem wunderbaren Draxel Hof. So wie du Verantwortung fühlst für deine Familie
und das Familienunternehmen, so fühle ich auch Verantwortung und darüber hinaus eine tiefe, eine
sehr tiefe Dankbarkeit. Sie ist für mich Verpflichtung und Aufgabe. Ich weiß, was ich will. Du bist noch
auf der Suche. Deine Familie weiß, daß du ein Suchender bist. Also nimm dir das Jahr und finde heraus, was du aus deinem Leben machen willst. Wie und wo du es leben willst!«
Josefa war ein kluge junge Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand, das wurde Cäcilia bewußt, während sie Josefas Worten lauschte. Ich habe eine gute Wahl getroffen. Das Madl wird mich nicht enttäuschen. Sie ist verliebt in Dirk. Doch sie behält einen kühlen Kopf. Sie schätzt ihn richtig ein. Will ihm sagen, daß es zu früh ist. Erst muß er wirklich herausfinden, wie er seine Träume und seine Verpflichtungen mit der Liebe zu ihr vereinbart. Die Draxelbäuerin war sich der Untertöne bewußt. Josi sagte Dirk im Grunde, daß hier ihre Heimat ist und sie nur hier leben will. Das ist das Wichtigste. Ja, das ist hart für den verliebten Burschen. Aber sehr klug von Josefa.
Dirk sah Josefa lange an. Er griff in die Hosentasche.
»Ich will dir zeigen, was ich in Kirchwalden eingekauft habe!«
Er öffnete die kleine rote Schachtel mit der Aufschrift des Juweliers. Darin war ein Ring.
»Den möchte ich dir schenken, Josi! Ich will dir damit sagen, daß ich dich liebe und immer mit dir zusammen sein will.«
Dirk sah Josi erwartungsvoll an. Sie betrachtet den Ring mit dem großen glitzernden Stein.
»Das ist ein schöner Ring!« seufzte Josefa. »Ich freue mich über deine ehrenvolle Absicht, Dirk. Doch unsere Leben sind so verschieden. Es wäre sehr übereilt, wenn ich ihn annehmen würde. Ich gehöre hierher, du bist in Hamburg daheim. Das ist weit.«
»Die Anna ist auch aus Hamburg und hat mit dem Toni ihr Glück gefunden. Anna ist eine richtige Berglerin geworden. Die beiden haben mir ihre Geschichte erzählt. Was ihnen gelungen ist, das muß uns doch auch gelingen, oder?«
»Die Chance besteht!« Josefa lächelte verlegen. »Dirk! Ich habe mir im Leben oft Hoffnungen gemacht und alles in rosaroten Farben gesehen. Dann platzten meine Träume wie Seifenblasen. Zum ersten Mal habe ich wirklich festen Boden unter den Füßen. Dirk, ich mag dich wirklich! Ich bin verliebt in dich! Du gefällst mir!«
Josefa betrachtete den Ring. Sie sah Dirk die Enttäuschung an. Cäcilia hielt den Atem an. Sie sprach Josi an:
»Madl! Mein liebes Kindl! Darf ich dir einen Rat geben?«
»Gern, Mama!« rief Josi erleichtert aus.
»Josi, mein Kindl! Wie wäre es mit einem Kompromiß? In einer Ehe muß man immer wieder Zugeständnisse machen und dem anderen auf halbem Weg entgegenkommen. Wie wäre es, wenn du Dirk schon jetzt auf halbem Weg entgegenkommst?«
»Wie soll das geschehen?«
Cäcilia drückte mit dem Finger auf den Deckel der kleinen Schachtel. Sie schloß sie und schob sie Josefa hin.
»Der halbe Weg, der könnte so aussehen: Du nimmst den Ring als Antrag an. Du trägst ihn aber nicht. Du bewahrst ihn nur auf. Der Ring ist und bleibt ein Zeichen Dirks Liebe zu dir. Wenn du, wenn dein Herz dir sagt, jetzt ist die Zeit gekommen, dann trägst du ihn.«
Die Draxelbäuerin wandte sich an Dirk:
»Kannst du damit leben?«
»Das kann ich! Das ist zwar nicht das, was ich mir erhofft habe, wovon ich geträumt habe, aber es ist ein guter Plan. Ich sehe ein, daß das alles etwas viel für Josi war. Erst du und die Adoption, dann ich mit meinem Antrag. Sie hat auch recht. Erst muß ich entscheiden, wie mein Leben nach dem Sabbatjahr aussehen wird.«
Dirk schob Josi die kleine Schachtel zu.
»Nimm sie! Bitte!«
Josefa griff danach.
»Danke, Dirk! Es ist ein wunderschöner Ring! Ich werde ihn gut verwahren.«
Josefa steckte die kleine Schachtel mit dem Ring in die Schürzentasche ihres Dirndl.
