Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 2 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 24
ОглавлениеEs war früh am Morgen. Toni und Anna traten aus der Berghütte auf die Terrasse. Sie schauten hinauf zum Himmel.
»Mei, hängen die Wolken noch tief. Des war ja ein Unwetter heute nacht!«
Anna nickte ihrem Mann zu. Sie zog das Schultertuch enger. Anna fror. Sie war müde. Nach Mitternacht war ein Wettersturz über die Berge hereingebrochen. Keiner der Hüttengäste war schlafen gegangen. Gemeinsam hatten sie dem Regen, Sturm, Hagel, Blitz und Donner ge-lauscht. Stundenlang hatte das Unwetter über den Bergen gewütet.
»Der Hagel liegt hoch. Es wird bestimmt bis zum Mittag dauern, bis er getaut ist. Ich wecke die Kinder nicht. Sie waren ja auch die ganze Nacht wach. Dann sollen sie mal einen Schultag versäumen«, sagte Anna leise.
Toni legte einen Arm um seine liebe Frau.
»Ja, Basti und Franzi, die bleiben heute daheim. Des ist auch viel zu gefährlich, zur Oberländer Alm abzusteigen. Die Hagelkörner liegen stellenweise fast einen halben Meter hoch. Ich werde später meine Eltern anrufen und fragen, wie es drunten in Waldkogel ist.«
»Ja, mach das, Toni!«
In diesem Augenblick läutete Tonis Handy. Es war seine Mutter, Meta Baumberger, sie machte sich Sorgen.
»Mutter, mußt dich net sorgen. Wir haben keine Schäden. Es war eine stürmische Nacht. Die Kinder schlafen noch. Die bleiben heut’ hier!«
Toni erfuhr von seiner Mutter, daß auch in Waldkogel der Hagel sehr hoch lag und alle damit beschäftigt waren, die Straßen und Hofflächen frei zu räumen.
Alois kaum heraus.
»Mei, welch eine Pracht! Die Hagelkörner glitzern in der Morgensonne, als wären es lauter Bergkristalle. Schön ist des!«
»Guten Morgen, Alois! Bist net noch müde?«
»Naa, Anna! Ein bisserl geruht habe ich schon. Aber jetzt gehe ich erst mal um die Berghütte herum und schau, ob es Schäden gibt.«
Toni und Anna lächelten. Sie schauten sich kurz an, sagten aber nichts. Sie verstanden Alois. Obwohl er ihnen die Berghütte übergeben hatte, sorgte er sich darum. Es war eben seine Heimat. Sie sahen ihm nach, wie er auf seinen Gehstock gestützt langsam und vorsichtig durch den Hagel stapfte.
Anna war besorgt.
»Hoffentlich fällt er nicht. Wenn er sich etwas bricht, das wäre doppelt schlimm für ihn. Willst net mit ihm gehen, Toni?«
Toni schmunzelte.
»Des erlaubt er net. Kennst doch den Alois! Der kann ein richtiger Dickschädel sein. Er läßt sich doch nie helfen. Na ja, ich kann es verstehen. Komm, laß uns reingehen und des Frühstück machen. Es wird heute ruhig werden. Die meisten Hüttengäste, die schlafen bis zum Mittag. Da bin ich mir sicher. Wir richten auf einem Tisch in der Berghütte ein Büffet, da kann sich jeder sein Frühstück nehmen, dann ist’s gleich, wann sie aufstehen. Mittags machen wir einen Eintopf.«
»Ja, das machen wir! Ich backe Kuchen!«
»So machen wir es, meine liebe Hüttenwirtin!«
Toni legte den Arm um Annas Taille. Sie gingen hinein.
»Wo ist Bello?« fragte Toni.
Ihm fiel auf, daß er den jungen Neufundländerrüden noch nicht gesehen hatte. Das war merkwürdig.
»Der lag vorhin vor Franzis Bett«, sagte Anna.
»Der bewacht des kleine Madl!« schmunzelte Toni.
Der alte Alois kam in die Küche der Berghütte. Er setzte sich an den Tisch.
»Dem Himmel sei Dank! Es hat hier oben keine Schäden gegeben.«
Anna schenkte ihm einen starken Kaffee ein.
»Danke, Anna!«
Alois gab Sahne und Zucker dazu.
»Anna, wenn du des nächste Mal runter nach Waldkogel gehst, dann geh’ beim Pfarrer Zandler vorbei. Meine schwarze Kerze ist ganz runtergebrannt. Ich brauche eine neue gesegnete Kerze.«
»Das mache ich, Alois! Für uns bringe ich auch eine neue mit!«
Toni besah sich die schwarze Kerze auf der Fensterbank des Küchenfensters. Wie es in den Bergen üblich war, hatte Anna die Kerze angezündet. In allen Häusern brannten in dieser Nacht die Wetterkerzen, wie man sie auch nannte. Es war ein alter Brauch.
»Ich werde in der Kirche aus Dankbarkeit auch noch eine große Kerze stiften. Es war eine schlimme Nacht. Ich bin dankbar, daß nichts passiert ist«, sagte Anna leise.
Alois, Toni und Anna sahen sich kurz an. In der Nacht hatte niemand von seinen Ängsten gesprochen. Sie wollten die Hüttengäste nicht beunruhigen. Doch jetzt wußte jeder der drei, wie froh und dankbar jeder war, daß sie die Nacht so gut überstanden hatten.
»Anna, müssen wir heute nicht in die Schule?«
Sebastian stand im Schlafanzug in der Küchentür.
»Guten Morgen, Basti!« Anna trat zu ihm und streichelte dem Bub über das Haar.
»Nein! Ihr müßt heute nicht in die Schule. Der Hagel liegt zu hoch. Da wäre es zu gefährlich runterzugehen. Die Großmutter Meta hat auch schon angerufen. Drunten im Dorf schaut es auch so aus.«
Sebastian wollte laut jubeln. Anna hielt ihm den Mund zu.
»Pst! Wecke Franzi nicht! Die schläft noch! Franzi hatte große Angst heute nacht.«
»Die Franzi ist ein Madl! Und sie ist noch klein!«
»Nun tu net so, als hättest du
kein Herzklopfen gehabt, Basti! Bist bei jedem Blitz auch zusammengezuckt!«
Basti errötete bei Alois’ Worten.
»Ja, schon! Aber nur ein bisserl! Net so viel wie die Franzi!«
Toni schmunzelte. Er sah Basti an.
»Basti, ich denke, wir haben uns alle heut’ nacht ein bisserl gefürchtet. Es ist keine Schande, des zuzugeben. Aber jetzt ist des Unwetter vorbei. Draußen scheint die Sonne. Des wird ein schöner Tag werden.«
Basti gähnte.
»Schlaf noch ein bisserl, Basti!«
Basti nickte und ging in sein Kinderzimmer.
Toni und Anna setzten sich zu Alois an den Tisch. Sie frühstückten gemeinsam.
*
Die Sonne schien durch die großen Fenster der ehemaligen Fabrikhalle in Berlin. Der Fotograf Boyd Ortmann, der dort sein Atelier hatte, saß mit Arnold Oberlin zusammen, dem Marketingdirektor einer großen Modefirma. Arnold und Boyd kannten sich seit Jahren. Arnold war bei einer großen europäischen Versandhauskette tätig, die sich auf hochwertige Mode für Damen und Herren spezialisiert hatte.
»So, so, Arnold! Dann will dein Chef also einen neuen Geschäftszweig eröffnen, Dirndl und Lederhosen.«
»Ja, wir werden dafür einen Extrakatalog erstellen. Die Trachtenkleidung und die gesamte Landhausmodekollektion werden natürlich ebenso hochwertig sein wie alle unsere Produkte. Es ist ein guter Markt. Die Menschen besinnen sich immer mehr auf die Natur. Sie ernähren sich gesünder und verlangen nach Naturprodukten. Unsere Materialien werden ausschließlich Wolle, Baumwolle, Seide und Leder sein, kein Mischgewebe aus Kunstfaser.«
»Das habe ich verstanden, Arnold. Wie stellst du dir die Katalogpräsentation vor?«
»Edel! Ursprünglich! Die Fotos sollen ein gutes Gefühl vermitteln, eine urige Stimmung! Heimatgefühl! Bodenständigkeit!«
Arnold zögerte. Er trank einen Schluck Kaffee.
»Deshalb sollen es auch keine Studioaufnahmen sein.«
Boyd schüttelte den Kopf.
»Arnold, das kann heute doch kaum noch einer unterscheiden. Ein schöner Hintergrund – fertig ist das Bergfoto! Ein wenig Dekoration! Das wird schon werden! Ein bißchen mit dem Computer nachbearbeitet! Das funktioniert prima!«
Arnold schüttelte den Kopf.
»Nein! Es müssen Aufnahmen vor Ort gemacht werden. Der Chef besteht darauf. Das müssen wirkliche Berge im Hintergrund sein, Wiesen, Felder, Höfe, Kühe – einfach der ganze ursprüngliche, der echte Flair! Verstehst du?«
»Schon! Das wird aufwendig werden!«
»Das ist bekannt! Aber wir verkaufen nicht nur Kleidung! Wir verkaufen damit ein Lebensgefühl!«
Arnold Oberlin griff in seinen Aktenkoffer. Er entnahm eine Landkarte und eine Broschüre. Boyd sah ihm zu, wie er die Karte auf dem Tisch ausbreitete. Mit dickem schwarzem Filzstift war ein Gebiet in den Alpen eingekreist.
»Das ist Waldkogel! Das Urlaubsgebiet des Chefs.«
»Aha! Waldkogel? Nie gehört!«
Arnold schob Boyd die Broschüre hin. Dieser blätterte. Er seufzte leise.
»Was denkst du?« fragte Arnold.
»Mir ging gerade der Aufwand durch den Kopf. Da ist die Unterbringung der Models, des ganzen Teams. Die Models, die machen ihren Job gut. Aber sie stehen mehr auf Meer, Metropolen – und schick muß es sein.«
Arnold schmunzelte.
»Ach, noch etwas! Nicht so viel Schminke! Ursprünglichkeit, Natürlichkeit, das ist gefragt.« Arnold lächelte. »Sie dürfen auch etwas rundlich sein! Du verstehst?«
Boyd lachte laut.
»Wie sagt man so treffend in den Bergen dazu?«
»Sie können auch Holz vor der Hütte haben!«
»Genau! So sagt man. Damit die Ausschnitte der Dirndlblusen gut zur Geltung kommen, wie?« grinste Boyd.
»Ja, so ungefähr! Kurz gesagt, sie müssen wie echte junge Frauen vom Land, aus den Bergen aussehen«, bestätigte Arnold.
Dann beschrieb er Boyd noch einmal genau, was sich sein Chef so vorstellte. Der Katalog sollte wie ein Kunstband über die Berge und Landschaft wirken. Es waren nur ganzseitige Bilder gewünscht, die eben dieses Lebensgefühl der Berge ausdrückten.
»Der Katalog soll so schön werden, daß die Kunden ihn auch aufbewahren wollen und ins Bücherregal stellen. Motive gibt es in Waldkogel genug, Berge mit Gipfelkreuzen, Gebirgsbäche, Schluchten, Wiesen mit Almhütten und Vieh, Kühe, Ziegen, Pferdefuhrwerke. Dann gibt es in Waldkogel einen Bergsee, ein Sägewerk und einen wunderschönen dichten Tannenwald. Und nicht zu vergessen den Marktplatz mit dem schönen Rathaus und der alten Barockkirche.«
»Klingt, als wärst du selbst dort gewesen.«
»Ja, ich war dort am Wochenende! Dienstreise!«
Die Freunde schauten sich an.
»Boyd, ich halte viel von dir! Du bist ein außergewöhnlicher Fotograf. Du machst Kunst. Deine Bilder haben schon Preise gewonnen. Ich weiß, daß du kommerzielle Aufträge nur annimmst, weil sie dir das Geld bringen für deine Kunst. Wir waren auch immer mit deiner Arbeit zufrieden. Ich dachte mir, daß dich dieser Auftrag begeistern könnte. Bei dem Auftrag kannst du deinen Kunstanspruch und die kommerzielle Seite doch perfekt verbinden. Denkst du nicht auch so?«
»Doch! Außerdem ist das Budget beachtlich! Das mußt du deinem Chef aber nicht sagen, sonst kürzt er es!«
Sie lachten.
»Boyd, trotzdem scheinst du nicht sonderlich begeistert zu sein?«
Boyd Ortmann trank einen Schluck Kaffee.
»Ich bin begeistert. Aufträge begeistern mich immer. Ich bin nur nicht so der Bergtyp. Berge haben mich nie gereizt. Du weißt, ich liebe Meer und Wüste, Weite – Weite so weit das Auge reicht.«
»Das hast du dort auch! Du mußt nur rauf zur Berghütte. Von dort soll man einen schönen Blick haben. Ich bin nicht oben gewesen. Aber mein Chef schwärmt davon. Übrigens, da gibt es noch den alten Hüttenwirt. Er heißt Alois. Dem kannst du Grüße ausrichten. Mein Chef kennt ihn. Alois hat meinem Chef das Klettern beigebracht, damals vor vierzig Jahren, als er noch ein Bub war.«
»Gut, Arnold! Ich nehme den Auftrag an.«
»Das habe ich nicht anders von dir erwartet!«
»Bis wann? Wann soll der Katalog herauskommen?«
Es sollte ein Jahreskatalog werden. Boyd sollte mit den Sommeraufnahmen beginnen und im Herbst und im Winter weitere Aufnahmen machen.
»Klingt, als wäre es das beste, ich richte mir gleich in Waldkogel ein Studio ein.«
»Boyd, genau das soll es nicht sein! Sicherlich, eine Wohnung für dich, das wäre nicht schlecht. Aber es sollen keine Studioaufnahmen werden. Innenaufnahmen von Almhütten und Ställen, die können dabei sein. Aber nicht gestellt. Am besten du redest mit dem Alois. Der führt dich bei den Bauern ein. Mein Chef ist davon überzeugt!«
Arnold gab Boyd einige Kopien.
»Hier, das soll ich dir aushändigen. Das sind Adressen und Ansprechpartner. Mit denen ist mein Chef gut bekannt. Einige habe ich auch kennengelernt. Ich habe hinter die Namen ein Ausrufezeichen gemacht. Am besten du quartierst dich bei den Baumbergers ein. Xaver und Meta Baumberger haben ein kleines Wirtshaus mit Pension. Ihr Sohn Toni lebt mit seiner Frau auf der Berghütte, die er vom alten Alois übernommen hat. Die Baumbergers sind alle sehr freundlich und wirklich hilfsbereite Leute.«
Dann schwärmte Arnold von den Pensionszimmern des Familienbetriebs.
»Es ist, als sei dort die Zeit stehengeblieben, Boyd! Alle Zimmer sind möbliert mit schönen alten Bauernmöbeln, die zum Teil bemalt sind. Das ist ein Flair, das kannst du in keinem Studio nachstellen!«
Arnold schwärmte und schilderte Boyd die Baumbergers und ganz Waldkogel in dem wärmsten Tönen.
»Scheinst ja ganz ergriffen zu sein, Arnold, wie?«
»Ja, das bin ich! Ich war zwar nur knappe zwei Tage in Waldkogel, aber ich will im nächsten Urlaub hin. Dort erschloß sich mir eine ganze neue Welt, die ich nicht kannte und mir sofort so viel gab. Boyd, alle Worte, jede noch so präzise Beschreibung, treffen es nicht. Ich kann es nur so sagen: Der Zauber der Berge, der hat mich einfach erfaßt. Treffender kann ich es mit einem anderen Wort sagen: Ich bin ergriffen – ja, ergriffen – von der Schönheit der Berge.«
Arnold war davon überzeugt, daß Boyd auch diesem Zauber der Berge erliegen würde.
»Du fühlst das und kannst es in Bilder einfangen. Da bin ich mir ganz sicher!«
Boyd stand auf und holte seine Unterlagen. Er legte einen dicken Ordner auf den Tisch und blätterte darin. Im Ordner waren Unterlagen der Models, mit denen er am liebsten arbeitete. Es waren wunderschöne junge Frauen. Gemeinsam mit Arnold wählten sie einige aus.
»Gut, dann wären wir soweit! Jetzt können wir nur hoffen, daß sie auch zusagen«, stöhnte Boyd leise und schob den Ordner von sich.
»Bei deiner Überredungskunst wird es schon werden, Boyd! Ich weiß, daß sie sich lieber in Pelz, Abendroben oder Bademoden ablichten lassen. Aber wenn sie erst die anspruchsvollen Dirndln, die schönen Hirschlederhosen und die anderen Sachen sehen, dann werden auch sie begeistert sein.«
»Wollen wir es hoffen!«
Boyd kannte seine Starmodels gut. Sie waren alle wunderschön und sehr erfolgreich. Eine Modelkarriere dauerte nur ein paar Jahre. Die Mädchen wollten die Karriere um jeden Preis. Boyd kannte die Branche gut und wußte, daß es dort auch Vorurteile gegen alles gab, das nicht zum Jet-Set gezählt wurde. Fotoaufnahmen auf einer Yacht oder vor den Pyramiden in Ägypten, im Kolosseum in Rom, unter den Säulen der Akropolis in Athen, dafür waren sie sicherlich leichter zu begeistern.