»So, dann wäre ja für den Anfang alles geklärt«, bemerkte Cäcilia erleichtert. »Es wird zwar möglicherweise etwas Gerede geben im Dorf, wenn du hier den Altenteil bewohnst und ihr gesehen werdet. Aber damit kann ich gut leben. Zum Glück haben sich die Zeiten diesbezüglich geändert. Die jungen Madln und Burschen können sich so schon vor der Ehe besser kennenlernen. Auch wenn das vielleicht von einigen immer noch als Sünd’ und Schand’ gesehen wird. Bei aller Tradition bin ich der Meinung, daß in dem einen und dem anderen Fall auch eini-
gen Kummer und Leid erspart bleiben.«
Cäcilia stand auf. Sie begann, den Tisch abzuräumen. Josi wollte ihr helfen. Damit war die Draxelbäuerin nicht einverstanden. Sie schickte Josi fort. Sie sollte Dirk den Altenteil zeigen und mit ihm über den Hof gehen.
»Und vergiß den Garten nicht!« rief sie Josi nach. »Dort ist es sehr romantisch, besonders wenn die Sterne am Himmel stehen. Laßt euch Zeit. Ich werde früh schlafen gehen.«
Dirk ergriff Josis Hand.
»Schön, endlich mit dir alleine zu sein! Trotzdem möchte ich dir sagen, daß Cäcilia eine wunderbare Frau ist. Sie wird dir bestimmt eine gütige und kluge Mutter sein. Sie ist weise.«
»Ja, das ist sie! Sie ist ein richtiges Vorbild für mich!«
Dann führte Josi, als Tochter vom Draxel Hof, Dirk überall herum. Sie zeigte ihm den Altenteil, die Ställe und die Tiere. Sie besuchten die beiden Pferde, die auf der Weide standen und gingen zum Schluß in den Garten.
Dort verbrachten sie die halbe Nacht mit zärtlichen und innigen Küssen. Ihre Herzen kamen sich dabei immer näher. Josi spürte immer mehr, daß sie zu ihm gehörte und es ihre Aufgabe war, ihm zu folgen, wohin er auch ging. Doch das war Josis Konflikt. Sie war hin- und hergerissen zwischen ihrer Heimat mit Cäcilia und der Liebe zu Dirk.
Der Mond stand groß und silbern am Nachthimmel. Um ihn herum leuchteten die Sterne so hell wie nie. Ein lauer Wind wehte von den Bergen herunter. Dirk hatte seinen Arm um Josi gelegt. Sie barg ihren Kopf an seiner Schulter.
»Josi! Es ist Zeit! Ich will zurück in die Pension. Ich brauche noch einige Stunden Schlaf. Ich will morgen für einige Tage meinen Aufenthalt hier unterbrechen. Ich sehe ein, daß du nicht gleich mit zu meiner Familie willst. Aber mich drängt es, mit ihnen über dich zu reden.«
»Das verstehe ich, Liebster! Grü-ße sie von mir herzlich! Und komme bald zurück.«
»Das werde ich! Ich werde dich auch so oft anrufen, wie es geht. Ich verspreche dir, daß ich mich beeile. Aber ursprünglich wollte ich nur eine Woche bleiben. Doch jetzt nehme ich Vaters Angebot gerne an und bleibe ein Jahr. Doch ich muß dafür noch einiges in der Firma regeln. Viola wird meine Aufgaben übernehmen. Da will ich ihr selbst die Aufgaben übergeben.«
»Das verstehe ich doch! Mir wird es hier auch nicht langweilig werden. Ich habe nie auf einem Hof gelebt. Schließlich gehört der Draxel Hof eines Tages mir. Ich werde viel lernen müssen, sehr viel, und das in ganz kurzer Zeit. Kinder, die auf einem Hof aufwachsen, die haben es da leichter. Sie wachsen mit den Jahren langsam hinein. Ich will und muß das in kurzer Zeit schaffen.«
»Das wirst du! Außerdem bist du nicht alleine. Cäcilia hilft dir. Ich komme auch bald wieder und bin dann jeden Tag an deiner Seite. Ich verstehe auch nichts von Landwirtschaft. Zusammen werden wir es schaffen.«
Dirk nahm sie zum Abschied noch einmal fest in den Arm. Sie küßten sich innig und voller Hingabe, Zärtlichkeit und Leidenschaft. Dann gingen sie zusammen zu Dirks Auto. Josefa sah dem Wagen nach, bis sie ihn in der Dunkelheit der Nacht nicht mehr erkennen konnte.
Gedankenversunken ging sie die Stufen hinauf. Die Tür zu Cäcilias Schlafzimmer stand offen. Eine Lampe wurde angeknipst. Der Schein fiel durch den Spalt auf den Flur.
Josefa drückte leicht die Tür auf.
»Kannst du nicht schlafen, Ma-ma?«
Die Bäuerin lachte.
»Auch für mich ist die Situation neu. Ich werde morgen mit Meta Baumberger plaudern. Ich will wissen, ob sie auch unter Schlaflosigkeit litt, als Tonis jüngere Schwester Maria sich verliebt hatte. Kannst mich ruhig auslachen, Josi!«
»Ich lache dich nicht aus! Vielleicht habe ich eines Tages auch Kinder. Wenn die sich verlieben, dann werden wir wohl beide wachliegen und uns Gedanken machen.«
Sie lachten herzlich.