Boyd und Arnold waren mit der geschäftlichen Unterredung zu Ende. Sie plauderten jetzt noch, wie es Freunde so tun. Arnold war verliebt. Er schwärmte von einer jungen Frau, die er kürzlich kennengelernt hatte.
»Es stimmt einfach alles zwischen uns, Boyd. Wir haben uns in die Augen gesehen und es gewußt! Es war uns in Sekundenschnelle klar, daß wir beide zusammengehören. Das ist jetzt gerade einmal wenige Wochen her. Doch wir reden schon über Heirat, Familie und Kinder.«
Boyd lachte laut.
»Arnold, du willst mich auf den Arm nehmen, oder? Du und Heirat? Familie? Und sogar noch Kinder? Das paßt so gar nicht zu dir!«
»Ja, das dachte ich auch immer. Nie wollte ich mich binden! Nie, niemals! Da war ich genau wie du! Du bist doch ständig – noch viel mehr als ich – mit so schönen Frauen zusammen!«
»Ja, warum eine, wenn es so viele gibt? Außerdem bedeutet eine Frau Verpflichtung, Gebundenheit, Treue und so weiter! Das ist nicht meine Sache! Ich brauche meine Muse und auch immer mal eine andere, das gebe ich gerne zu. Ich stelle das auch immer klar. Nie gibt es da Schwierigkeiten. Es geht eine Weile, dann trennt man sich wieder. So ist das Leben! Frei! Frei und schön!« Boyd lächelte.
»Das alles gilt aber nur so lange, bis dir die Eine, die Richtige in die Augen schaut. Dann verändert sich alles! Alles, was dir bisher wichtig war, wird plötzlich unwichtig. Was nützt dir die Freiheit, wenn du im Grunde damit die eigene Einsamkeit des Herzens benennst?«
Boyd lachte herzlich.
»Arnold, ich erkenne dich nicht wieder. Klingt ja nach Romantik pur! Aber nach dieser Romantik, die unweigerlich zum Traualtar führt. Nein, nein! Da lasse ich die Finger davon. Das erinnert mich an Handschellen!«
»Ach, Boyd! Ich weiß, daß ich auch einmal so dachte. Ich war fest davon überzeugt, daß die Liebe zu einer Einzigen, die wirklich tiefe Liebe, die Freiheit einengt. Doch ich habe zu meiner eigenen Überraschung festgestellt, daß es nicht so ist. Die wahre Liebe, die bringt ein Glücksgefühl im Herzen, das dir eine Ahnung von der Unendlichkeit des Universums gibt. Du teilst alles – und es ist keine Beschränkung, sondern eine Bereicherung, eine Erweiterung. Alle Gefühle, Erlebnisse, Erinnerungen werden größer, schöner, intensiver, weil du sie mit jemanden teilen kannst. Ich wünsche dir, daß du das erlebst. Es wird auch langsam Zeit, daß du den Hafen der Ehe anpeilst oder, um in deiner Fotografensprache zu bleiben, als Ziel in den Mittelpunkt der Linse rückst.«
»Da wartest du vergebens! So ein Mensch wie ich, mit diesem Beruf – nein! Mir passiert so etwas nicht! Da müßte ich mich ja richtig verlieben! Das wäre mir zu bürgerlich, viel zu bodenständig! Ich muß frei sein, jeder Zeit aufbrechen zu können. Ich kann mich nicht verlieben. Ich darf mich auch nicht verlieben, wenn du es so willst. Wie soll ich dann die Schönheit der Frauen einfangen, wenn mein Herz nur einer einzigen gehört? Schlage dir das aus dem Kopf!«
Arnold schmunzelte. »Du bist in diesem Punkt ein Unwissender, Boyd. Du versteckst dich zudem hinter deinem Beruf. Außerdem weißt du genau, wie du auf Frauen wirkst. Glaubst du, du wirkst anders, wenn du einen Ring am Finger trägst?«
»Ich werde meine Stellung als angeschmachteter Junggeselle nicht aufgeben. Das bringt mir Vorteile. Das gehört zu meinem Beruf.«
»Eines Tages ereilt die Liebe auch dich! Wirst es schon sehen!«
»Nie niemals! Wenn das geschieht, dann suche ich das Weite. Liebe, nein, das ist nichts für mich! Flirt! Liebelei! Eine Muse! Das alles, dafür bin ich zu haben. Aber nicht für mehr. Daß du schwach wirst, Arnold, das hätte ich nie und nimmer von dir gedacht. Ich gebe zu, daß ich sehr überrascht bin. Nun ja, vielleicht ist es bei dir nur eine vorrübergehende Phase. Du, ich warne dich! Behalte einen kühlen Kopf. Es kann teuer werden, wenn du deinen Irrtum zu spät erkennst.«
Arnold Oberlin brach in schallendes Gelächter aus.
»Oh, Boyd! Du müßtest dich sehen! Du schaust mich so mitleidig an, als hätte ich dir eben nicht von der wahren Liebe erzählt, sondern davon, daß ich eine unheilbare chronische Krankheit habe.«
»So kommt es mir vor!«
»Dann leide ich gerne daran! Fahre jetzt erst mal nach Waldkogel und mache deine Aufnahmen. Zur ersten Vorlage treffen wir uns bei uns in der Firma. Abends lade ich dich ein. Dann kannst du meine Liebste kennenlernen! Aber ich warne dich! Laß die Finger von ihr! Sonst ist unsere Freundschaft, Freundschaft gewesen!«
»Du drohst mir? Dich muß es wirklich schlimm erwischt haben!«
Arnold schaute auf die Uhr. »Du sagst es, mein Guter! Doch ich stehe dazu! Und jetzt muß ich gehen! Ich bin mit ihr verabredet. Wir wollen uns Wohnungen ansehen.«
»So weit seid ihr schon?«
»Ja! Ich sagte dir doch, wir wollen heiraten! Willst du mein Trauzeuge sein?«
»Nein! Trauzeuge? Ich? Dein Angebot ehrt mich! Aber so wie ich zur Ehe stehe, kann ich das nicht. Da mußt du dir einen anderen suchen, Arnold!«
»Das ist eine klare Antwort!«
Arnold packte die Sachen auf dem Tisch ein.
»Trotzdem! Falls du einmal in die Lage kommst, daß du einen Trauzeugen brauchst, dann kannst du mich fragen!«
Boyd legte Arnold die Hand auf die Schulter.
»Das verspreche ich gerne! Allerdings wirst du auf diese Ehre vergeblich warten! Nie und nimmer werde ich einen Trauzeugen benötigen!«
Arnold schaute Boyd von der Seite an und schmunzelte.
»Sage niemals nie! So heißt es doch, Boyd, nicht wahr?«
Es war alles gesagt. Boyd brachte Arnold noch zur Tür. Dann ging er zum Kühlschrank und holte sich ein Bier. Während er es einschenkte, grinste Boyd vor sich hin. Er konnte es kaum glauben, daß sich Arnold wirklich mit Heiratsplänen beschäftigte. Wahrscheinlich habe ich mich in diesem Punkt doch in ihm geirrt, überlegte Boyd. Doch Irren ist menschlich! Jedenfalls fühlte Boyd ein Überlegenheitsgefühl. Er wähnte sich stärker als Arnold, weil er seine Gefühle besser kontrollieren konnte. So dachte er.
*
Am darauffolgenden Wochenende machte sich Boyd auf nach Waldkogel. Die Autobahn in Richtung der Berge war voll. Er stand oft im Stau, was seine Stimmung nicht gerade hob. Etwas genervt bog er vor Kirchwalden auf die Landstraße ab. Langsam fuhr er weiter. Auch in Kirchwalden herrschte an diesem Freitagabend dichter Verkehr. An der Ampelkreuzung ging es nur langsam vorwärts.
»Das ist eben das Land«, murmelte er vor sich hin. »Denke immer nur an den dicken, fetten Scheck!«
So motivierte er sich selbst.
Auf der schmalen Seitenstraße, die nach Waldkogel führte, konnte er nicht überholen. Ein Traktor mit einem langen Anhänger tuckerte vor ihm her. Boyd hielt Abstand und ließ bei langsamen Tempo die Augen schweifen.
Das Tal war nicht sehr breit. Wiesen, Wälder zogen sich an beiden Seiten die Berghänge hinauf. Oben sah er die Gipfel mit den Gletschern und dem Schnee. Die Luft war klar und rein. Eine gute Sicht, dachte er. Das gibt gute Aufnahmen. Boyd sah alles aus dem Blickwinkel eines Fotografen. Er hielt oft kurz an und zoomte mit dem Fotoapparat, den er auf dem Beifahrersitz des Sportwagens liegen hatte, die Almhütten an den Hängen nah heran. Dann fuhr er weiter, bis er das Fahrzeug wieder unmittelbar vor sich hatte.
Endlich kam er nach Waldkogel. Am Marktplatz mußte er halten. Mit laufendem Motor trommelte er unruhig auf das mit Leder bezogene Sportlenkrad.
Ein alter Mann, der den Bürgersteig entlangging, sah es und blieb stehen.
»Des dauert länger! Des ist eines der Fahrzeuge vom Weisgerber. Des muß lange hin und her rangieren, bis es um die Ecke ist. Des ist jeden Abend so, wenn die leeren Holztransporter zurückkommen. Mach den Motor aus. Du verpestest unsere schöne Bergluft!«
Boyd schaute den Mann überrascht an. Er war noch mehr überrascht, als dieser mit seinem Gehstock auf die Motorhaube seines Sportwagen klopfte.
»Abstellen hab’ i gesagt!«
Boyd ärgerte sich über die Aufforderung. Er schaltete aber den Motor aus. Der Mann ging weiter. Boyd beobachtete ihn im Rückspiegel. Dann ließ er das Auto wieder an und fuhr auf den Marktplatz. Er parkte und stieg aus. Lässig an sein Auto gelehnt beobachtete er, wie der Holztransporter sich mittels langwieriger Manöver um die Ecke schob.
Da muß ich wohl warten, dachte Boyd. Er nahm seinen Fotoapparat und machte Bilder. Motive gab es genug, all die prächtigen Bauernhäuser, das Rathaus, die alte Barockkirche, der Brunnen davor. Boyd gestand sich ein, daß Waldkogel eine mehr als wunderschöne Kulisse abgab.
Seine Augen glitten hinauf zu den Bergen. Der eine Berggipfel lag im Abendsonnenschein. Die Luft war so klar, daß Boyd das Gipfelkreuz deutlich sehen konnte. Boyd wechselte das Objektiv und zoomte das Gipfelkreuz nah heran. Dann schaute er sich den gegenüberliegenden Berg an. Dort hing über dem Gipfel eine kleine, tiefschwarze Wolke. Es sah bedrohlich aus. Besonders, weil keine andere Wolke am weiten blauen Himmel war. Wie gebannt starrte Boyd hinauf und ließ den Fotoapparat sinken.
Er hörte hinter sich eine Tür quietschen und drehte sich um. Eine junge Frau mit einem leeren Korb kam aus dem Friedhofstor. Ihre Blicke trafen sich kurz. Sie ging weiter. Im Vorbeigehen murmelte sie leise ein: »Grüß Gott!«
»Hallo! Sie da! Vielleicht können Sie mir sagen, wie der Berg dort heißt!«
Die junge Frau blieb stehen und wandte sich um. Sie schaute ihn an. Dann nahm sie die Sonnenbrille, die auf dem Kopf in ihrem blonden Haaren steckte, und setzte sie auf. Sie kam näher.
»Grüß Gott!« sagte sie ernst. »Das ist das ›Höllentor‹! Schaut net gut aus heute! Wir beten alle, daß es nicht wieder so ein Unwetter gibt wie letztens! Das ist oft der Fall, wenn so eine Wolke genau über dem ›Höllentor‹ steht. Die hat der Teufel aus der Hölle geschickt!«
Boyd konnte sein Grinsen nicht unterdrücken.
Die junge Frau setzte ihre Sonnenbrille ab und schaute ihn an. Ihre blauen Augen funkelten.
»Sie müssen net so unverschämt grinsen! Das wird Ihnen schon vergehen, wenn ’S einmal solch ein Unwetter erlebt haben. Wir hier in Waldkogel wissen, wie schlimm des kommen kann, wenn der Teufel aus dem ›Höllentor‹ rauskommt.«
»Ich wollte nicht grinsen! Ich lächele. Ich bin Fotograf. Das ist doch ein ganz herrliches Motiv. Dieser wundervolle blaue Himmel und diese kleine dicke schwarze Wolke, die sich mit so klaren Konturen davon abhebt.«
Die junge Frau schüttelte den Kopf und wollte weitergehen.
»Sie haben mir noch nicht gesagt, wie der andere Berg dort heißt – der ohne schwarze Wolke? Kommt der Teufel da auch heraus?« Boyds Stimme klang herausfordernd.
Es war nun einmal Boyds Art zu provozieren.
»Da kommt kein Teufel raus! Das ist der ›Engelssteig‹. Dort vom Gipfel steigen die Engel direkt in den Himmel auf, so sagt man hier in Waldkogel seit alters her.«
Boyd musterte die junge Frau.
»So, so! Und die Engel sind alle so hübsch wie Sie?«
Die junge Frau errötete. Sie nahm ihren Korb und eilte davon.
Boyd sah ihr nach. Sie ist wirklich sehr hübsch, direkt eine Schönheit, mit ihren großen blauen Augen und ihren blonden Locken. Aber sie ist sonderbar. Wird rot bei einem so harmlosen Kompliment und rennt davon, als sei der Teufel hinter ihr her.
Boyd mußte leise lachen. Er schüttelte den Kopf.
Für ihn stand fest, die Menschen in Waldkogel waren sonderbar. Ein alter Mann hatte unverfroren energisch mit seinem Gehstock auf seine Motorhaube geklopft. Eine junge Frau errötete und rannte davon, nur weil er ihr ein harmloses Kompliment gemacht hatte. Das konnte ja lustig werden, wenn alle hier so seltsam sind.
Boyd hielt den Fotoapparat vor das Auge. Er schaute durch die Linse der jungen Frau nach. Als sie sich noch einmal kurz umdrehte, drückte er auf den Auslöser.
Welch wunderbare Augen!
Welch ein Gesicht!
Welche Ausstrahlung!
Er ließ den Apparat sinken und schaute ihr weiter nach, bis er sie nicht mehr sah. Er war überwältigt von dieser Schönheit, dieser Anmut und Natürlichkeit.
Plötzlich spürte Boyd, wie sein Herz klopfte. Er war aufgeregt. Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf. Er ärgerte sich, daß seine unbedachte Bemerkung die junge Frau so schnell vertrieben hatte. Auf der anderen Seite war es als Kompliment gemeint gewesen. Warum hat sie nur so heftig reagiert? Das fragte sich Boyd. Es war doch nichts Schlimmes, sie mit einem Engel zu vergleichen, oder? Boyd überlegte, wie Gritt, Biggi und Lolly reagiert hätten. Die drei Models, die am Montag nach Waldkogel kommen würden, hätten es bestimmt als Kompliment aufgefaßt und als das gesehen, was es war. Nämlich ein Versuch, nett ins Gespräch zu kommen.
Boyd packte seinen Fotoapparat ein. Er setzte sich auf den Brunnen. Er dachte nach. Das Bild der jungen Frau ging ihm nicht mehr aus den Sinn.
»Grüß Gott!«
Boyd erschrak, als er die Stimme hörte. Er drehte sich um. Ganz in seiner Nähe stand ein Geistlicher.
»Guten A.. A.. Abend!« stotterte Boyd.
Boyd sah den Geistlichen mit großen Augen an. Das paßte alles zusammen, wie extra bestellt. Erst Teufel und Höllentor, dann Engel und Engelssteig und jetzt noch ein Geistlicher.
»Siehst etwas mitgenommen aus!« sprach ihn der Pfarrer an.
Boyd mußte lächeln.
»So, sieht man mir das an? Nun, ich gebe es zu, daß ich gerade dabei bin, mein Weltbild auf die hiesige Sicht der Dinge neu zu sortieren. Hier in Waldkogel scheinen die Menschen etwas anders zu sein als in der Stadt. Das kann ja wohl heiter werden!«
»Klingt, als hättest du schlechte Erfahrungen gemacht. Dabei sind die Leut’ hier warmherzig, freundlich, gütig und hilfsbereit.«
»Davon habe ich bis jetzt nichts bemerkt!« murmelte Boyd.
Doch Pfarrer Zandler hatte es gehört.
»Ah, du sprichst von dem Madl, das dir gerade davongelaufen ist!«
Boyd schaute den Geistlichen mit großen Augen an.
»Ich stand an der Kirchentür und hab’ alles gesehen und gehört!«
Boyd seufzte. Er war irgendwie erleichtert, daß er mit jemanden darüber reden konnte, selbst wenn es ein Geistlicher war.
»Herr Pfarrer…«
»Mein Name ist Zandler! Und wer bist du?«
Boyd wunderte sich zwar, daß ihn der Geistliche einfach duzte. Er stellte sich vor: »Boyd!«
»Boyd? So einen Namen habe ich noch nie gehört.«
Boyd lächelte verlegen.
»Es ist auch mein Künstlername! Ich bin Fotograf. In Wirklichkeit heiße ich Gustav. Doch als Gustav Ortmann konnte ich mir keinen Namen aufbauen. Mit Boyd klappte das besser!«
»Des mag so sein, da draußen in der Welt. Damit wirst in Waldkogel net so viel Glück haben. Wenn ich dir einen Rat geben darf? Du kommst hier weiter, wenn du dich Gustl nennst! Hier gehen die Uhren etwas anders, weißt?«
»Das habe ich schon bemerkt!« sagte Boyd leise und räusperte sich.
Er nahm all seinen Mut zusammen.
»Sie haben die junge Frau gesehen, mit der ich mich kurz unterhalten habe?«
Pfarrer Zandler lächelte.
»Ja, des hab’ ich! Des Anbändeln ist gründlich danebengegangen!«
Boyd benötigte einen Augenblick, bis er verstand, was der Geistliche mit ›Anbändeln‹ meinte. Boyd verspürte eine ihm unbekannte Verlegenheit.
»Wer war sie? Wie heißt sie?«
»Des war die Evi! Evi, so wird des Madl gerufen. Ihr vollständiger Name ist Eveline Quentmair, vom Quentmair Hof.«
Pfarrer Zandler schmunzelte.
»Die Evi gefällt dir, wie?«
»Ich finde sie sehr fotogen!«
»Fotogen!« wiederholte Pfarrer Zandler. »So hab’ ich die Evi noch nie betrachtet. Aber wenn du als Fachmann des sagen tust, dann muß des stimmen! Na, jetzt weißt du, wer des Madl ist. Bist auf Motivsuche?«
»Danke für die Auskunft, Herr Pfarrer Zandler! Ich bin auf Motivsuche, aber nicht was junge Frauen betrifft. Ich mache Fotos für einen Katalog mit Trachtenmoden. Ich habe Models, die kommen am Montag mit dem Mitarbeiterstab.«
»Ah! Dann machst keinen Urlaub, dann tust arbeiten! Na ja, vielleicht bleibt dir doch noch ein bisserl Zeit für unsere schönen Berge. Wo hast du ein Zimmer?«
»Ich bin bei Familie Baumberger untergekommen. Die Models und den Stab, das ganze Team, die habe ich im Hotel ›Zum Ochsen‹ einquartiert.«
»So, dann wünsche ich dir viel Erfolg!«
»Danke!«
Die beiden verabschiedeten sich. Pfarrer Zandler ging zum Pfarrhaus. Boyd schlenderte in Gedanken versunken zu seinem Auto. Obwohl die Straße frei war, blieb er noch eine Weile im Auto sitzen. Er mußte immer wieder an die junge Frau denken. Madl, sagt man hier, erinnerte er sich an Pfarrer Zandlers Worte.
Dann fuhr er zu den Baumbergers.
*
Als Evi auf den Quentmair Hof ankam, saßen ihr Vater Willibald, ihr Bruder Simon und ihre Mutter Liesbeth schon am Abendbrottisch.
»Da bist du ja endlich! Wir haben auf dich gewartet!«
»Entschuldige, Mutter! Ich bin gleich soweit.«
Evi stellte den Korb ab. Sie wusch sich schnell die Hände am Spülstein in der Küche und setzte sich hin.
Bauer Quentmair sprach als Familienoberhaupt das Tischgebet. Sie bekreuzigten sich. Dann aßen sie.
Die Bäuerin beobachtete ihre Tochter genau. Sie kam ihr seltsam verändert vor. Ihr Blick war abwesend. Wie in Gedanken schob sie ihr Essen in den Mund, ohne hinzuschmecken.
Ihre Mutter sprach sie zweimal an:
»Hast was, Madl?«
»Naa!« antwortete Evi leise und sah ihre Mutter dabei nicht an.
Liesbeth wechselte mit ihrem Mann und ihrem Sohn Blicke. Keinen der drei hatte Evis ›Naa‹ überzeugt. Aber sie schwiegen. Wenn das Madl reden will, dann wird es schon reden, dachte Evis Mutter.
Nach dem Abendessen brachen Evis Vater und ihr Bruder zum Stammtisch auf. Sie trafen sich einmal in der Woche ›Beim Baumberger‹.
Evi halft ihrer Mutter beim Geschirrspülen.
»Hast jemanden auf dem Friedhof gesehen?« fragte ihrer Mutter vorsichtig.
»Naa! Ich habe nur schnell das Grab gegossen. Das war alles!«
»Dafür bist aber lange unterwegs gewesen.«
Evi errötete.
»Ich bin auf dem Heimweg einen Umweg gegangen.«
»So? Einen Umweg!«
»Ja, darf ich des net?« fauchte Evi ungewohnt heftig zurück.
Die Bäuerin schwieg. Des Madl machte sich über etwas Gedanken. Aber reden wollte es nicht. So war die Evi schon immer. Wenn sie etwas beschäftigte, dann war sie launisch, richtig grantig konnte sie werden, wenn sie bedrängt wurde. Da bin ich besser still und warte ab, dachte ihre Mutter. Wenn sie alles bedacht hat, dann wird Evi schon reden. So hat sie es immer gemacht.
*
Nachdem Mutter und Tochter mit der Küchenarbeit fertig waren, setzten sie sich vor das Haus. Die Bäuerin stopfte Strümpfe. Evi häkelte an einem Spitzendeckchen. Ihre Mutter bemerkte, daß Evi jedesmal nach
einigen Reihen das gearbeitete Stückchen wieder aufzog.
»Klappt es mit dem Muster net?« fragte ihre Mutter wie beiläufig und sah Evi dabei nicht an.
»Naa, ich vertue mich beim Maschenzählen! Ärgerlich!«
»Des kann schon vorkommen!«
In Gedanken fügte ihre Mutter hinzu, wenn man nicht bei der Sache ist. Sie sprach es aber nicht aus. Das hätte bedeutet, Öl ins Feuer zu gießen.
»Wenn man einen schlechten Tag hat, soll man aufhören! Des bringt dann nix, weiterzumachen!«
»Hast recht, Mutter!« seufzte Eveline und packte ihr Handarbeitszeug in den Korb.
»Madl, dich drückt doch etwas! Ich weiß, daß du net zu denen gehörst, die das Herz auf der Zunge tragen. Aber es ist nicht immer gut, alles mit sich allein abzumachen. Schau, die Mannsbilder sind beim Stammtisch. Ich sag’ auch nix, weder deinem Vater noch deinem Bruder.«
»Mußt dir keine Sorgen machen, Mutter. Ich hab’ nix! Außer vielleicht, daß ich mich über mich selbst ärgere. Ich muß das aus meinem Kopf bekommen.«
Eveline Quentmair schaute auf.
»Schau, Mutter! Vater und Simon kommen schon zurück! Mei, sind die aber früh!«
Die Quentmairbäuerin riß den Faden ab, mit dem sie einen Knopf angenäht hatte. Sie blickte hinauf zum Kirchturm der schönen Barockkirche von Waldkogel, der über die Dächer hinweg zu sehen war.
»Mei, des stimmt! Die sind wirklich früh dran! Des hat sich ja kaum gelohnt!«
Vater und Sohn kamen näher.
»Was hat’s gegeben, daß ihr schon so früh wieder hier seid? Is nix los gewesen?«
»Doch, doch! Es war sogar höchst interessant. Waldkogel wird jetzt noch bekannter. Waldkogel wird Hintergrund für Modeaufnahmen. Beim Xaver Baumberger hat sich ein Fotograf einquartiert. Des ist der Boyd Ortmann, ein Bursche um die dreißig.«
Der Bauer lachte.
»Der ist mit seinem Fotoapparat verheiratet. Ständig knipste er die Leute, die Bierseidel, des Essen, die Wirtsstube. Da kam net richtig Stimmung auf.«
»Ah, deshalb seid ihr gegangen!« warf die Bäuerin ein.
»Naa, net nur deshalb. Dieser Ortmann ist net so übel, wie des auf den ersten Blick erscheint. Er saß neben mir. Ich bin gleich mit ihm ins Gespräch gekommen.« Simon lachte. »Stellt euch vor, der war schon fast überall auf der Welt, in Südamerika, Australien, in Wüsten, auf Inseln im Pazifik, aber noch nie in den Bergen!«
»Ja, gibt es so etwas?« wunderte sich auch die Bäuerin.
»Ja, so etwas gibt es. Aber dem werde ich morgen die Berge zeigen. Wir hier in Waldkogel können da mithalten, auch mit den exotischen Orten. Dem werden vor Staunen die Worte in der Kehle steckenbleiben!«
Simon rieb sich die Hände.
»Soso! Dann willst du dich als Fremdenführer betätigen?«
»Ja! Er hat einen gesucht und bezahlen tut er auch! Ich habe ihm zwar angeboten, daß ich des auch umsonst mache, aber er hat auf Bezahlung bestanden.«
»Scheint zuviel Geld zu haben!« kommentierte die Bäuerin knapp.
»Geld hat der schon! Er fährt einen blauen Sportwagen, ein Cabrio. Da habe ich ihn gleich mal gewarnt. Mit dem extravaganten Vehikel kann der net den Milchpfad raufbrausen. Dann ist sein Unterboden dahin! Nach dem Regen ist der Weg ziemlich ausgespült und uneben. Ich habe ihm angeboten, daß er sein Auto bei uns unterstellen kann. In der Scheune ist genug Platz. Wir fahren mit dem Geländewagen rauf bis zu Oberländer Alm. Ich bringe ihn dann erst mal zur Berghütte. Ich bin ohnehin schon lange net mehr oben gewesen. Ein Besuch beim Toni und seiner lieben Frau Anna ist längst überfällig.«
Damit Evi sich nicht am Gespräch beteiligen mußte, nahm sie ihre Handarbeit wieder auf und zählte leise die Maschen vor sich hin.
»Wie soll des werden? Was hast du da von Mode gesagt?« fragte die Bäuerin.
Simon steckte die Hände in die Taschen und berichtete, was er von Boyd erfahren hatte. Daß dieser über das Wochenende alleine hier war und am Montag sein Team mit der Ausstattung und den drei Models käme.
»Da bin ich gespannt«, grinste der Bauer. »Des müssen ja besondere Madln sein!«
»Des sind keine Madln! Des sind Models!« korrigierte ihn die Bäuerin. »Solche Weibsbilder sind anders.«
»Mei, Liesbeth, des klingt gar sehr unwirsch. Du kennst doch die Madln net!«
»Ich weiß aber, was man von solchen Puppen zu halten hat. Des kannst in jedem Magazin lesen. Dünn, blutleer und die Gesichter zugekleistert, als wäre des ganze Jahr Fasching.«
»Bist eifersüchtig, Frau?«
»Schmarrn, Willibald! Was redest du so gestelzt daher? Man kann nur hoffen, daß der Spuk bald vorbei ist. Die werden den jungen Burschen die Köpfe verdrehen.«
Die Quentmairbäuerin warf ihrem Bub einen strengen Blick zu.
»Es gilt, was ich dir immer gesagt habe und dein Vater auch! Du kannst dich verlieben, in wen du willst, solange deine Zukünftige dich glücklich macht. Aber du mußt dabei auch bedenken, daß sie auf unseren Hof passen muß.«
»Mutter! Jetzt hör auf, des Kind mit dem Bade auszuschütten! Mußt ja mächtig Angst haben?«
»Angst net, aber Sorge! Ich will net, daß du enttäuscht wirst. Ich weiß, daß du auf der Suche bist – und es ist bei Gott net leicht, eine Jungbäuerin zu finden.«
»Mutter! Nun beruhige dich! Wahrscheinlich werde ich die Ma-dln…«
»Models!« warf seine Mutter ein.
»Damit du deine Ruh’ hast – also Models! Ich werde die Models net zu sehen bekommen. Die kommen am Montag. Dann haben sie zu arbeiten.«
Die Bäuerin lächelte ihren Buben an, wie nur eine Mutter ihren Sohn ansehen kann.
»Simon! Ich meine des net böse! Ich will nur, daß du glücklich wirst. Du mußt immer schauen, was sich hinter einem schönen Gesicht verbirgt. Eine Mutter und ein Vater wollen die nächste Generation glücklich wissen. Irgendwann – wann, des liegt alleine beim Herrgott –, dann sind wir nimmer. Dann bist du Bauer, und es wäre mir eine Beruhigung, wenn du glücklich verheiratet wärst.«
»Mutter! Da mußt du dir keine Gedanken machen! Ich weiß schon, was ich will, wie des Madl sein muß, des ich vor den Traualtar führe. Außerdem denke ich, daß die Liebe des schon alles richten wird. Wenn sich zwei richtig lieben, wenn der Himmel sie zusammenführt, dann fügen sich nicht nur die Herzen zusammen, sondern auch die Leben und wenn sie vorher noch so verschieden waren. Des hast du doch immer gesagt, Mutter. Oder?«
»Ja, das habe ich! Des ist die große Hoffnung! Früher war des immer so. Da haben die jungen Leut’ geheiratet und sind dann gemeinsam durch dick und dünn gegangen, wie man sagt. Ich tue oft drüber nachdenken. Heut’ scheint es nimmer so zu sein. Bei den ersten Schwierigkeiten rennen sie auseinander wie Kühe, die vor schwärmenden Bienen fortlaufen.«
Eveline war mit der Reihe zu Ende. Sie schaute kurz auf und legte ihrer Mutter sachte die Hand auf den Unterarm.
»Mutter! Mußt dich um den Simon net sorgen. Du weißt, daß der Simon kein Hallodri ist, der hinter solchen Weiberröcken her ist.«
»Dem Himmel sein Dank! Des ist er wirklich net!«
Simon ging in die Küche und kam mit zwei Bier heraus. Er reichte seinem Vater den Bierseidel. Sie stießen an und tranken.
Die Bäuerin schüttelte den Kopf.
»Boyd? Des ist ein seltsamer Name. Nie gehört!«
Simon klärte seine Mutter auf, daß Boyd ein Künstlername sei. Doch die Bäuerin schüttelte immer wieder den Kopf. Künstlername! Das hielt sie für unnötig. Am Ende hat er vielleicht sogar etwas zu verbergen, gab sie zu bedenken.
»Liesbeth, was bist du heute so schlimm! An allem und jedem hast etwas zu kritisieren. So kenne ich dich net!«
Der Bauer warf seinem Buben einen Blick zu.
»Simon, ich glaube, wir hätten doch länger im Wirtshaus bleiben sollen. Es scheint hier dicke Luft zu sein, bei unseren Weibern. Die Evi war schon beim Essen so komisch. Des scheint ansteckend zu sein, was meinst?«
»Vater, vielleicht hängt des damit zusammen, daß der Boyd die Evi kennt? Nette Grüße soll ich ausrichten!«
»Ich kenn ihn net!« schrie Evi und sprang auf. »Red net so einen Schmarrn!«
Mit hochrotem Kopf sprang Evi auf. Ihr Handarbeitskorb fiel zu Boden. Das Garn rollte über den Hof.
»Mist! Verflixter! Heut scheint sich alles verschworen zu haben. Ist ja auch kein Wunder! Die schwarze Wolke hängt immer noch über dem Gipfel vom ›Höllentor‹!«
Simon half seiner Schwester das Häkelgarn aufzulesen. Ruhig bemerkte er:
»Der Boyd wußte, daß du die Eveline Quentmair bist und Evi gerufen wirst. Er hat sogar ein Bild von dir gemacht, sagte er. Du mußt ihn also kennen!«
Evi fühlte, wie ihr Herz klopfte. Sie stellte den Handarbeitskorb auf den Tisch neben der Bank. Dann stemmte sie die Hände in die Seite. Ihre blauen Augen funkelten.
»Was heißt hier kennen? Ich weiß ja nicht, was dir dieser feine Herr so alles erzählt hat. Ich kenne ihn jedenfalls net. Ich habe ihm net meinen Namen gesagt – und die Erlaubnis, mich zu knipsen, die habe ich ihm auch net gegeben. Ich erlaube doch net einem wildfremden Menschen, mich einfach zu knipsen. Außerdem…. außerdem…« Evi holte tief Luft. »Außerdem ist das Verletzung der Persönlichkeitsrechte oder wie des heißt. Da war neulich etwas im Fernsehen. Sag dem feinen Herren, wenn du ihn siehst, daß er mir das Bild geben soll und das Negativ auch, und wenn net, dann geh’ ich zum Anwalt. Des lasse ich mir net bieten! Da kommt dieser Fatzke, offensichtlich ein Hallodri, hierher und behauptet, mich zu kennen!«
Simon und seine Eltern tauschten Blicke. Dann muß dieser Boyd die Evi doch so beunruhigen, dachte ihre Mutter.