»Dann mußt du dich mit dem Kinderkriegen beeilen. Ich werde fünfzig Jahre!«
»Nun hab’ dich nicht so mit deinem Alter! Da muß ich dich mal tadeln. Du machst mir richtig Angst. Du hast seit heute eine junge Tochter. Also bist du eine junge Mutter! Basta!«
Cäcilia lachte laut.
»Bist mir schon ein robustes Madl! Aber wenn du recht hast, dann hast du recht. Ich werde mich danach richten! Ist Dirk zu den Baumbergers gefahren?«
»Ja! Er will morgen nach Hamburg und dort Verschiedenes regeln. Er wollte ja eigentlich nur eine Woche bleiben. Er übergibt seiner jüngeren Schwester sein Aufgabenfeld.«
Josi gähnte.
»Mama! Ich bin sehr glücklich! Das war der ereignisreichste Tag in meinem Leben! Ich sehne mich nach meinem Bett! Gute Nacht!«
»Gute Nacht, mein Kindl!«
Josi trat ans Bett ihrer Mutter und gab ihr einen Kuß auf die Wange.
»Dir auch eine gute Nacht, Ma-ma!«
Dann ging Josi in ihr Zimmer. Kaum, daß sie sich in die Federn gekuschelt hatte, war sie auch schon eingeschlafen. Sie träumte von Dirk, wie sie mit ihm im Garten unter dem Sternenhimmel saß und sie sich küßten. Josi lächelte glücklich im Schlaf. Sie bekam nicht mit, daß Cäcilia noch einmal nach ihr sah. Erst danach fand Zilli den erholsamen Schlaf. Sie träumte von ihrem Mann und von Josi.
*
Dirk schlief doch dann etwas länger, als er geplant hatte. Es war ein glücklicher tiefer Schlaf gewesen. Im Traum war er mit Josi den Pfad zur Berghütte hinaufgewandert.
Dirk überlegte, ob es sinnvoll wäre, seine Lieben daheim über sein Kommen zu verständigen. Er entschied, es nicht zu tun. Er konnte sich die Fragen denken, die sie ihm am Telefon stellen würden.
Warum willst du schon zurück?
Gefällt es dir in den Bergen nicht?
Warum bleibst du nicht wenigstens bis zum nächsten Wochenende?
Wenn es dir in Waldkogel nicht gefällt, warum suchst du dir dann nicht einen anderen Ort in den Bergen?
Dirk wollte in die Gesichter seiner Familie sehen, wenn er ihnen sagte, daß es große Veränderungen in seinem Leben gibt. Den ganzen Weg von den Bergen bis nach Hamburg überlegte Dirk, wie er es in Worte fassen sollte. Sie werden überrascht sein, sehr überrascht, malte er sich aus. Er dachte immer wieder daran, daß sein Vater ihm gesagt hatte, daß das Unternehmen nicht das Wichtigste im Leben sei, es habe ihn glücklich gemacht, sei seine Lebensaufgabe neben der eigenen Familie gewesen. Aber aufdrängen wollte er es keinem von seinen Kindern. Dirk überlegte, wie er sich fühlen würde, wenn sein Vater die Firma verkaufte. Bei dieser Vorstellung wurde ihm klar, daß auch er Wurzeln hatte. Je mehr er darüber nachdachte, desto besser verstand er Cäcilia und Josi, die mit jeder Faser ihres Herzens am Hof hing.
Dirk steckte in einem Konflikt. Er erinnerte sich daran, daß es ein altes Sprichwort gab:
Man kann einen Kuchen nicht essen und gleichzeitig behalten!
Tief in seinem Herzen wußte er, daß Josi es sehr schwerfallen würde, mit ihm nach Hamburg zu kommen. Außerdem bin ich meinem Traum von einem Leben in der freien Natur, in den Bergen, näher als jemals zuvor. Er war sich sicher, daß er auch in Kirchwalden eine Arbeit finden würde, die er nebenbei ausüben könnte, vielleicht eine freie Tätigkeit als Unternehmensberater für Landwirte. Er könnte sich die Zeit frei einteilen, Josi auf dem Hof unterstützen und mit ihr in die Berge gehen. Dirk malte sich es schön aus. Doch er spürte das starke Band, das ihn an Hamburg und seine bisherige Aufgabe fesselte.
Immer wieder mußte er an Josi denken. Sie muß es gespürt haben. Sie hat tief in mein Herz gesehen. Sie muß geahnt haben, daß ich noch nicht endgültig mit meinem Leben abgeschlossen habe. Auf dem Weg nach Hamburg legte er mehrmals eine Rast ein. Er nutzte die Pausen, um auf dem Draxel Hof anzurufen. Beim ersten Mal erreichte er nur Cäcilia. Er war froh, als er später ausführlich mit Josi sprechen konnte. Sie war fröhlich und lachte viel. Den ganzen Tag würden sich die Neugierigen die Klinke in die Hand geben, erzählte sie. Wahrscheinlich hatte Veronika Boller geplaudert. So war schnell bekannt geworden, daß es Nachwuchs auf dem Draxel Hof gegeben hat, wie Josi es lachend ausdrückte.