»Evi, mußt mich net so anbrüllen!« verteidigte sich Simon. »Ich bin unschuldig! Ich hab’ nur weitergegeben, was Boyd gesagt hat. Ich soll dir liebe Grüße ausrichten.«
»Die kann sich der feine Pinkel an den Hut stecken, wenn er denn einen hat! Aber er hat keinen. Er trug so eine flache Kappe!«
»Aha! Aha, Schwesterlein! Dann kennst ihn doch!«
»Wie oft soll ich es noch sagen! Kennen? Was ist des? Er hat mich angesprochen, als ich beim Friedhof rauskam. Hat mich nach den Namen der Berge gefragt. Ein ungehobelter Klotz ist dieser Boyd. Kann weder ›Grüß Gott‹ noch ›Guten Abend‹ sagen! Starrte mich an mit seinen dunkelbraunen Augen, als wäre ich…« Evi brach den Satz ab.
»Hat er vielleicht gesagt, daß du aussiehst wie ein Engel?«
»Simon! Sei still! Ich will jetzt nix mehr hören.«
Evi warf ihrem Vater und ihrer Mutter einen flehentlichen Blick zu. Sie seufzte tief. Dann brach es aus ihr heraus:
»Ich will net, daß er hierher kommt! Ich will net, daß er sein Auto bei uns auf dem Hof in der Scheune abstellt. Des ist mein letztes Wort. Wenn ihr keinen Ärger haben wollt, dann bringt des in Ordnung. Daß er dich bezahlt, als Führer, da kann ich schlecht etwas dagegen sagen. Meinetwegen bring ihn rauf auf die Berghütte, aber net mehr. Jedenfalls hier auf dem Hof will ich ihn nicht sehen. Simon, Vater! Ihr habt die Wahl! Dieser Boyd oder ich! Was ist euch wichtiger?«
Simon grinste.
»Soll des eine Drohung sein, Evi?«
»Genau! Frag’ net so! Du hast mich genau verstanden und du auch, Vater! Net auszudenken, wie über mich und den Quentmair Hof getratscht wird, wenn er dir ›Beim Baumberger‹ erzählt hat, daß er mich kennt!«
Hilflos schaute der Bauer seine Tochter an. So hatte er sie noch nie gesehen. Das Madl schien bis ins Innerste aufgewühlt. Verlegen zog er an seiner Pfeife, daß mächtige Qualwolken aufstiegen.
Die Bäuerin stand auf und legte ihren Arm um die Schultern ihrer Tochter.
»Nun beruhige dich, Evi!«
»Ich beruhige mich gar net! Ihr habt gehört, was ich gesagt habe!«
Evi stöhnte. Dann raffte sie ihr Handarbeitszeug zusammen und brummte vor sich hin:
»Mit euch ist nicht zu reden! Ich gehe schlafen! Gute Nacht!«
Evi drehte sich herum, ließ ihre Familie ohne einen weiteren Blick stehen und stürmte ins Haus und die Treppe hinauf. Dann hörten die Quentmairs, wie die Tür von Evis Zimmer hart, sehr laut ins Schloß fiel.
»Mei, des ist ja ein Ding!« sagte der Bauer. »Darauf brauche ich erst mal einen Schnaps. Des Madl scheint es bös’ erwischt zu haben. Wollt ihr auch einen?«
Simon und seine Mutter nickten und folgten ihm in die Küche. Stumm prosteten sie sich zu.
Liesbeth Quentmair setzte sich auf die Eckbank. Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Oh, des ist wirklich eine Überraschung! Dieser Fotograf scheint einen tiefen und bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben bei unserem Madl.«
»Man kann auch sagen, daß die Evi sich verliebt hat!« formulierte es Simon klar und deutlich.
»Bub! So weit würde ich net gehen«, gab der Quentmairbauer zu bedenken.
Simons Mutter stimmte ihrem Sohn zu. Sie bedauerte ihre Äußerungen bezüglich der Models.
»Ich hab’ doch net wissen können, daß die Evi mit dem Burschen geredet hat, wenn auch nur kurz. Immerhin so geredet, daß sie weiß, er hat dunkelbraune Augen! Ich mache mir jetzt Vorwürfe!«
»Des mußt net«, versuchte Simon seine Mutter zu beruhigen.
Er war der Meinung, daß sie lediglich zu Vorsicht gemahnt hatte. Auch der Bauer beruhigte seine Frau.
Jetzt da Evi auf ihrem Zimmer war, redeten sie ausführlich über Boyd Ortmann. Liesbeth Quentmair wollte alles genau von ihrem Mann und ihrem Buben wissen.
»Mußt dir wirklich keine Sorgen machen, Liesbeth. Der Bursche ist net übel. Sonst hätte sich unser Bub net angeboten, ihm die Berge zu zeigen. Daß er ihn dafür bezahlen will, des wirft ein gutes Licht auf ihn. Er scheint niemand zu sein, der einen anderen ausnutzen tut.«
Sie beratschlagten, wie sie vorgehen sollten, ohne daß Eveline weiterhin so ärgerlich sein konnte. Alle wußten, wie hart, ja, wie stur Evi sein konnte. Hatte sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt, dann war sie schwer davon abzubringen. Auf der anderen Seite standen Simon und sein Vater bei Ortmann im Wort. Sie wollten das Angebot, daß er sein Auto auf dem Quentmair Hof abstellen könnte, nicht zurücknehmen.
Sie beschlossen, daß Simon zurück zum ›Beim Baumberger‹ gehen sollte. In der Nacht, wenn Evi schlief, könnte Boyd sein Auto parken. Simon würde ihn dann am nächsten Morgen bei den Baumbergers abholen. Da bekäme Eveline Boyd keinesfalls zu sehen.
So geschah es dann auch. Simon machte sich sofort auf den Weg.
*
Es war schon nach Mitternacht. Evi lag schlaflos in ihrem Bett und starrte mit offenen Augen an die Decke. Die Tür zum Balkon stand offen. Ein frischer Nachtwind wehte herein und bewegte sanft die hel-
len Spitzenvorhänge. Die Kirchen-glocken von Waldkogel verkündete mit drei dunklen Schlägen, daß es halb ein Uhr in der Nacht war. Kaum waren die Glockenschläge verhallt, als ein Motorengeräusch vom Hof heraufdrang. Evis Herz klopfte. Die Gedanken jagten ihr durch den Kopf. Am Motorengeräusch hatte sie zweifelsfrei erkannt, daß es ein fremdes Auto war. Sie sprang aus dem Bett. Sie warf sich ein großes dunkles Schultertuch um und trat auf den Balkon. Langsam schob sich ein hellblauer Sportwagen über den Hof. Die Scheinwerfer waren abgeschaltet. Simon stand bei der Scheune und winkte im Mondlicht das Fahrzeug heran.
Um nicht gesehen zu werden, ging Evi in die Hocke und lugte durch die Zwischenräume des hölzernen Balkongeländers. Im Auto saß Boyd. Sie konnte ihn im Licht des Vollmondes deutlich sehen. Evi preßte ihr Gesicht gegen das Holz. Sie schloß die Augen und legte ihre Hand auf die Brust, als wollte sie ihr Herz festhalten. Es schlug, als wollte es ihr die Brust sprengen. Ihr Puls raste. In ihrem Kopf drehte sich alles. Bei jedem Herzschlag hämmerte es in ihrem Innern – Boyd – Boyd – Boyd.
Geräusche drangen an Evis Ohr. Ihr Bruder Simon schloß leise das große Scheunentor. Dann ging er mit Boyd über den Hof. Sie blieben vor dem Haus kurz stehen.
Evi konnte gut hören, was die beiden leise sprachen.
»Danke, Simon! Dann sehen wir uns morgen!«
»Heute!«
»Richtig! Heute! Wir haben schon nach Mitternacht! Dann bis später, so gegen neun Uhr bei den Baumbergers.«
Evi hörte, wie ihr Bruder das Haus betrat und die Haustür von innen abschloß. Dann lauschte sie dem Klang von Boyds Schritten, der mit festem Tritt über den Hof in Richtung Straße ging.
Evi konnte ihn durch den Spalt im Balkongeländer nicht mehr sehen. Sie zog sich hoch und schlich in gebeugter Haltung ans Ende. Dort konnte sie sich hinter den Blumenkästen mit der üppigen Bepflanzung gut verbergen. Vorsichtig, mit bebenden Händen und von einem leichten Zittern am ganzen Körper erfaßt, schob sie die Blüten auseinander und schaute hindurch. Es war nicht die nächtliche Kühle, die Evi so zittern ließ. Es war ein anderes Gefühl, das neu für sie war und das sie bisher niemals verspürt hatte. Sie fühlte, als wäre ihr heiß, als hätte sie Fieber und gleichzeitig fror sie. Ihre Augen verfolgten Boyd, bis sie ihn in der Dunkelheit nicht mehr ausmachen konnte.
Dann richtete sie sich auf und torkelte mehr als daß sie ging zu einem Gartensessel, der auf dem Balkon stand. Sie ließ sich hineinfallen. Sie zog die Beine fest an den Körper, schob ihr langes Nachthemd über die nackten Füße und hüllte sich eng in das große Umschlagtuch. Evi legte das Kinn auf die hochgezogenen Knie und schaute hinauf zu den Sternen und dem Vollmond. Die Weite und Ruhe des Universums legte sich auf ihr aufgewühltes Herz. Die Nacht ist so schön, dachte sie. Es scheint, als lächle der Mond. Er sieht richtig lieb aus, wie ein guter, guter Freund.
Evi seufzte leise.
»Ja, guter Mond, du hast alles gesehen!« flüsterte sie leise. »Sag, du bist doch weise und siehst alles jede Nacht, wenn du dort oben am Himmel stehst. Ich kann nur dich fragen.«
Die Frage flüsterte Evi nicht. Sie dachte sie nur, sei es aus Angst, daß sie doch jemand hören konnte, sei es aus Angst, sie auszusprechen, weil es dann keine Frage mehr war, sondern eine Antwort, eine Tatsache, eine Erkenntnis, wie sie sich jedem jungen Madl einmal stellte.
Ist es so, wenn einem Madl ein Bursche gefällt?
Ist es so, wenn man sein Herz verliert?
Ist es so, wenn man sich verliebt?
Das waren gleich drei Fragen, doch Evi hatte noch mehr auf ihrem Herzen. Sie war müde und wollte jetzt, da sie alleine war, nicht gegen das schöne Gefühl in ihrem Herzen ankämpfen. Jetzt mußte sie sich nicht verstecken, verteidigen, auf Abwehrstellung gehen.
Evi gab sich ganz ihren Träumen hin – Träume, die sie mit offenen Augen träumte, – Träumen, von denen sie niemals jemanden erzählen würde, – Träumen, die nur in der Stille der Nacht von einem liebenden Herz geträumt werden. Evi ließ sich treiben. Sie lehnte sich auf dem Sessel zurück und genoß die Fantasien, die aus dem innersten Winkel ihres Herzen langsam und behutsam hervorkamen. Gefühle, Hoffnungen, Sehnsüchte bahnten sich den Weg in ihr Bewußtsein. Evi schämte sich erst etwas vor sich selbst, so als würde sie sündhaften Gedanken nachhängen. Doch die Gefühle waren so rein und so natürlich, daß sie es einfach nur geschehen ließ.
Das muß wohl so sein, wenn man jemand begegnet ist, der so schöne, so wunderschöne dunkelbraune Augen hat, voller Sanftheit und Wärme.
Boyd war bestimmt nicht der erste Bursche, den sich Evi näher angesehen hatte. Auf Festen in Waldkogel tanzte sie gerne. Sie war auch in verschiedenen Vereinen, in denen sich die jungen Leute, die Burschen und Madln von Waldkogel und der Umgebung regelmäßig trafen. Doch noch niemals war ihr eine so kurze Begegnung so nahe gegangen. Evi überlegte, welche Vorstellung sie davon gehabt hatte, wie es werden würde, wenn sie sich einmal verliebt. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht mehr erinnern. Die Gefühle überlagerten alles. Es war, als wäre eine Tür am Ende eines langen, langen Weges aufgestoßen worden und dahinter zeigten sich alle Schönheit und Lieblichkeit so wunderbar, daß ein Blick zurück, ein Umdrehen ganz unmöglich war, weil jede Faser des Herzens gebannt die Lieblichkeit dieses einst so heiß ersehnten Ortes aufsaugte und alles erfüllte. So erfüllte, daß für nichts anderes mehr Raum blieb.
Eva schaute hinauf in Richtung der Gipfel vom ›Engelssteig‹ und dem ›Höllentor‹. Evi mußte schmunzeln. Da wird sich der Teufel ganz schön ärgern, wenn er sieht, wie die dunkle Wolke über seinem Gipfel mir den Boyd gebracht hat.
Doch dann erschrak Evi über ihren Gedanken. Ja, es war so. Es hing eine schwarze, eine tiefschwarze, Angst einflößende Wolke am frühen Abend über dem Gipfel des ›Höllentors‹. Es war diese Wolke, die Boyd so fasziniert hatte und er deshalb den Namen des Berges wissen wollte. Das konnte doch nichts Gutes bedeuten, oder? Eveline fröstelte es plötzlich sehr.
War es die Angst, die sich langsam um ihr sorgloses und glückliches Herz legte?
Ich muß vorsichtig sein, schoß es Evi durch den Kopf. Das bringt nichts mit diesem Fremden. Es soll mir eine Warnung sein, oder? Die Kälte kroch ihr jetzt in alle Glieder. Sie stand auf und ging hinein. Sie legte sich in ihr Bett, kuschelte sich tief in die Kissen und zog die Decke so hoch hinauf, als wollte sie sich ganz unter ihr verstecken. Sie fror noch eine Weile. Sie rieb die kalten Füße aneinander und zog die Daunendecke ganz eng an den Körper. Langsam wurde ihr wärmer. Mit der Wärme sank Evi mit einem unbewußten Lächeln hinüber ins Land der Träume.
*
Boyd ging auf direktem Weg zur Pension zurück. Wie klar der Himmel hier ist, dachte er. Wie gut man die Sterne und den Mond hier sehen kann, viel besser als in der großen Stadt. Da und dort bellte ein Hund. Es waren nur noch wenige Fenster erleuchtet. Boyd bemühte sich, leise zu gehen. Der Klang seiner Schritte empfand er als ein frevelhaftes Geräusch, das die irgendwie so einmalig wunderbare Nacht entweihte. Er fühlte sich sehr gut, so gut wie seit langem nicht mehr.
Mit welch gemischten Gefühlen bin ich hierher gefahren, dachte er. Wie habe ich mich gewunden, den Auftrag anzunehmen, weil er mir so unspektakulär erschien, so wenig reizvoll. Dankbarkeit gegenüber seinem alten Freund Arnold stieg in ihm auf. Es war gut, daß dieser ihn überredet hatte. Ja, dieser kleine Ort in den Bergen, dieses Waldkogel zwischen ›Engelssteig‹ und ›Höllentor‹ besaß ein ganz besonderes Flair.
Und schon war Boyd mit seinen Gedanken wieder bei der Arbeit. Diese urige Schönheit wollte er einfangen. Er überlegte, einige Aufnahmen nachts zu machen, mit dem spärlich erleuchteten Marktplatz. Vielleicht ein Trachtenpärchen, überlegte er. Vielleicht kann ich Simon dazu überreden mitzuwirken?
Boyd kam bei der Pension an. Xaver wartete an der Tür.
»Da bist du ja wieder!« bemerkte Xaver Baumberger und gähnte.
»Danke, daß Sie gewartet haben! Gute Nacht, Herr Baumberger, schlafen Sie gut!«
»Ich schlafe immer gut! Die Nacht wird heut’ besonders kurz, aber des ist ja net immer so. Gut, daß Sie ihr schönes Auto auf dem Quentmair Hof haben abstellen können. Da steht es mit Gewißheit besser als bei uns auf dem Hof.«
Xaver Baumberger, Tonis Vater, schloß die Tür ab. Boyd ging die Treppe hinauf. Xaver machte noch einen Rundgang durch alle unteren Räume des Wirtshauses und der Pension, so wie er es jeden Abend machte. Dann ging er auch schlafen.
Boyd packte erst jetzt seine Sachen aus. Er verstaute sie in der bemalten Kommode mit den drei großen Schubladen und dem dreitürigen Schrank, mit dem Spiegel in der Mitte. Boyd betrachtete sein Spiegelbild. Er gefiel sich. Er war groß, hatte breite Schultern und schönes schwarzes Haar. Nur seine Kleidung, die paßte nicht ganz nach Waldkogel. Er trug eine helle Baumwollhose, leichte braune Wanderschuhe, ein Baumwollhemd und eine Strickweste mit langen Ärmeln aus feinstem Kaschmir. Er war eben modern und zweckmäßig für eine Freizeit in den Bergen gekleidet, hatte er gedacht. Boyd erinnerte sich, wie Evi ihn vor der Kirche gemustert hatte.
Sie muß mir angesehen haben, daß ich nicht von hier bin, sagte sich Boyd. Gleich darauf korrigierte er sich. Sicherlich kennt sie alle Männer, besser alle Burschen, wie man hier sagt. Die müssen alle so sein wie Simon, Evis Bruder, dachte er. Leider waren am Abend in Wirtsraum beim Baumberger, außer den Touristen, die bei ihnen in der Pension wohnten, nur ältere Männer, außer eben Simon. Simon trug Lederhosen, seine Füße steckten nackt in derben Schuhen. Die breiten Hosenträger spannten sich über ein buntes weites Hemd, das keine durchgehende Knopfleiste hatte, eben ein Bauernhemd. Simon versuchte sich vorzustellen, wie er in solcher Kleidung aussehen würde. Obwohl er viel Fantasie hatte, konnte er sich nicht darin vorstellen. Je länger er darüber nachdachte, desto reizvoller erschien es ihm, sich Trachtenkleidung zuzulegen. Das wäre sicherlich auch von Berufs wegen eine gute Sache. Ich will ja auch Aufnahmen auf Bauernhöfen machen und beim Sägewerk und in der Kirche. Es ist sicherlich nicht zu verachten, wenn ich mich da etwas anpasse.
Da Boyd in der Werbebranche arbeitete, kannte er sich mit der Wirkung von Kleidung gut aus.
Boyd trat vom Spiegel zurück. Er zog sich aus, wusch sich kalt und legte sich ins Bett. Er lag in der Dunkelheit und überdachte den Tag. Dabei kam ihm immer wieder Eveline, Simons jüngere Schwester in den Sinn. Welch ein Zufall, dachte er, daß ich in der Wirtstube mit ihrem Bruder bekannt wurde. Simon ist sehr stolz auf seine kleine Evi. Warmherzig hatte Simon von Evi erzählt. Simons herzliches Lachen klang Boyd noch immer in seinen Ohren, nachdem er Simon davon erzählt hatte, wie Evi auf und davon gegangen war, nach seiner Anspielung.
Wie ein richtiger Film lief die Unterredung mit Simon vor seinem Innerem ab.
»So ist die Evi eben! Net jeder kann so etwas zu ihr sagen. Des war zu persönlich, Boyd. Des war ein bisserl früh. Wenn du hier einem Madl so etwas sagen willst, dann ist es besser, ein bisserl zu warten und vorsichtig zu sein. Aber des kannst ja net wissen, bist ja net aus den Bergen und wirst auch net in den Bergen bleiben. Mußt dich mit den Gepflogenheiten net belasten. Es dauert schon eine Weile, bis ein Fremder da durchblickt. Außerdem sind die Ma-dln hier im allgemeinen und meine kleine Schwester ganz im besonderen vorsichtig, was Komplimente von Touristen angeht. Da tun die Madln höllisch aufpassen.«
»Du meinst, alle junge Frauen – pardon – alle Madln sind der Meinung, daß ein Mann von außerhalb nur ein wenig spielen will – ein wenig flirten und nach dem Urlaub fährt er wieder?«
»Du hast es erfaßt!«
Es war Boyd, als hörte er das Gespräch zwischen sich und Simon noch einmal und noch einmal. Immer wieder klang der letzte Satz in ihm nach.
›…ein Mann von außerhalb nur ein wenig spielen will – ein wenig flirten und nach dem Urlaub fährt er wieder…‹
Ja, ich werde auch wieder fahren. Ich mache zwar keinen Urlaub hier, aber ich werde wieder abreisen. Doch dann kam Boyd eine Idee. Waldkogel ist ein schöner Ort. Ich habe immer Pausen zwischen den Aufträgen, und dieser hier, der wird ohnehin länger dauern. Jetzt mache ich die Aufnahmen im Sommer. Aber ich muß im Herbst und Winter noch einmal wiederkommen und fotografieren. Ich könnte mir hier eine Wohnung nehmen. Vielleicht gibt es eine leerstehende Almhütte, überlegte er. Dann könnte ich hier viel Zeit verbringen. Ich richte mir ein Zweitstudio ein. Das wird Arnold und seinem so von den Bergen und insbesondere von Waldkogel begeisterten Chef sicherlich zusagen. Wenn ich hier noch ein Studio habe, dann sind die Folgeaufträge so gut wie sicher.
Das waren nüchterne berechnende Überlegungen. Gleichzeitig verspürte er tief in seinem Herzen, daß er sich selbst belog. Er wollte es nicht wahrhaben. Nein, er wollte es sich nicht eingestehen, daß der Hauptgrund, warum er in Waldkogel Wurzeln schlagen wollte, einzig und allein Evi war. Boyd ließ diesen Gedanken gar nicht erst richtig aufkommen. Sicherlich gefiel ihm Evi. Aber er und eine feste Bindung? Nie und nimmer! Das hatte er sich geschworen. Er wollte sich nicht lächerlich machen. Sich verlieben und dazu noch in eine junge Frau aus einem Bergdorf, eine junge Bäuerin!
Boyd machte das Licht an. Er trat ans Fenster, setzte sich auf die Fensterbank und rauchte eine Zigarillo. Dabei dachte er an Evi. Immerhin gestand er sich ein, daß sie ihn schon interessierte. Vielleicht war Boyd so begierig nach näherem Kontakt mit Evi, weil es seine Eitelkeit kränkte, daß sie ihn nicht sofort schmachtend angesehen hatte, wie er das von seinen Musen gewöhnt war. Er sah ihre schönen großen blauen Augen vor sich und ihr blondes Haar. Sie schien ihm begehrenswert, wie ein Preis, den er erringen wollte. Gleichzeitig ahnte er, daß es mit Evi nicht so einfach sein würde. Ein sachliches Abkommen, wie er es sonst mit jungen Frauen hielt, das war hier sicherlich nicht möglich. Zu Evi kann ich nicht sagen, ich will mich nicht binden, ich werde dir nie sagen ›Ich liebe dich‹. Es dauert mit uns, solange es eben dauert. Wir haben eine schöne Zeit, ohne Verpflichtungen auf beiden Seiten.
Je mehr und je länger er darüber nachdachte, desto unmöglicher erschien es ihm, sich Evi überhaupt zu nähern. Er wußte, sie war keine junge Frau, mit der man spielen konnte. Boyd war plötzlich klar, daß es ihm auch unmöglich war, in ihr nur eine mögliche Gespielin zu sehen.
Es ist besser, ich gehe ihr aus dem Weg. Das wird mir zu gefährlich, überlegte er. Evi ist eine, an der ich mir die Finger verbrennen kann. Und dann gibt es da auch noch Simon, ihren Bruder. Er hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß er niemals dulden würde, daß ein Mann die Ehre seiner Schwester verletzte. Wenn ich ernste Absichten hätte – rein theoretisch, dann müßte ich wohl erst Simon überzeugen, dachte Boyd. Dann lachte er über sich selbst.
Welchen verrückten Gedanken ich mich hingebe! So etwas ist mir noch nie passiert! Das muß diese dünne Gebirgsluft sein, die mein Gehirn vernebelt. Ich werde Evi nie mehr sehen! Ich werde meine Aufnahmen machen und dann abreisen. Ende! Aus! Jedes andere Verhalten wäre totaler Unsinn und dazu sehr risiko-reich. Boyd rauchte zu Ende. Dann ging er schlafen. Seine letzten Gedanken galten doch Evi. Dabei sagte er sich vor, daß er sie nie, nie mehr sehen, noch sich in ihrer Nähe aufhalten wollte. Das mit seinem Auto, welches in der Scheune des Quentmair Hofes parkte, das würde er irgendwie mit Simon regeln.
*
Am nächsten Morgen war Simon pünktlich zur Stelle. Er hielt mit seinem Geländewagen und laufendem Motor vor dem Wirtshaus ›Beim Baumberger‹. Boyd, der vor dem Haus auf ihn gewartet hatte, legte seinen Kamerakoffer und seine Reisetasche in den Wagen. Er stieg aber nicht ein.
»Simon, ich brauche noch eine halbe Stunde. Ich will zu dem Andenken- und Trachtenladen beim Marktplatz.« Boyd schaute an sich herunter und hob die Schultern. »Ich bin zwar ganz gut angezogen, aber ich fühle mich etwas wie ein Fremdkörper hier. Ich dachte mir, es sei nicht schlecht, wenn ich mich etwas anpasse.«
Simon lachte.
»Steig ein! Ich komme mit! Die Idee ist net von der Hand zu weisen. Aber die Verwandlung, die wird nur äußerlich sein. Immerhin ein Anfang. Doch ein richtiger Bergler wirst nicht so schnell. Da gehört mehr dazu.«
»Ich werde sicherlich nie und nimmer ein Bergler werden. Das strebe ich auch nicht an. Ins Theater geht man mit Krawatte und im dunklen Anzug. Hier in den Bergen trägt man Loden und Leder. Das gehört doch wohl zum Stil hier.«
»Zum Stil?« grinste Simon. »Du redest ziemlich geschwollen. Ich weiß nur, daß es hier in den Bergen schon immer so war. Doch es kommt net nur auf die Kleidung an, auf Lederhosen, Lodenjanker und Hut mit einem Gamsbart.«
Simon wendete das Auto. Dann sprach er weiter.
»Mußt aufpassen, daß du dich mit den Sachen net lächerlich machst. Weißt, hier kommen viele Touristen her, die sich anziehen, als seien sie Einheimische. Da können wir Waldkogeler nur drüber lachen. Die sehen richtig verkleidet aus. Die machen sich lächerlich, sage ich, und mit dieser Meinung stehe ich nicht alleine. Des wäre genauso, als würde ich plötzlich auf Stadtkleidung und modischen Schnickschnack stehen. Des Zeug würde net zu mir passen. Ich sähe darin aufgebrezelt aus.«
»Aufgebrezelt?«
»Ja, Boyd, so sagt man hier, wenn sich jemand besonders fein macht. Es kann aber auch bedeuten, daß er sich lächerlich macht.«
Sie hielten vor dem Laden. Die Bollers hatten gerade geöffnet und begrüßten Simon freundlich. Dieser übernahm auch gleich das Gespräch. Er beriet Boyd fachkundig. Der Fotograf kaufte sich eine Kniebundhose aus dunkelgrünem Rehleder, Wollstrümpfe, einige bunte Hemden, eine ärmellose Weste und eine Lodenjacke, dazu einen Filzhut mit breitem Rand. Simon verhinderte, daß Boyd sich einen Hut mit einem Gamsbart kaufte.
»Des tust besser lassen. Schaust damit aus wie mit einer Narrenkappe. Du bist kein Bergler. Damit machst dich nur lächerlich.«
Boyd befolgte Simons Rat. Er erstand dann noch einen schönen großen Rucksack mit einem Beckengurt.
»Dann kann es ja losgehen«, bemerkte Veronika Boller. »Ich wünsche schöne Tage in den Bergen. Wo soll’s hingehen?«
»Ich bringe den Boyd rauf zur Berghütte!«
»Des ist schön, Simon. Grüß Toni und Anna von uns!«
»Das mache ich doch gern!«
Die beiden Männer verabschiedeten sich. Sie stiegen ins Auto und fuhren den Milchpfad hinauf zur Oberländer Alm. Dort packte Simon seine Sachen in den Rucksack. Simon unterhielt sich kurz mit Wenzel und Hilda Oberländer. Dann wanderten Boyd und Simon den schmalen Pfad hinauf.
Immer und immer wieder blieb Boyd stehen. Er schaute in die Weite.
»Welch herrlicher Blick! Laß mich eine Aufnahme machen!«
»Naa, des kannst immer noch! Die Berge sind ewig, die laufen dir net davon, Boyd. Mei, ich kann ja verstehen, daß du knipsen willst. Aber ich denke, daß es wirklich besser ist, wenn du erst einmal die schöne Landschaft mit dem Herzen aufnehmen tust. Schaue sie dir an und nimm alles in dein Herz auf. Vergeß für die nächsten beiden Tagen, daß du zum Fotografieren hier bist. Du mußt erst ein Gefühl für die Berge bekommen.«
»Vielleicht hast du nicht ganz unrecht, Simon!«
Boyd packte den Fotoapparat wieder ein.
»Ich habe mir vorgenommen, dir die Berge nahe zu bringen. Ich bin dein Führer. Du bezahlst mich sogar dafür. Also vertraue dich mir an. Ich will dir mehr zeigen als schöne Plätze. Ich will versuchen, dir die Berge wirklich nahe zu bringen und unser Leben hier. Wir leben mit den Bergen und der Natur. Wir schauen sie mit allen Sinnen an, nicht nur durch eine Linse. Wirklich, die Berge kannst du nur erfassen, wenn du bereit bist, sie auf dich wirken zu lassen. Du mußt dich daran erfreuen können. Es muß ein wunderbares Glücksgefühl in dir aufsteigen, ein Gefühl, daß du die Arme ausbreiten und Berge, Wiesen und Himmel umarmen möchtest. Dann bist du angekommen – zumindest wirst du den Anfang gemacht haben.«
Wortlos gingen sie weiter. Boyd begriff langsam, daß die Menschen hier in Waldkogel und den Bergen so ganz anders lebten als in der Stadt. Er konnte noch nicht genau sagen wie, aber er ahnte es. Sie sind zu beneiden, dachte er. Er besah sich Simon, der auf dem schmalen Pfad vor ihm herging. Er ruhte in sich. Er bewegte sich langsam und gleichmäßig und doch so kraftvoll. Nichts hetzte ihn, nichts trieb ihn an. Simon strahlte Ruhe und Gelassenheit aus und eine tiefe innere Zufriedenheit.
Wortlos gingen sie weiter. Boyd hatte viel Zeit zum Nachdenken.
Dann erreichten sie die Berghütte. Toni und Anna begrüßten Simon herzlich.
»Mei, des ist eine wirkliche Freude, daß du uns besuchen tust, Simon. Wenn ich so nachdenke, dann bist seit unserer Hochzeit nimmer oben gewesen.«
»Naa, Toni! Da irrst du dich! Ich war noch einmal oben. Des ist der Tag gewesen, an dem wir alle geholfen haben, die beiden Zimmer für die Bichler Kinder an die Berghütte anzubauen, als ihr die beiden Waisenkinder aufgenommen habt.«
»Richtig! Da bist auch dabei gewesen!«
»Franziska und Sebastian scheinen sich gut eingelebt zu haben, wie?«
»Ja, das hoffen wir, die Anna und ich! Wir wissen, daß wir ihnen die Eltern net ersetzen können. Aber wir bemühen uns. Anna und ich sind sicher, daß die beiden uns als Ersatzeltern angenommen haben. Die Franziska und der Sebastian sagen Fremden, wenn sie nach dem Namen gefragt werden, daß sie die Baumberger Kinder sind und net die Bichler Kinder.«
»Ah! Damit wollen sie wohl zeigen, daß sie dazu gehören wollen.«
»Richtig, Simon! Aber sie wollen auch nicht nach dem Unglück gefragt werden. Doch wie es im Herzen der Kinder ausschaut, des weiß allein nur der Herrgott und die Engel vom ›Engelssteig‹. Dann und wann klettere ich mit dem Basti hinauf. Dann sitzt der oben unter dem Gipfelkreuz und schaut hinauf in die unendliche Weite des Himmels.«
»Die Franzi nimmst nicht mit?«
»Die Franzi ist noch zu klein. Einmal haben wir, also der Leo von der Bergwacht und einige Kameraden, eine Seilschaft gebildet und die Franzi mit auf den ›Engelssteig‹ genommen. Das war für sie ein besonderes Erlebnis. In einigen Jahren wird sie alt und kräftig genug sein, selbst zu klettern. Zum Glück ist des heute ganz anders als früher, da gehen die Madln auch in die Berge und erklimmen die Gipfel.«
»Wenn sie Freude dran haben, dann sollen sie es ruhig machen. Die Evi ist auch eine begeisterte Bergsteigerin, wenn sie auch seltener klettern geht.«
Boyd hörte genau zu, als Simon und Toni sich über Evi unterhielten. Dabei erfaßte ihn eine sonderbare Unruhe. Er versuchte sich abzulenken. Er drehte sich auf der Terrasse der Berghütte um und schaute über das Geröllfeld. Diese schroffe karge Schönheit der Höhe ergriff sein Herz. Sein Blick wanderte hinauf zu den Gletschern und den Schneefeldern, die hell in der Sonne glitzer-
ten.