»Sie gaffen mich an, als sei ich ein seltenes Tier. Freundlich sind sie schon. Aber ich bin froh, wenn es vorbei ist. Mama springt in die Bresche, wenn die Frauen besonders aufdringlich werden. Sie wissen alle, wie vermögend der Draxel Hof ist und ich eine sehr gute Partie bin. Jede Mutter, die noch einen unverheirateten Buben daheim hat, will mich einladen. Mama sagt, ich soll die Anspielungen mit Fassung tragen. Das gehört nun einmal dazu.«
»Hauptsache, du vergißt mich nicht!«
»Dirk! Wie kannst du so etwas sagen! Ich freue mich schon, wenn du kommst und in den Altenteil einziehst. Übrigens, die Mama sagte jetzt Einliegerwohnung dazu.«
»Ich komme bald! Ich rufe dich heute abend noch einmal an. Es kann aber spät werden, sehr spät. Hoffentlich wecke ich dich nicht.«
»Mama hat mich eingeladen. Wir fahren nach Kirchwalden und gehen dort zu einer Aufführung der Volksbühne. Es soll ein lustiger Bauernschwank sein. Da wird es sicherlich spät werden, bis wir zurück sind. Wenn du mich nicht erreichst, dann kannst du ja auf Band sprechen.«
»Das mache ich, meine Liebste! Ich liebe dich, Josi!«
»Ich liebe dich, Dirk!«
»Kuß!«
»Ja, Dirk! Viele Küsse!«
Sie legten auf.
*
Es schon fast dunkel, als Dirk in Hamburg ankam. Die Einfahrt seines Elternhauses war zugeparkt. Es war Violas Auto. Dirk suchte sich einen Parkplatz. Er ärgerte sich nicht, ganz im Gegenteil. Dirk freute sich, daß seine Schwester auch da war. Dann kann ich gleich mit allen reden.
Dirk schulterte seinen Rucksack. Der Kies der Einfahrt knirschte leise unter seinen Füßen. Niemand hörte, wie er geräuschlos die Haustür aufschloß. Aus dem Wohnzimmer drang fröhliches Stimmengewirr. Dirk schlich lautlos die Treppe hinauf in seine Zimmer. Er stellte sich erst einmal unter die Dusche. Dann zog er sich an. Er griff zu seinem Handy und rief seinen Vater an.
Eine Etage tiefer nahm Dr. Ingo Hansen das Gespräch an.
»Schön, daß du dich meldest, Dirk. Wir sitzen hier zusammen und feiern. Es gibt große Neuigkeiten. Aber die soll dir deine Schwester selbst erzählen! Sie hat dich schon mehrmals vergeblich auf der Berghütte angerufen. Dein Handy war ausgeschaltet. Warte, Dirk! Ich reiche dich an Viola weiter!«
»Stop, Vater! Das wird nicht nötig sein! Ich bin unterwegs zu euch. Ich bin sofort bei euch! Bis dann!«
»Aufgelegt! Dirk sagt, er wäre gleich hier?«
Dann hörten sie ihn auch schon, wie er die Treppe herunterkam.
»Du bist schon hier, Dirk? Seit wann? Wir haben dich nicht kommen gehört.«
Dirk ging auf seine Mutter zu und grüßte sie herzlich.
»Ja, das glaube ich gerne. Ihr seid laut am Feiern gewesen. Was gibt es?«
Viola sprang auf. »Das ist doch ein Komplott! Wer von euch beiden hat Dirk angerufen? Du, Mutter? Du, Vater? Ihr habt versprochen, es nicht zu tun, wolltet es mir überlassen. Schaut! Jetzt ist genau das eingetreten, was ich vermutet habe: Dirk ist sofort gekommen.«
Dirk Hansen lachte.
»Mein Überraschungsbesuch hat nichts mit einem Anruf zu tun! Wenn du mit Toni oder Anna gesprochen hast, dann wirst du erfahren haben, daß ich unten in Waldkogel ein Zimmer genommen habe.«
»Stimmt! Dort habe ich auch angerufen. Diese Meta scheint mir ja eine ganz resolute Person zu sein. Sie gibt grundsätzlich keine Auskünfte über Gäste, sagte sie.«
»Wenn ich erst nächste Woche erfahren sollte, was es an so großen Neuigkeiten gibt, warum hast du mich angerufen?«
»Ach, ich weiß auch nicht. Ich hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, daß ich dich so bedrängt habe, in Urlaub zu fahren.«
Dirk schmunzelte. Er trat neben seine Schwester und legte den Arm um sie.
»Kleine Viola! Das war der beste Einfall, den du seit langem gehabt hast. Einfach genial. Ich danke dir, daß du nicht nachgegeben hast.«
»Hört, hört! Was ist denn mit dir passiert, Bruderherz!«
»Später! Verrät mir einer, was hier gefeiert wird?« Dirk schaute erwartungvoll in die Runde.