Toni und Simon unterhielten sich nicht mehr lange. Dann zeigte Toni ihnen die Kammer. Die Berghütte war gut besucht und ausgebucht. So mußten Simon und Boyd sich eine Kammer teilen. Anschließend nahmen sie eine Brotzeit ein. Toni und Anna hatten wenig Zeit. Es ging auf Mittag zu. Immer mehr Wanderer kamen und wollten rasten und essen.
»Nun, was ist dein erster Eindruck, Boyd? Habe ich dir zuviel versprochen? Du redest wenig!«
»Da gibt es kaum etwas zu sagen! Höchstens einfach nur: überwältigend! Da muß man schweigen und schauen. Es stellt sich im Innern so ein Gefühl ein, das sich schwer in Wort fassen läßt.«
»Ehrfurcht!« sagte Simon leise. »Ehrfurcht vor Gottes schöner Natur.«
»Ja, so wird es sein! Es ist großartig hier! Kein Foto kann das wirklich ablichten.«
»Genauso ist es! Doch wirst sehen, es kommt noch besser. Wir brechen gleich zu einer Wanderung auf.«
»Wo führst du mich hin?«
»Wir gehen rüber zum ›Erkerchen‹! Das ist nicht weit. Dann folgen wir dem Weg bis er auf den Pilgerpfad mündet. Der Pilgerpfad ist breiter. Dort können auch Fahrzeuge der Forstverwaltung und der Bergwacht fahren. Der Weg führt über die Berge bis in die Heilige Stadt. Es stehen viele Schutzhütten am Weg und Marterl. Ich fühle, da tief drinnen«, Simon schlug sich an die Brust, »immer eine Ergriffenheit, wenn ich ein Stück den Pilgerweg wandere. Dort ist es besonders schön. Wirst schon sehen! Dort findest du zu dir selbst.«
Sie brachen auf. Boyd scheute sich davor, seinen Fotoapparat mitzunehmen. Vielleicht engt er mir doch den wahren Blick für die Schönheit ein.
Sie zogen los.
Fast wortlos wanderten sie bis zum späten Nachmittag den Pilgerweg entlang. Boyd spürte, wie ihn ganz langsam eine tiefe innere Ruhe erfaßte. Er dachte nicht mehr, er plante nicht mehr. Er fühlte nur noch. Die Ruhe der Berge senkte sich tief in sein Herz.
Boyd und Simon setzten sich vor einer Schutzhütte auf eine Bank. Sie schauten in die Weite und aßen die mitgebrachte Wegzehrung, die ihnen Anna eingepackt hatte.
Plötzlich klingelte Boyds Handy in der Hosentasche. Boyd holte es heraus. Er schaute auf das Display. Er nahm das Gespräch nicht an. Als es aufhörte zu läuten, stellte Boyd das Gerät ab.
»Diese Zivilisation!« stöhnte er leise. »Ich will jetzt mit niemanden reden.«
Simon schaute Boyd überrascht an.
»Es könnte doch wichtig sein!«
Boyd packte das Handy in den Rucksack. Etwas unsicher schaute er Simon an.
»Das klingt jetzt vielleicht verrückt. Aber ich will mir die Andacht hier nicht zerstörten lassen durch Geplauder, das bei näherem Hinsehen doch nur unnötige und leere Wortblasen darstellt.«
»Mei, Boyd! Des ist kein Unsinn! Bist auf dem bestem Weg ein Bergler zu werden.«
Boyd nickte.
»Mir war heute nacht schon so sonderbar, als ich von eurem Hof zurück zur Pension ging und dann noch einmal später, als ich nachts am Fenster stand und zu den Sternen hinaufsah. Die Berge, die Landschaft hier, von allem geht ein ganz besonderes Flair aus, dem sich wohl keiner entziehen kann.«
»Flair! Ja, so reden die Städter und die Touristen.«
»Klingt nach Kritik, Simon!«
»Naa, mir gefällt nur net des Wort. Die Berge habe Ausstrahlung, ja... Alles wird ins rechte Licht gerückt, so sehe ich es. Da wird es mir als Mensch bewußt, wie klein und unbedeutend wir doch sind, wie begrenzt unsere Zeit auf Erden ist. Die Berge sind ewig.«
»Das stimmt! Mich verwirrt es noch etwas. Mein Weltbild kommt ins Wanken. Ich frage mich, ob es noch andere Möglichkeiten gibt, zu leben, als ich es bisher gemacht habe.«
»Darauf kann ich dir keine verbindliche Antwort geben. Das mußt du selbst herausfinden, Boyd.«
Simon zögerte etwas und fragte dann:
»Du lebst alleine? Du hast keine Frau oder Freundin, ein Madl, wie man hier sagt?«
»Ich bin kein Mann für den Heirat, Ehe, Familie und Kinder wichtig sind. Oder soll ich sagen waren? Sicherlich habe ich Freundinnen. In meinen bisherigen Kreisen nennt man so etwas Musen. Bei den einen bleibt es bei rein platonischer Zuneigung, bei anderen ist es mehr. Aber nie dachte ich an eine gemeinsame Zukunft.«
»Dann bist nie richtig verliebt gewesen?«
»Verliebt? Das ist ein so vielschichtiger Begriff und er ist auch gefährlich. So dachte ich jedenfalls bisher. Er bedeutet Bindung und Verpflichtung! Hast du eine Freundin, Simon? Oder wie man hier sagt, ein Madl?«
»Ja, da tut sich etwas! Ich bändele mit der Freundin von Evi an. Sie gefällt mir. Sie kommt öfter auf den Hof, wenn sie Evi besucht. Ein liebes Madl ist sie. Außerdem ist sie gut mit Evi befreundet. Die beiden sind zusammen in die Schule gegangen. Evi hat sich geschworen, daß sie nur einen Burschen heiratet, der auf den Quentmair Hof zieht. So werden später zwei Familien hier leben. Dann ist es gut, wenn sich die Weiber verstehen. Bei der Evi und ihrer Freundin muß ich mir keine Sorgen machen.«
»Dann entscheidest du auch vom Kopf her, Simon!«
»Naa! Zuerst hab’ ich mich verliebt. Ich frage mich nur, warum des so lange gedauert hat, bis ich es erkannt habe, was für ein fesches Madl sie ist. Na ja, alles hat eben seine Zeit. Doch jetzt bin ich auf dem besten Weg, sie zu erobern.«
»Wie machst du das? Schickst ihr Blumen?«
Simon lachte.
»Naa, auf jedem Hof gibt es einen Blumengarten. Ich bin nett zu ihr, setzte mich zu ihr, wenn sie kommt. Dann rede ich lieb mit ihr. Sie hat das gerne. Bald ist ein Tanzfest in Waldkogel. Dann frage ich sie, ob sie mit mir tanzen geht. Wenn ein Bursche mit einem Madl zum Tanz geht, dann kann jeder sehen, daß sie sich mögen. Nach dem Tanz gehen wir dann nachts spazieren am Bergsee.«
Simon lachte.
»Wir werden dort nicht die einzigen sein! Aber das stört uns nicht.«
»Dann hast dich bisher nie mit einem Madl verabredet?«
»Naa! Wenn Tanz war, dann sind die Evi und ich zusammen hingegangen. Ich tanzte mal mit dem einen und dann mit anderen Madln. Und Evi hielt es genauso. Evi hat viele Freunde, aber keinen Burschen, wenn dich des interessiert, wie?«
»Meinst, das sollte ich wissen?«
»Nun, es hätte ja sein können.«
Simon dachte an Evi. Er sah sie vor sich, mit ihren großen blauen Augen und ihrem wunderschönen Haar.
»Ich will mich nicht binden, Simon. Eine Bindung paßt nicht zu mir. Die Evi ist ein ernsthafter Mensch. Sie gehört zu der Sorte von Frauen, die zum Traualtar geführt werden wollen. Ich will nicht leugnen, daß deine Schwester schon besonders ist. Sie fiel mir auf. Ihren Blick werde ich nie vergessen. Diese Reinheit und Ehrlichkeit! Doch du kannst unbesorgt sein. Ich gehe ihr aus dem Weg.«
»Evi scheint dir auch aus dem Weg zu gehen! Sie ist nicht gut auf dich zu sprechen. Evi hat Temperament. Sie kann richtig poltern, wenn ihr etwas nicht paßt. Du hast auch einen Eindruck bei ihr hinterlassen.«
»Scheinbar keinen guten, wie?«
»Das weiß ich nicht! Das mußt du sie schon selbst fragen. Ich riskiere nicht, mit ihr über dich zu sprechen. Ich will keinen Ärger auf dem Hof haben. Ein Wort über dich – und vielleicht hängt der Haussegen schief.«
Simon rieb sich verlegen das Kinn.
»Ich will ehrlich zu dir sein, Boyd! Des ist kein Zufall gewesen, daß ich gestern abend noch mal zum Baumberger gekommen bin. Es war meine Absicht, daß du in der Nacht dein Auto in die Scheune fährst. Die Evi war nämlich dagegen. Die hat ganz schön getobt, als sie es hörte.«
»Der Vergleich mit einem Engel ging wohl gründlich daneben!«
»Ja, das ist er! Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder du stellst das klar und redest mit Evi oder du
gehst ihr aus dem Weg!«
»Ich werde ihr besser aus dem Weg gehen. Wenn ich mein Auto brauche, dann kannst du es mir zu den Baumbergers bringen. Willst du das tun, Simon?«
»Das mache ich!«
»Gut! Ich schätze dich, Simon. Es wäre schade, wenn Evi zwischen uns stehen würde. Ich muß oft nach Waldkogel kommen. Mein Auftrag verlangt es. Die Berge gefallen mir. Vielleicht kannst du es einrichten, daß du Zeit hast und wir wandern gehen. Vielleicht werde ich sogar zum Bergsteiger?«
»Ein großes Ziel! Aber die Aussicht vom ›Engelssteig‹ ist mit nichts zu vergleichen. Der Aufstieg ist anstrengend. Ein bisserl trainiert solltest du schon sein. Doch wenn du wirklich hinauf willst, dann rede ich mit einigen Burschen. Wir bilden eine Seilschaft und nehmen dich Anfänger in die Mitte. Dann wird es schon gehen. Also es liegt ganz bei dir, Boyd!«
»Danke, ich werde es mir überlegen! Vielleicht bei meinem nächsten Besuch.«
Simon und Boyd blieben, bis die Sonne langsam sank. Dann traten sie den Rückweg zur Berghütte an.
In der Nacht schlief Simon fest. Boyd konnte ihn atmen hören. Leise schlich er aus der Kammer hinaus. Er setzte sich auf die Terrasse der Berghütte und schaute hinauf in den Sternenhimmel. Er war unruhig in seinem Innern, trotz der Gelassenheit, die die Berge ihm geschenkt hatten. Die innere Unruhe konnte Boyd auch benennen: Evi! Immer und immer wieder sagte er sich, daß er ihre Nähe meiden mußte. Doch er konnte das Bild von ihr in seinem Herzen nicht löschen. Er dachte an seine Musen, die am Montag kommen würden für die Aufnahmen. Er betete sich seine Grundsätze vor und doch mußt er immer und immer wieder an Evi denken.
Um sich abzulenken, sehnte Boyd den Wochenanfang herbei. Dann hatte er viel zu arbeiten und konnte nicht an sie denken. Außerdem würden Gritt, Biggi und Lolly schon für Zerstreuung sorgen.
*
Sonntags wanderten Boyd und Simon wieder hinunter zu der Oberländer Alm und dann weiter. Simon zeigte Boyd schöne Plätze, die sich als Hintergrund eigneten. Er brachte ihn auch in den Forst und stellte ihn im Forsthaus dem Förster Hofer vor. Boyd wollte auf einigen Hochsitzen Bilder knipsen. Er stellte sich das schön vor: Die Models in Dirndl auf der Leiter des Hochsitzes oder an einen Baumstamm gelehnt.
Es war schon dunkel, als Boyd und Simon nach Waldkogel zurückkamen. Bei den Baumbergers fand Boyd eine Nachricht vor, daß sein Troß mit Models und Ausstattung schon eingetroffen war und im Hotel ›Zum Ochsen‹ auf ihn wartete. Boyd ging sofort hin.
Gritt, Biggi und Lolly freuten sich, ihn zu sehen. Sie lachten über ihn.
»Boyd, du siehst ja aus wie einer aus den Bergen – diese Hosen und der Filzhut. Kaum zu glauben, daß du es bist!«
Boyd ging mit den jungen Frauen und dem Rest vom Team in die Hotelbar. Er spendierte Sekt. Sie ver-gnügten sich bis spät in die Nacht. Boyd ertappte sich immer wieder dabei, wie er Gritt, Biggi und Lolly heimlich mit Eveline verglich. Es kostete ihn viel Mühe, diese Gedanken zur Seite zu schieben. Wenn die Models morgen für die Aufnahmen umgezogen sind, dann werden sie in den Dirndl bestimmt reizend aussehen, ganz wie die Evi, hoffte er.
Doch diese Erwartung erfüllte sich nicht, weder am nächsten Tag, noch an einem der kommenden. Die ganze Woche über fotografierte Boyd die jungen Schönheiten in der Trachten- und Landhausmode. Sie posierten am Bergsee, auf Almwiesen, im Forst, beim Hochsitz, vor der schönen Barockkirche und an vielen weiteren Plätzen. Es war eine schwere Arbeit nicht nur für Boyd, denn die jungen Frauen gefielen ihm nicht mehr. Egal, wie sie lächelten und sich präsentierten, Boyd war nie zufrieden. Gritt, Biggi und Lolly litten unter Boyd sehr. Es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Alle waren froh, als das erste Fotoshooting beendet war.
Gritt, Biggi und Lolly reisten sofort ab. Sie wollten keinen Augenblick länger bei Boyd bleiben. Sie hielten ihn für total überdreht. So kannten sie ihn nicht. Sie suchten nach einer Erklärung. Schließlich schoben sie Boyds sonderbares Verhalten auf die dünne Luft in den Bergen.
»Die Luft muß eine Sauerstofflücke im Gehirn hervorgerufen haben. Er kleidet sich auch so sonderbar, einfach lächerlich, wie er aussieht«, seufzte Gritt.
»Richtig! Dann sein Gerede! Natürlich aussehen! Unschuldig aussehen! Ich weiß einfach nicht, was er erwartet hatte«, ärgerte sich auch Biggi, die nach dieser Woche genervt war.
Auch Lolly erkannte ihren Boyd nicht mehr. So hatte sie ihn noch nie erlebt.
»Hört mal! Ich habe mich entschieden. Mich kann er nicht mehr für Aufnahmen in Waldkogel buchen. Mit mir nicht! Dann noch dieser Gestank nach Kühen und sonstwas auf den Almen – nein! Ich sage nein! Studioaufnahmen – gern! Aber keine Bilder mehr mit mir hier in Waldkogel! Da muß er sich eine andere suchen!«
Gritt und Biggi verstanden Lolly gut. Sie wollten nur noch fort.
Am nächsten Tag brachte Simon Boyds Auto zur Pension. Die beiden Männer verabschiedeten sich herzlich.
»Kommst bald wieder, Boyd?«
»Das weiß ich nicht genau! Ich muß die Bilder jetzt meinem Auftraggeber vorlegen. Dann sehe ich weiter!«
Die Männer schüttelten sich die Hände. Gern hätte Boyd Simon Grüße an Evi mitgegeben. Aber er scheute sich davor, auch nur ihren Namen zu erwähnen. Dabei dachte er inzwischen fast nur noch an sie. Aber davon sollte niemand etwas wissen. Er hoffte, daß sich das ändern würde, sobald er Waldkogel hinter sich gelassen hatte.
Simon stand auf der Straße und sah Boyd nach,wie er davonfuhr.
»Mei, den hat es auch erwischt, auch wenn er es nicht zugeben will, genau wie Evi. Doch vielleicht ist es besser so, wie es ist.«
Die Hände in den Hosentaschen seiner Lodenhose schlenderte Simon heim. Seine Eltern und Evi waren in der Küche.
»Soll noch mal Grüße sagen von Boyd und ein herzliches Danke für die Unterstellungsmöglichkeit in unserer Scheune.«
»Kommt er mal wieder?« fragte Simons Vater.
Sofort brauste Evi auf.
»Auch wenn er noch einmal nach Waldkogel kommt. Sein Auto stellt er nimmer in unserer Scheune ab! Einmal habt ihr mich überlisten können. Ich verstehe ja auch, daß ihr euer Wort gegeben habt. Aber ein weiteres Mal kommt des net in Frage. Darauf will ich euer Wort haben. Ich mag den Boyd net und ich will ihn hier net sehen, weder ihn, noch sein Auto.«
Die Eltern und ihr Bruder warfen sich Blicke zu. Doch sie versicherten, daß Boyd, sollte es ein nächstes Mal geben, sein Auto woanders unterstellen mußte. Evi schien jetzt zufrieden.
Das war aber nur oberflächlich. Obwohl jetzt alles geregelt war und sie sich keine Sorgen machen mußte, ihm zu begegnen, war sie unruhig. Sie saß abends kaum noch mit den Ihren zusammen vor dem Haus. Entweder ging sie früh zu Bett oder zog sich auf den Balkon vor ihrem Zimmer zurück. Die Eltern und ihr Bruder waren ratlos.
»Die Zeit heilt alle Wunden!« sagte die Quentmairbäuerin. »Jeder von uns dreien weiß, daß der Boyd der Evi gefallen hat. Wenn des Madl ihn aber net will, dann ist des ganz allein ihre Entscheidung.«
Simon war froh, daß Evis Freundin oft kam. Vielleich sprach Evi mit ihr über das, was sie in ihrem Herzen bewegte. So vergingen die nächsten beiden Wochen.
*
Boyd schickte alle Aufnahmen zu Arnold. Dieser wollte eine erste Durchsicht vornehmen. Danach wollten sich die Freunde treffen. Boyd hatte Arnold zu einem Frühstück am Samstag eingeladen. Arnold kam pünktlich.
»Hallo! Komm rein!«
Sie setzten sich an den großen Tisch im Studio. Boyd schenkte Arnold Kaffee ein. Dieser trank und schmunzelte.
»Gibt es etwas? Haben dich die Aufnahmen überzeugt?« fragte Boyd. »Ich habe mein Bestes gegeben und die Mädchen auch!«
»Alles okay! Wirklich sehr zufriedenstellend! Der Chef hat sie auch schon gesehen. Er überraschte mich im Büro bei der Durchsicht. Von einem Bild war er besonders angetan! Er wünscht eine Serie – zusätzlich!«
»Keine Einwände! Ich wehre mich nicht gegen eine Erweiterung des Auftrages! Welches Bild war es denn? Du hast die Bilder nicht mitgebracht, wie? Kein Problem! Ich habe sie auch alle digital im Computer! Da können wir nachher nachsehen. Auf der Rückseite der Abzüge steht immer eine Nummer. Kannst du dich daran erinnern?«
»Da war keine Nummer drauf!« lachte Arnold.
Er beobachtete Boyd genau, während er genüßlich langsam sein Frühstücksei aß.
»Keine Nummer?« wiederholte Boyd.
»Richtig! Da stand keine Nummer darauf. Dafür war ein Frauenname notiert und ein Datum!«
Boyd lief rot an. Arnold sah, wie peinlich es ihm war.
»Habe ich dich jetzt ertappt! Evi heißt sie! Sie ist sehr hübsch. Eine wirkliche Schönheit! So natürlich! Der Chef war begeistert. Er will sie groß herausstellen.«
»Da ist der Abzug hingekommen! Ich dachte, ich hätte ihn zusammen mit dem Altpapier entsorgt.«
»Aha, dann hast du den Abzug für dich gemacht!«
»Kein Wort weiter, Arnold! Das war ein Schnappschuß. Eigentlich wollte ich den Marktplatz und die Hauptstraße fotografieren. Dann ging zufällig diese junge Frau vorbei. Sie ist kein Model! Ich habe auch nie wieder mit ihr gesprochen.«
»Aha! Du hast nie wieder mit ihr gesprochen. Damit gibst du zu, daß du aber mit ihr gesprochen hast, wie? Gestehe!«
Boyd fühlte sich in die Enge gedrängt. Er versuchte das Gespräch wieder auf eine geschäftliche Ebene zu heben.
»Diese Evi steht für Aufnahmen nicht zur Verfügung!«
»Hast du sie gefragt?«
Boyd schüttelte den Kopf.
»Also! Dann kannst du das auch nicht wissen. Frage sie!«
»Nein!«
»Nein?«
»Ja, nein! Sie spricht nicht mit mir.«
Es war einen Augenblick ganz still im großen Studio. Die Sonne schien durch die raumhohen Fenster. Boyd rührte seinen Kaffee. Wieder sah er in Gedanken Evi, wie sie bei der Kirche vor ihm stand. Sein Herz schlug schneller.
»Arnold! Es ist ganz ausgeschlossen! Jede andere junge Frau auf der Welt nehme ich vor die Linse, nicht Eveline Quentmair!«
»So, so! Quentmair heißt das Madl!« Arnold grinste. »Also mein guter Boyd! Nun ziere dich nicht so wie eine Primadonna! Was ist mit dieser Evi?«
»Nichts ist, nichts, außer daß ich ihr aus dem Weg gehe. Die kann einem ansehen, daß es einem bis ins Innerste trifft. Eine Teufelin ist sie! Hat man dir die Geschichten vom ›Engelssteig‹ und ›Höllentor‹ erzählt?«
»Jeder, der einmal Waldkogel besucht hat, kennt sie. Doch was hat diese alte Mär mit Evi zu tun?«
»Es stand eine dicke schwarze Wolke über dem Gipfel des ›Höllentors‹, als ich Evi angesprochen habe. Das ist ein schlechtes Zeichen!«
Arnold lachte schallend.
»Ich wußte nicht, daß dich solche Geschichten beeindrucken. Es scheint aber eines zuzutreffen: Das Madl scheint dich verhext zu haben. Du, Boyd, gibt es zu! Kann es sein, daß dich Amors Pfeil getroffen hat?«
Boyd schwieg eine Weile. Dann sagte er.
»Ihr Blick hat mich schon getroffen. Aber ich lasse mir nicht gefallen, daß ich mit Liebespfeilen beschossen werde. Ich reiße sie heraus.«
»Aber die Wunde schmerzt dich, wie?«
Arnold sah, wie verlegen Boyd war. Er genoß es. Ja, ja! Den guten Boyd hat es jetzt auch erwischt. Es ist eingetroffen, was er nie wollte.
Boyd holte Luft.
»Auch auf die Gefahr, daß du mich jetzt auslachst. Ja, ich gebe es zu. Evi hat mich beeindruckt. Wir haben noch nicht einmal eine Minute miteinander gesprochen. Davon sah ich auch nur sekundenlang ihre Augen, dann setzte sie die Sonnenbrille auf. Aber sie hat wunderbare blaue Augen.«
»Du bist verliebt in sie! Gib es zu!«
»Ich verliebt? Nein! Du weißt doch, wie ich zu Frauen stehe.«
»Boyd, nun mache es dir doch nicht schwerer als es ist. Ich kenne diese Phase von mir. Ich wollte es auch zuerst nicht wahrhaben, daß ich mich verliebt habe. Doch, als ich es mir eingestand, war ich richtig froh und glücklich. Nun sage ich dir etwas: Du kannst dich auf meine Verschwiegenheit verlassen. Es bleibt unter uns. Also?«
Boyd trank einen Schluck Kaffee. Er lehnte sich auf den Stuhl zurück. Er schaute Arnold in die Augen.
»Ich bin verwirrt. Ich weiß selbst nicht recht. Im Augenblick sehe ich in Evi nur eine Gefahr für mein Leben. Ich kann mich bei ihr auf nichts einlassen. Sie ist eine junge Frau, bei der gibt es nur ›Ja‹ und ›Nein‹, nichts dazwischen, keine Spielerei, kein Flirt, keine Liebelei, kein Abenteuer. Deshalb ist sie nichts für mich. Aber ich gebe zu, daß ich sie begehre. Vielleicht gerade deshalb, weil sie so unerreichbar ist. Verstehst du?«
»Und wie ich verstehe, mein Lieber! Du bist in sie verliebt. Du hast dein Herz an sie verloren. Du denkst ständig an sie. Bei allem, was du tust, kommt sie dir in deine Gedanken. So geriet das Foto auch in den Umschlag, den du mir gegeben hast. Das war dein Unterbewußtsein.«
Arnold lächelte Boyd an.
»Liebe ist keine Krankheit, kein Unglück! Ganz im Gegenteil! Dich hat es erwischt! Bei dir hat der Blitz eingeschlagen.«
»Und wenn schon? Das geht hoffentlich bald vorbei! Jedenfalls mußt du deinem Chef die Idee ausreden.«
»Unmöglich! Ganz unmöglich! Wenn der sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann will er es. Er dreht so lange daran herum, bis er es auch bekommt.«
Arnold belegte sich ein Brötchen mit Schinken. Er hatte Mitleid mit Boyd, der wirklich unglücklich aussah.
»Du mußt die Aufnahmen nicht selbst machen, Boyd. Beauftrage einen deiner Mitarbeiter damit.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage!« platzte Boyd heraus.
»Hast du Angst? Bist du am Ende eifersüchtig?«
Boyd schob seinen Frühstücksteller zur Seite. Er brachte keinen Bissen hinunter.
»Gut! Ich kann nicht essen, nicht schlafen, nicht denken!
Doch denken kann ich schon, aber ich kann nur an Evi denken.«
»Das ist Liebe! Glückwunsch! Dich hat es erwischt, das Schönste und Größte, was einem Mann widerfahren kann. Du hast die Frau für das Leben gefunden.«
»Ja, ja! Wer den Schaden hat, muß für den Spott nicht sorgen!« sagte Boyd bitter. Er schüttelte den Kopf. »Arnold, überlege doch einmal. Evi Quentmair ist die Jüngste von zwei Kindern auf dem Quentmair Hof. Sie hat noch einen älteren Bruder, Simon. Ich habe ihn im Wirtshaus kennengelernt. Wir sind zusammen wandern gegangen. Simon ist ein echter Bergler. Er hat mir die Berge nahe gebracht. Ohne ihn wären die Bilder bestimmt nicht so gelungen. Aber zurück zu Evi. Sie ist auf dem Bauernhof aufgewachsen und will dort auch nicht fort. Von Simon weiß ich, daß sie nur einen Mann heiratet, der mit ihr auf dem Quentmair Hof leben will. Sie will dort bleiben. Die Geschwister verstehen sich gut. Simon ist in Evis Schulfreundin verliebt. Aber ich bin dort ein Exot. Wenn ihr etwas an mir liegen würde, hätte sie Gelegenheit gehabt, in meine Nähe zu kommen. Aber sie ging mir aus dem Weg. Ich weiß sogar von Simon, daß mein Name auf dem Quentmair Hof nicht genannt werden darf. Da wird Evi böse.«
»Was für eine Geschichte! Du bist in Evi verliebt und willst sie nicht sehen! Sie geht dir aus dem Weg. Warum? Weil sie genau wie du Angst vor ihren Gefühlen hat.«
Arnold trank einen Schluck Kaffee.
Dann sprach er weiter:
»Schau, es kann schon einmal eine Wolke über dem Gipfel des ›Höllentors‹ stehen. Wenn ein Wetter aufzieht, dann kommen die Wolken meistens von der Bergseite aus der Richtung des ›Höllentors‹. Das kann dir jeder in Waldkogel bestätigen. Das ist nichts Ungewöhnliches. So, nun erzählst du mir einmal genau, wo, wann, wie du sie getroffen hast und was ihr gesprochen habt. Alle Einzelheiten!«
Zuerst berichtete Boyd stockend, dann flüssiger. Arnold hörte aufmerksam zu.
»Falls du nach einem Weg gesucht hast, mit ihr ins Gespräch zu kommen – nun jetzt hast du ihn. Das ist Schicksal! Du hast einen Grund, den Quentmair Hof zu besuchen. Gehe hin, wenn sie beim Mittagessen sind! Dann ist Simon auch dabei und Evis Eltern. Außerdem kannst du ihr das Bild und das Negativ geben. Du trägst dein Anliegen vor. Sie kann einem Gespräch nicht ausweichen. Du kennst ihren Bruder, bist sogar mit ihm in den Bergen gewesen. Du kennst ihren Vater. Wenn du mit ihr nicht über deine Gefühle, über eure Gefühle reden willst, dann mußt du das nicht tun. Jedenfalls nicht sofort. Frage sie, bitte sie, an deinem Auftrag mitzuwirken.«
»Was sollen das für Aufnahmen sein?«
»Festtagsdirndl und Brautmoden!«
»Das paßt wie die Faust aufs Auge!«
»Boyd, du benimmst dich wie ein kleiner Junge! Nun reiß dich zusammen. Du bist ein Starfotograf, bist erfolgreich. Du bist ein Profi. Gehe erst einmal ganz professionell an die Sache heran. Dann wirst du sehen. Einen Versuch ist es wert. Wenn es wirklich schiefgeht, dann verspreche ich dir, rede ich mit meinem Chef.«
»Gut! Ich probiere es! Mehr als rauswerfen kann sie mich nicht!«
»Richtig! Wann fährst du?«
Boyd schaute zur Uhr. Tief in seinem Innern zog es ihn nach Waldkogel zu Evi. Er konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Wie es sich alles gefügt hatte! Boyd hatte seit seiner Abreise darüber nachgegrübelt, wie er es anstellen könnte, mit Evi zu reden. Jetzt war diese Frage gelöst.
»Es ist Samstag! Fahre doch noch heute! Verbringe noch ein Wochenende in Waldkogel.«
Arnold stand auf.
»Ich gehe! Das Frühstück war gut! Danke! Ich rufe dich am Montag an. Dann treffen wir uns zum Mittagessen und du kannst mir alles erzählen. Ich wünsche dir viel Erfolg als Fotograf aber auch als Bursche, der sein Madl erobert.«
»Willst du nicht mit nach Waldkogel kommen?«
»Nein, meine Liebste wartet!«
Boyd brachte Arnold zur Tür. Wortlos schüttelten sie sich die Hände. Arnold ging. Boyd fing sofort an zu packen. Dazu suchte er erst einmal das Negativ von der Aufnahme mit Evi heraus. Danach machte er in der Dunkelkammer einen Abzug und hing ihn zum Trocknen auf. Bis das Papier trocken war, hatte er genügend Zeit, Vorbereitungen zu treffen.
*
Evi hatte sich am Samstagnachmittag mit ihrer Freundin Rosi verabredet. Evi holte Rosi daheim ab. Dann spazierten die beiden jungen Frauen zum Bergsee. Sie setzten sich ans Ufer.
»Denkst du immer noch an ihn, Evi?«
»Ja, ist es nicht schlimm? Ich denke den ganzen Tag an ihn. Ich überlege, was Boyd macht: Ißt er? Arbeitet er? Trifft er sich mit Leuten? Fotografiert er? Schläft er? Fährt er gerade Auto?«
Rosi hörte Evi ruhig zu, bis sie zu Ende war.
»Simon hat erzählt, daß Boyd irgendwann wieder nach Waldkogel kommen wird. Simon wird sich sicherlich mit ihm treffen. Die beiden Burschen verstehen sich gut. Wenn du willst, kann ich Simon wissen lassen, daß er Boyd ruhig einmal mit auf den Hof bringen kann. Wie denkst du darüber?«
»Ich weiß nicht, Rosi! Ich weiß überhaupt nichts mehr. In meinem Kopf ist alles ganz wirr, ein riesiges Durcheinander. Gleichzeitig ist da eine Leere. Nichts interessiert mich mehr. Sicher mache ich meine Arbeit auf dem Hof. Aber ich tue es mechanisch. Ich bin nicht mit dem Herzen dabei, verstehst?«
»Dein Herz sucht nach Boyd! Du magst ihn wirklich, wie?«
Evi schwieg eine Weile.
»Dir kann ich mich ja anvertrauen, Rosi! Ja, ich mag Boyd. Er gefällt mir, obwohl ich ihn nur einmal kurz vor der Kirche gesehen und mit ihm gesprochen habe. Dann habe ich ihn noch heimlich nachts von meinem Balkon aus beobachtet. Ich kann dir nicht viel über ihn sagen. Ich weiß nur, daß ich immerzu an ihn denken muß. Ich sehne mich nach ihm. Das ist unvernünftig, richtig?«
Rosi lächelte Evi an.
»Unvernünftig? Das weiß ich nicht. Ich denke, es ist Liebe. Liebe ist eine ganz eigene Sache. Da gibt es keine Regeln. Es passiert einfach irgendwann. Sieh mal! Nimm deinen Bruder und mich! Seit dem Kindergarten bist du mit mir befreundet. Es gab Zeiten, da war ich fast jeden Tag bei euch auf dem Quentmair Hof. Dein Bruder war auch immer da. Ich sah ihn als das, was er ist, dein Bruder. Ich war mit ihm weder befreundet, noch interessierte er mich. Ich nahm es einfach hin, daß es ihn gab. Das war bei ihm auch so. Plötzlich vor einigen Wochen bemerkte ich, daß er mich anders ansah. Er fiel mir auch auf. Er war nicht mehr nur dein Bruder, er war ein Bursche, der mir gefiel. Warum gefiel er mir nicht letztes Jahr, nicht schon früher? Diese Frage kann ich nicht beantworten. Simon geht es auch so. Es war einfach die Liebe, die sich sanft über uns herabgelassen und uns die Augen geöffnet hat. Bei dir und Boyd ging das schneller. Bei euch hat der Blitz eingeschlagen.«
»Ja, jedenfalls bei mir! Ich sah ihn an und wurde ganz unruhig. Ich bin nicht weggelaufen, weil er mich mit den Engeln vom ›Engelssteig‹ ver-glich. Ich hielt es in seiner Nähe keine Sekunde länger aus. Ich war auf eine solche Begegnung nicht vorbereitet. Da waren plötzlich Gefühle, die mir die Luft zum Atmen nahmen. Ich fürchtete, ohnmächtig zu Boden zu sinken. Es war eine Urgewalt, die da auf mich herabstürzte. Was sollte ich tun, Rosi? Ich rannte.«
Evi seufzte.