»Dirk, ich bin schwanger! Wir werden Eltern! Du wirst Onkel und die Eltern Großeltern! Ist das nicht wunderbar? Schau hier! Das erste Bild!« strahlte Viola.
Sie wühlte in ihrer Handtasche und zog ein Ultraschallbild hervor.
»Meine Glückwünsche, liebe Viola! Dir auch!«
Dirk schüttelte dem angehenden Vater die Hand. Dann erfuhr Dirk von der Hochzeit der beiden, die jetzt natürlich vorgezogen wurde.
Dirk holte sich einen Drink! Er kippte erst einmal einen Cognac hinunter. Dann schenkte er sich einen zweiten ein. Er setzte sich in einen der großen Sessel und schaute in das Glas.
»Junge, was ist mit dir?« fragte sein Vater mit Besorgnis in der Stimme. »Du siehst so erschüttert aus!«
Dirk rieb sich die Stirn.
»Ich wollte euch auch etwas sagen, nämlich, daß ich das Angebot, ein Sabbatjahr zu machen, gerne annehmen würde. Aber jetzt, da Viola schwanger ist, ist das nicht machbar. Ich denke darüber nach, wie ich es machen könnte, um trotzdem viel Zeit in den Bergen zu verbringen.«
»He, Bruder! Eine Schwangerschaft ist doch keine Krankheit! Ich werde natürlich weiterarbeiten. Du nimmst dein Jahr Auszeit. Da dulde ich keinen Widerspruch. Jetzt ist das doch noch gut zu machen. Wenn das Baby da ist, dann bleibe ich daheim und du kannst mich vertreten. Das ist doch ein perfekter Zeitplan.«
Dirk trank einen Schluck Cognac. Er antwortete nicht. Er dachte nach.
»Nun sage etwas, Dirk!« forderte ihn seine Mutter auf. »Ich finde den Vorschlag von Viola gut.«
»Normalerweise wäre das auch ein guter Plan. Aber das hängt nicht nur von mir ab.«
»Also, ich stimme Viola zu!« warf Dirks Vater ein.
»Das meine ich nicht, Vater!«
Viola, ihre Eltern und ihr Verlobter schauten sich fragend an.
»So, Dirk! Jetzt laß das Katz- und Mausspiel. Sage, was du sagen mußt«, forderte sein Vater.
»Ja, einen Augenblick! Ich überlege, wie ich es anfangen soll. Es gibt da so eine Frage: Was soll verkündet werden? Das Gute oder das Schlechte zuerst? Jetzt muß ich sortieren.«
Dirk trank wieder einen Schluck.
»Ich will es in einem Satz zusammenfassen. Also!«
Dirk Hansen holte Luft. Er schaute seinen Vater an, als er sagte:
»Ich bin hergekommen, weil ich euch sagen wollte, daß ich aus persönlichen Gründen ein Jahr aussetzen will und es mir am liebsten wäre, wenn es eine Möglichkeit gäbe, daß ich auch danach nicht mehr in die Firma zurückkehre. Ja, ich wollte aufhören! Doch jetzt ist alles anders!«
Alle starrten Dirk an.
»Aber, Junge, warum? Was gibt es für einen Grund? Du bist erst wenige Tage fortgewesen. Bist du dir ganz sicher, daß du dein Leben…«
»Mutter!« unterbrach sie Dirk. »Mutter! Ja, es gibt einen Grund. Sie ist Mitte zwanzig, hat schwarze lange Haare, große blaue Augen und heißt Josefa. Gerufen wird sie Josi. Ich liebe sie! Sie lebt auf dem Draxel Hof. Sie will dort bleiben. So bleiben für mich nur zwei Möglichkeiten. Entweder – ich baue mir ein Leben in den Bergen auf oder – ich verzichte auf Josi!«
Es war still im Wohnzimmer der Hansenschen Villa. Nur das Knistern des Kaminfeuers war zu hören, das an diesem etwas kühlen Abend brannte.
»Das ist wirklich eine Überraschung! Eine noch größere Überraschung als die Tatsache, daß ich schwanger bin! Mein sachlicher, außen oft wie ein Eisberg wirkender Bruder, hat sich verliebt in ein Mädchen vom Lande, in ein Mädel aus den Bergen. Erzähle!«
»Das heißt nicht Mädel! Das heißt Madl!« korrigierte sie Dirk.
»Gleich wie! Erzähle! Dich muß es ja mächtig getroffen haben.«
»Ja, das hat es! Ich habe in ihre Augen gesehen und es gewußt. Ich will sie! Sie oder keine! Doch wie bringe ich ihr Leben und mein Leben unter einen Hut?«
Dirk erzählte seiner Familie alles. Vom ersten Zusammentreffen auf der Straße, als er in den Graben gefahren war, bis zum Abschied unter Sternen. Er berichtete von Cäcilia, die Josefa jetzt adoptierte. Er verschwieg auch Josis Herkunft nicht.
»Sicherlich ist Josi ganz anders, ebenso die Umstände. Vater, Mutter, ihr habt sicher damit gerechnet, daß ich einmal eine junge Frau aus guter Familie anbringe. Eine Wahl treffe, die der Familie Ehre machte, so wie Viola mit ihrem Bräutigam. Aber das kann ich nicht. Ich liebe Josi. Sie ist jetzt auch angesehen. Doch darum geht es nicht. Ich liebe sie! Ich kann nur hoffen, daß ich eine Lösung finde. Denn euch im Stich lassen, das will ich auch nicht.«
»Dirk, wenn du ganz aus der Firma ausscheiden willst, dann lege ich dir keine Steine in den Weg. Das habe ich dir schon gesagt.«
»Ich weiß, Vater! Aber ich habe das Gefühl, daß ich euch dann im Stich lasse.«
»Nein, das tust du nicht! Außerdem mußt du das nicht heute entscheiden. Das hat Zeit. Du nimmst dein Sabbatjahr, lebst in der Einliegerwohnung auf dem Draxel Hof. Du bist mit deiner Josi zusammen. Das ist doch wunderbar! Du wirst sie im Laufe des Jahres herbringen und wir werden dich besuchen. Sie wird uns kennenlernen und wir sie. Folge der Liebe, Dirk! Folge deinem Herzen! Die Liebe ist ein Kapital, das Zinsen bringt, die nie fallen. Sie steigen nur, sie fallen nie.«
»Das hast du schön gesagt, Vater! Ich danke dir! Es war auch alles etwas viel für Josi! Das Glück kam auf einmal von allen Seiten auf sie zu. Cäcilia adoptierte sie und ich gestand ihr meine Liebe.«
»Das Madl muß sehr robust sein! Und sehr vernünftig und bodenständig! Ohne daß ich sie gesehen habe, nur aus dem, was du erzählst, Dirk, sage ich dir Folgendes: Diese Josi kann es mit jeder jungen Frau aus sogenanntem guten Hause aufnehmen. Wenn sie sich für dich entscheidet, dann wird sie dir treu sein.«
»Das denke ich auch, Ingo!« stimmte ihm seine Frau zu.
Ingo Hansen trat neben seinen Sohn. Er legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Mein Junge! Ich freue mich für dich! Du fährst gleich morgen zurück zu deiner Liebsten. Deine Mutter wird dir die Fotoalben mitgeben. Dann kannst du ihr alles zeigen.«
»Das ist eine wunderbare Idee, Ingo!«
Frauke eilte kurz davon und holte drei dicke Fotobände.
Viola hatte einen guten Einfall. Sie klatschte in die Hände.
»Dirk, hole die digitale Videokamera! Wir drehen einen kleinen Film. Jetzt hier und sofort! Dann führst du ihn deiner Josi vor. Hurra, es lebe die moderne Technik. Ich habe mich immer gefragt, für was sie gut ist. Jetzt habe ich eine sinnvolle Anwendung gefunden.«
Viola drängte ihren Bruder. So stellte er im Wohnzimmer ein Stativ auf. Er schaltete die Kamera ein und sagte in die Linse:
»Liebe Josi! Ich habe meiner Familie von dir erzählt. Ich stelle sie dir jetzt vor. Das sind mein Vater, meine Mutter, meine Schwester, ihr Bräutigam und noch unsichtbar unter dem Herzen meiner Schwester das Baby, das die beiden erwarten.«
Dann sagte Dirks Vater einige Worte und ebenso seine Mutter. Beide betonten, wie sehr sie sich darauf freuten, Josi kennenzulernen.
Das dauerte Viola alles zu lange. Sie drängte sich vor:
»Also, liebe Josi! Ich will dich bald sehen. Ich habe da nämlich eine gute Idee. In einer Ehe muß man sich einigen, jeder dem anderen einen Schritt entgegenkommen. Vielleicht können wir diese Tradition auf die ganze Familie ausweiten. Damit meine ich dich und deine Mama! Ich denke mir das so! Dirk macht dieses Jahr frei und ist bei dir! Im nächsten Jahr mache ich frei. Dann könntet du und Dirk hier sein. Deine Mama bringst du natürlich mit. Außerdem hat mein Bräutigam ein Flugzeug. Wenn Cäcilia einmal schnell nach dem Hof sehen muß, dann fliegen wir sie kurz heim. Das war mein Vorschlag. Ich denke, er ist fair! Also, ich will mich nicht einmischen, es war nur ein Vorschlag. Dirk ist ein wunderbarer Bruder. Ich bin sicher, er wird dir ein guter Mann sein und ein wunderbarer Vater deiner Kinder. Ich werde die Babysachen, die das Kleine hier in meinem Bauch nicht mehr braucht, gleich für euch aufheben. Bis bald, liebe Josi!«
Dirk lachte. Er sprach noch einmal in die Kamera:
»So, Josi! Das war Viola, die Praktische! Sie hat sich selbst eingeführt. Sie sprudelt vor Ideen und die meisten sind ganz gut!«
Viola boxte ihrem Bruder in die Rippen.
»Da siehst du, wie es mir geht! So ist es, wenn man eine Schwester hat.«
Dann winkten alle in die Kamera. Schließlich schaltete Dirk ab.
»So, das ist erledigt! Gehen wir schlafen! Das war ein ereignisreicher Tag. Meine Tochter macht mich zum Großvater und Schwiegervater. Mein Junge ist verliebt.«
»Ja, es war ein wunderbarer Tag!« sagte Frauke leise. »Wir haben wunderbare Kinder.«
Viola und ihr Zukünftiger übernachteten auch in der Villa. Alle gingen schlafen. Dirk rief noch Josi an und wünschte ihr eine gute Nacht. Er versprach ihr, so schnell zu kommen, wie es möglich war.
*
Nachdem Dirk am nächsten Tag Viola sein Aufgabengebiet übergeben hatte, setzte er sich sofort ins Auto und fuhr zurück nach Waldkogel.
Es war schon dunkel, als er auf dem Hof hielt. Er sah, daß in der großen Wohnküche Licht brannte. Josi kam herausgelaufen und fiel ihm um den Hals. Dirk drückte sie fest an sich und küßte sie.
»Ich freue mich so, daß du wieder da bist!«
Josi bedeckte Dirks Gesicht mit Küssen.
»Ich habe dich so schrecklich vermißt. Ich ängstigte mich, daß du nicht mehr kommst.«
»Liebste Josi! Warum sollte ich nicht mehr kommen?«
»Weil… weil… weil ich nicht sofort deinen Ring angenommen ha-be.«
Dirk küßte Josi.
»Das stimmt. Du hast ihn nur zur Hälfte angenommen. Aber das verstehe ich. Du bist unsicher. Dein Leben war nicht leicht. Du sehntest dich immer nach Heimat und Familie. Bist oft enttäuscht worden. Immer und immer wieder wurden deine Träume zerschlagen. Jetzt hast du bei Cäcilia das gefunden, wonach du immer suchtest. Du bist im Konflikt gewesen, ob die Liebe von dir fordert, es wieder aufzugeben und mir nach Hamburg zu folgen. Das erschien dir als ein zu großes Opfer. Es machte dich unsicher. Ich liebe dich, Josi. Ich verstehe dich! Alles wird gut werden. Ich habe Grüße von meiner Familie im Gepäck. Sie sind sehr neugierig auf dich. Sie wollen dich bald kennenlernen.«
»Heißt das, daß du wieder zurück… und ich soll mitkommen?«
Dirk nahm Josi bei den Schultern und drehte sie um.
»Schau dir das Auto an, mit dem ich gekommen bin. Es ist ein Transporter aus unserer Firma. Ich habe mein Zimmer in Hamburg komplett ausgeräumt.«
»Heißt das, du willst für immer auf dem Draxel Hof bleiben?«
»Das heißt, ich habe mir ein ganzes Jahr freigenommen. Doch nun laß uns hineingehen und die Grüße meiner Eltern ansehen.«
Dirk schlug die Autotür zu, legte seinen Arm um Josi und führte sie ins Haus.
Auf der Eckbank in der Küche saß Cäcilia und strickte.
»Guten Abend, Zilli!«
»Grüß Gott, Dirk! Was bin ich froh, daß du zurück bist! Des war fast net auszuhalten mit dem Madl«, scherzte Zilli und blinzelte Dirk
zu.
»Das höre ich gerne! Zilli, ich soll dir auch Grüße von meinen Eltern, meiner ganzen Familie bestellen. Sie wollen dich bald kennenlernen.«
Dirk griff in seine Jackentasche und holte eine CD-Rom hervor.
»Darauf ist eine Botschaft! Können wir die gleich ansehen?«
Sie gingen ins Arbeitszimmer. Josi schaltete den Computer ein und lud die Datei. Cäcilias Büro war auf das Modernste ausgestattet. Dann spielte Josi die Datei ab. Dirk beobachtete sie dabei genau. Josis Augen strahlten. Ihre Wangen färbten sich rot.
»Du hast eine ganz liebe Familie, Dirk! Die sind wirklich herzig«, kommentierte Cäcilia.
Dirk nahm Josi bei den Händen.
»Josefa! Ich liebe dich! Du weißt jetzt, was dir ein Leben mit mir bringt. Ich frage dich! Willst du mich nehmen? Willst du meine Frau werden?«
Josis Herz klopfte bis zum Hals. Sie warf Cäcilia einen Seitenblick zu. Dirk sah es.
»Also, liebe Zilli! Vielleicht will Josi, weil sie nicht antwortet, daß ich dich um Erlaubnis frage? Ich bitte dich um die Hand deiner Tochter. Hast du was dagegen, daß ich die Josi zu meiner Frau machen will.«
»Ich habe nix dagegen. Aber des ist Josis Sache!«
Josi schaute Dirk in die Augen.
»Ich will deine Frau werden. Die Idee, daß wir hier und in Hamburg leben, das läßt sich irgendwie machen, denke ich. Aber ich will den Namen Draxel behalten – und wenn des juristisch machbar ist, dann muß eines unserer Kinder auch Draxel mit Familiennamen heißen.«
»Den Wunsch erfülle ich dir gerne. Dann wird aus Dirk Hansen – Dirk Draxel-Hansen. Damit habe ich kein Problem. Hauptsache, du wirst meine Frau und alle unsere Kinder können Draxel heißen, damit die Tradition auf dem Draxel Hof weitergeht.«
»Ich liebe dich, Dirk!« flüsterte Josi leise.
Sie griff in ihre Schürzentasche und holte die kleine Schmuckschachtel heraus. Sie hielt sie Dirk hin. Er holte den Verlobungsring heraus und steckte ihn Josi an den Finger. Dann küßten sie sich.
Cäcilia schnäuzte vor Rührung in ihr Taschentuch. Sie nahm Dirk in die Arme.
»Wie schön! Jetzt hab’ ich net nur ein Madl. Jetzt bekomme ich auch noch einen Bub!«
»Net weinen, Mama!« flehte Josi.
»Ich freue mich so. Des ist alles. Des sind Freudentränen, wirkliche Freudentränen.«
Sie gingen zurück in die Küche. Cäcilia holte eine Flasche mit Obstler aus dem Schrank. Sie schenkte ein. Dann tranken sie auf die Liebe und die Zukunft des Draxel Hofes.
Dirk rief seine Eltern an. Sie hatten ungeduldig auf seinen Anruf gewartet. Sie freuten sich an seinem Glück und sprachen Josi am Telefon ihre Glückwünsche aus. Cäcilia wechselte einige Worte mit ihnen und lud die ganze Familie Hansen zum nächsten Wochenende nach Waldkogel ein.
Dann räumten sie gemeinsam den Transporter aus. Sie trugen alles in den Altenteil. Dort würde Dirk bis zur baldigen Hochzeit wohnen. Den Rest der Nacht saßen Cäcilia, Josi und Dirk in der Küche und betrachteten die Fotoalben, die Dirks Mutter ihrem Sohn mitgegeben hatte. Draußen verdrängte das erste Morgenlicht die Nacht im Osten über den Bergen, als sie sich endlich entschlossen, schlafen zu gehen.
Cäcilia nahm ihr Kindl, wie sie Josi liebevoll nannte, zur Seite.
»Josi! Ich muß dich etwas fragen. Ich weiß nicht, ob man im Waisenhaus über den Brauch des Fensterlns gesprochen hat? Also, darauf wird hier in den Bergen schon ein bisserl Wert gelegt. Es gehört einfach dazu, wenn man verliebt ist. Des sollst wissen und daß ich heute nacht bestimmt einen tiefen Schlaf habe und nichts höre.«
Josi blinzelte ihrer Mama zu.
»Ich weiß Bescheid! Allerdings denke ich, daß der Dirk net zu mir raufsteigen muß. Ich kann auch zu ihm hinuntersteigen. Es scheint, daß die Frauen auch in der Familie den Ton angeben, wenn ich so an Viola denke. Der Dirk kommt aus Hamburg. Ich weiß nicht, ob es dort die Tradition des Fensterlns gibt. Da nehme ich mal lieber die Sache in die Hand.«
»Des ist recht so, Kindl!« schmunzelte Cäcilia und ging auf ihr Zimmer.
*
Die nächsten Tage bis zum Wochenende verbrachten Dirk und Josi auf der Berghütte. Sie machten lange Wanderungen und saßen engumschlungen unter dem Sternenhimmel beim »Erkerchen«.
Am Wochenende kamen Dirks Eltern, seine Schwester und ihr Bräutigam. Alle fanden sich sofort sympathisch. Ingo mußte immer wieder seinen Sohn ansehen, der so glücklich aussah wie seit Jahren nicht mehr.
Sie feierten im kleinen Kreis Verlobung. Nur Pfarrer Zandler und die Oberin waren noch eingeladen.
Zilli feierte ihren Geburtstag dann doch auf dem Draxel Hof. Denn Josi machte ihrer Mama ein wunderbares Geburtstagsgeschenk. Sie heiratete an diesem Tag ihren Dirk. Stolz verkündete Cäcilia auf dem Fest, daß sie bald Großmutter werden würde.
Ganz Waldkogel nahm Anteil an dem Glück auf dem Draxel Hof.
*
Viola bekam ein Mädchen. Dirk und Josi wurden bald darauf Eltern eines strammen Buben. Dirk bestand auf dem Namen Josef, zu Ehren seiner Mutter Josefa.
Cäcilia ging in ihrer Rolle als Großmutter auf. Sie verwöhnte den kleinen Stammhalter, wie sie nur konnte. Sie war so glücklich. In den folgenden Jahren wurden Dirk und Josi noch mehrmals Eltern. Sie bekamen noch zwei Mädchen und einen Jungen.
Wie Viola es geplant hatte, wechselten sich Dirk und sie in der Firma ihres Vaters ab. Jedesmal kam Cäcilia mit nach Hamburg. Seppel kümmerte sich mit seiner Frau derweilen um den Draxel Hof.
So war alles geregelt und sie führten ein glückliches Leben voller Liebe.