»Erinnerst du dich, daß wir damals in der Schule im Naturkundeunterricht gelernt haben, daß einige Tiere Fluchttiere sind. Bei Gefahr laufen sie davon. Andere, wie der Vogel Strauß, steckt seinen Kopf in den Sand. Ich verhielt mich in dieser Lage, die so neu, so überwältigend war, wie ein Tier das scheut, sich dann umdreht und rennt und rennt.«
Evi schüttete Rosi ihr ganzes Herz aus. Sie ärgerte sich, daß sie davongelaufen war. Evi ärgerte sich, daß sie immer die Fassung verloren hatte, wenn ihr Vater oder Simon von Boyd gesprochen hatten.
»Ich bin nur auf Abwehr gewesen.«
»Die Liebe traf dich mit einer Macht, die dich einfach unter Schock gesetzt hatte.«
»Ja, so wird es gewesen sein! Ich beneide dich und Simon. Ihr konntet euch langsam näher kommen. Das freut mich für euch. Ich finde es schön, daß du, meine Freundin, eines Tages zu unserer Familie gehören wirst.«
»Das sagst du so ruhig, Evi! Hat Simon mit dir gesprochen?«
»Simon mußte nichts sagen. Wir haben es alle gesehen, wie ihr euch näher und näher gekommen seid. Als du neulich zu uns auf den Hof gekommen bist, sagte meine Mutter: Zu wem kommt Rosi heute? Sie schaute uns Kinder an. Ist Rosi mit dir, Evi, verabredet oder mit dir, Simon? So fragte sie direkt. Simon wurde etwas verlegen. Er rieb sich das Ohrläppchen. Du kennst diese kleine Geste, die so rührend ist. Dann nahm er seinen Hut. Ich habe Rosi eingeladen, sagte er und ging dir entgegen. Mutter schmunzelte. Sie schaute dir und Simon nach, wie ihr zusammen in den Kuhstall gegangen seid.«
»Ach ja! Das war der Tag, als ihr das neue Kälbchen bekamt. Simon rief mich am Vormittag an. Er bat mich zu kommen. Er wollte mir das kleine Bullenkalb zeigen.«
Evi riß einige Binsen aus, die am Ufer standen. Sie spielte damit und ließ sie durch die Finger gleiten. Dann flocht sie sie zu einem Zopf zusammen.
»Rosi, hat dich Simon schon geküßt?«
»Ja, das hat er!«
»Wie ist das?«
»Schön, unsagbar schön!«
»Wie schön? Kannst du es nicht beschreiben?«
»Das ist schwer zu beschreiben. Es ist… es ist… es ist….«
Rosi dachte nach.
»Es ist ein Liebesversprechen ohne Worte! Simon sagte mir erst danach, daß er mich liebt. Erst küßte er mich.«
»Du hast dich küssen lassen, ohne daß er dir gesagt hat, daß er dich liebt?«
»Ja! Es war doch alles geregelt zwischen uns, wenn auch nicht mit Worten, sondern mit Blicken. Ich las in seinen Augen, daß er mich liebt und er las es in meinen Augen. Was sollten wir noch Worte machen? Es war eben soweit, daß wir uns küssen mußten.«
»Mußten?«
»Ja! Die Liebe brachte unsere Lippen immer näher, bis sie sich berührten. Es war ein wunderschöner Augenblick. Ich werde ihn niemals mehr vergessen.«
»Wann war das?«
»Evi! Du bist ganz schön neugierig!«
»Ich weiß. Das muß dir so vorkommen. Aber ich kann doch sonst niemanden fragen. Es ist keine Neugierde, nenne es Wissensdurst.«
Rosi lachte.
»Dann soll ich dir wohl so eine Art Nachhilfe geben, wie?«
»Ach, ich weiß auch nicht. Ich denke, ich bin verliebt in diesen Boyd. Dabei ist das ein schrecklicher Name, findest du nicht auch?«
»Selten! Aber er ist auch nicht aus den Bergen, sondern ein Künstler, ein Fotograf.«
»Stimmt! Er ist kein Bauer, kein Förster, er arbeitet nicht im Sägewerk, hat keine Arbeit in Kirchwalden. Er kommt von weit her und macht Fotos für Kataloge. Sage selbst, Rosi, was soll ich mit einem solchen Burschen anfangen?«
»Lieben! Das tust du doch schon, nicht wahr?«
»Ja, ja! Ich bin verliebt. Aber wie soll es weitergehen? Was soll aus der Liebe werden? Ich liebe unseren Hof, das Leben dort. Ich liebe die Berge. Ich kann nicht, ich will nicht von hier fort.«
»Ich sehe, du denkst bereits weiter, Evi!«
»Ja, ich denke und denke und denke! Ich grüble und denke, bis ich Kopfschmerzen bekomme.«
Evi schaute Rosi ernst an.
»Rosi, was ist? Was wird, wenn ich mich entscheiden muß zwischen der Liebe zu Boyd und meiner Heimat? Kann man einen Burschen so lieben, daß die Liebe zu ihm größer ist als alles andere?«
»Ja, Evi, das kann man. Das ist Liebe!«
»Dann ist es wirklich schlimm!« flüsterte Evi leise vor sich hin. »Aber es gibt noch Hoffnung. Vielleicht liebt er mich nicht? Könnte doch sein, oder? Dann bin ich unglücklich verliebt. Ich leide eine Weile und dann ist es vorbei wie ein Schnupfen, oder?«
»Das kann ich dir nicht sagen, Evi! Ich war nie unglücklich verliebt. Ich war nie verliebt, bevor Simon und ich entdeckt haben, daß wir zusammengehören. Da kann ich dir nur den einen Rat geben: Du mußt es herausfinden. Das kannst du nur, wenn du mit ihm sprichst. Du mußt ihn wiedersehen. Du mußt mit ihm zusammen sein. Wenn du ihm aus dem Weg gehst, wirst du das nie herausfinden.«
»Ja, ich muß mir Gewißheit verschaffen! Ich muß noch einmal in seine Augen sehen. Da führt wohl kein Weg daran vorbei.«
Die beiden Freundinnen saßen eine Weile still nebeneinander. Evi hing ihren Träumen nach. Sie lauschte auf ihr Herz. Das schlug nur für Boyd.
»Rosi, kannst du Simon fragen, ob er weiß, wann Boyd wiederkommt?«
»Sicher! Das tue ich gern für dich! Aber das dauert noch etwas. Ich kann Simon auch bitten, Boyd zum Tanz nächste Woche einzuladen. Was hältst du davon?«
»Ist das nicht zu auffällig?«
»Naa! Boyd liebt die Berge und Waldkogel. Das hat mir Simon erzählt. Die beiden verstehen sich gut. Es ist sicherlich unverfänglich, wenn Simon Boyd anruft und ihm sagt, daß er kommen soll. Aber warum machst du es so kompliziert? Rede doch mit deinem Bruder. Vielleicht kann er dir etwas sagen, was er mir nicht erzählt hat. Du verstehst dich doch gut mit deinem Bruder.«
»Soweit bin ich noch nicht. Ich will daheim nicht von Boyd sprechen. Am liebsten wäre es mir, wenn ich ihn irgendwo treffen könnte, so einfach aus Zufall, wie damals vor der Kirche. Das wäre dann nicht so gestellt, verstehst du? Wenn die Liebe uns einmal zusammengeführt hat, warum dann nicht noch einmal?«
»Du hast Angst, jemand könnte sagen, du seist ihm nachgelaufen?«
»Ja«, sagte Evi ganz leise.
»Also, ich hätte damit keine Probleme. Warum soll man es als Madl unterlassen, den Burschen zu umgarnen, der einem gefällt? Warum soll man nicht alles tun, um die Dinge in Gang zu bringen? Ich finde das eine gute Idee, Boyd zum Tanz einzuladen.«
Dann wurde Rosi lebhaft. Sie klatschte in die Hände.
»Ich weiß, mit wem du reden solltest! Mit der Anna, der Frau vom Toni. Die hat sich doch auch in den Toni verliebt – im Zug. Das ging damals auch ganz schnell mit der Liebe. Dann kam die Anna nach Waldkogel. Sicherlich hat sie sich genau solche Gedanken gemacht wie du jetzt, Evi. Gehe doch einige Tage rauf auf die Berghütte. In einem stillen Augenblick kannst du sicher mit Anna reden.«
»Stimmt, ich erinnere mich! Die beiden erzählten auf ihrer Hochzeit, wie es kam, daß sie hierher kam. An Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur, daß Toni sich in Anna im Zug nach Frankfurt verliebt hat und Anna wohl auch in ihn. Dann kam sie am nächsten Tag nach Waldkogel. Vielleicht sollte ich wirklich mit Anna reden.«
»Nun überlege nicht lange, Evi!« Rosi sprang auf die Füße. »Komm, laß uns gehen! Du packst ein paar Sachen zusammen. Ich bringe dich mit dem Auto bis zur Oberländer Alm. Du bleibst bis Montag auf der Berghütte. Franzi und Basti gehen am Montag zur Schule, dann kommst du wieder mit ihnen herunter. Der Tag in den Bergen wird dir guttun!«
Rosi ließ Evi nicht viel Zeit zum Nachdenken. Sie gingen zusammen zurück zum Quentmair Hof. Evi war froh, daß ihre Mutter nicht daheim war. Die Bäuerin besuchte ihre Schwester. Simon und sein Vater waren zur Hochalm gegangen, um nach dem Vieh zu sehen. So packte Evi schnell einen Rucksack und legte ihrer Familie einen Zettel auf den Küchentisch. Da stand nur kurz:
Bin rauf zur Berghütte. Bin am Sonntagabend oder am Montag in der Früh wieder daheim. Grüße,
Evi.
Dann brachte Rosi Evi mit dem Auto hinauf zur Oberländer Alm. Evi hielt sich bei Wenzel und Hilda Oberländer nicht lange auf. Es war noch ein weiter Weg bis zur Berghütte. Außerdem war es schon später Nachmittag, fast früher Abend. Bald würden die Kirchenglocken erklingen. Evi wollte bis zur Dämmerung oben sein. Sie lief los.
*
Es dämmerte schon, als Simon und sein Vater von dem Besuch auf der Hochalm zurückkamen. Liesbeth Quentmair wartete mit dem Abendessen auf sie.
»Setzt euch! Was gibt es Neues auf der Hochalm? Hat sich der Senn jetzt gut eingelebt? Macht er seine Arbeit ordentlich?«
»Ja!« antwortete der Bauer kurz und setzte sich an den Tisch.
Er schaute sich verwundert um.
»Nur drei Teller? Ist die Evi bei der Rosi?«
Die Bäuerin griff in die Schürzentasche und zog den Zettel hervor.
»Die Evi ist nicht da! Den Zettel habe ich gefunden, als ich heimkam. Er lag auf dem Küchentisch.«
Willibald Quentmair las und reichte das Papier dann an seinen Sohn weiter.
»Hast du gewußt, daß die Evi auf die Berghütte will?«
»Naa,Vater! Die Evi, die ist in letzter Zeit ganz schön überdreht. Die redet nix.«
Die Bäuerin seufzte.
»Ja, das Madl ist unberechenbar. Das hängt mit diesem Boyd zusammen. Wie soll das nur weitergehen? Seit sie ihn gesehen hat, erkenne ich die Evi kaum noch. So verdreht ist des Madl. Ich mache mir allmählich Sorgen. Wann es nur mit mir reden würde, des Kindl! Aber Evis Lippen sind genau so verschlossen, wie sie ihr Herz zugesperrt hat.«
»Mutter, durch die Sach’ muß die Evi alleine durch. Sie wollte den Boyd net sehen. Sie war sogar dagegen, daß sein Auto hier steht. Sie muß sich erst selbst entscheiden, was sie will.«
»Also, lange schaue ich da nimmer zu!« sagte die Bäuerin hart. »Des Madl ißt net, schläft kaum! Nachts steht die Evi auf dem Balkon und schaut in die Sterne.«
»Des macht man eben, wenn man verliebt ist, Mutter«, warf Simon ein.
»Bub! Das weiß ich! Aber wenn man des alleine macht, dann stimmt etwas net. Ich bin auch einmal jung gewesen und dein Vater auch. Wir haben zusammen Mond und Sterne angeschaut.«
»Nun beruhige dich, Liesbeth! Vielleicht tut der Evi der Besuch auf der Berghütte gut. Wer weiß? Vielleicht ist sie dort verabredet?«
»Denkst?« fragte die Bäuerin.
»Kann doch sein!«
Draußen auf dem Hof hielt ein Auto. Es war ein dunkler Geländewagen. Simon warf einen Blick aus dem Fenster.
»Des ist der Boyd!«
Simon sprang auf und lief hinaus.
»Grüß Gott, Boyd! Des ist ja eine Überraschung!«
»Guten Abend, Simon!«
»Hast ein neues Auto?«
»Nein! Ich habe mir einen Geländewagen geliehen für meine Bergtour nach Waldkogel.«
Boyd trat einen Schritt auf Simon zu.
»Ist die Evi drin? Ich muß mit ihr reden? Dringend!«
»Naa, die Evi ist net da! Vater, Mutter und ich sitzen beim Abendbrot. Willst mitessen? Komme mit rein!«
»Da sage ich nicht nein! Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.«
Sie gingen hinein.
Der Quentmair begrüßte Boyd herzlich. Simon stellte Boyd seiner Mutter vor, die ihn ja noch nie gesehen hatte.
So, so, das ist also der junge Bursche, an den mein Madl, meine kleine Evi, ihr Herz verloren hat, dachte die Bäuerin und unterzog Boyd einer kritischen Betrachtung.
Sie bot ihm einen Platz auf der Eckbank an und holte ein weiteres Gedeck. Boyd setzte sich. Er war angespannt, ja, sogar verkrampft. Gern hätte er nach Evi gefragt. Er wagte es aber nicht. Er war froh, als Simon das Thema ansprach.
»Schade, daß die Evi net da ist. Die ist rauf zur Berghütte. Des Madl kommt erst morgen abend oder sogar erst am Montagmorgen.«
Ein Schatten huschte über Boyds Gesicht.
»Dann muß ich wohl warten. Evi ist der Grund, warum ich hier bin. Ich habe etwas mit ihr zu besprechen. Eigentlich handelt es sich um zwei verschiedene Angelegenheiten.«
»So, gleich zwei!« warf Evis Vater ein. »Was willst mit der Evi reden? Vielleicht ist es besser, du tust des zuerst mit uns bereden. Weißt, mit der Evi ist des im Augenblick ein bisserl schwierig. Die reagiert auf dich wie der Teufel auf Weihwasser.«
Boyd wurde unruhig.
»Ich habe ihr aber nichts getan!«
»Des wissen wir! Also, was willst von der Evi?«
Boyd griff in seine Jackentasche und nahm einen Briefumschlag heraus. Er öffnete ihn und legte den Inhalt auf den Tisch.
»Das ist die erste Angelegenheit! Ich will der Evi das Foto geben und das Negativ!«
Die drei Quentmairs betrachteten das Bild
»Lieb schaut des Madl aus! Ganz herzig! Scheinst gut fotografieren zu können«, lobt die Bäuerin Boyd.
»Danke! Das ist mein Beruf!«
Er biß ins Brot und kaute. Dann trank er einen Schluck Bier.
»So, des war die einfache Angelegenheit! Jetzt wird es komplizierter.«
Alle schauten ihn erwartungsvoll an.
»Mit dem Foto ist mir eine Panne passiert. Es lag auf meinem Arbeits-tisch und ist mir aus Versehen unter die Bilder gerutscht, die ich meinem Auftraggeber zur Erstansicht gebracht habe. Der Marketingdirektor ist mein Freund Arnold. Ihm fiel Evi gleich auf. Leider hat sein Chef das Bild auch gesehen. Dem gefällt Evi. Er läßt anfragen – vorsichtig gesagt, wirklich ganz vorsichtig –, ob Evi bereit wäre, sich für den Katalog fotografieren zu lassen. Sie soll Festtagsdirndl und Brautdirndl präsentieren.«
»Ob die Evi des macht? Des kann ich mir net vorstellen«, Simon schüttelte den Kopf.
Boyd nickte.
»Das vermute ich leider auch! Wenn sie ablehnt, dann habe ich ein Problem! Arnolds Chef macht richtig Druck!«
Sie aßen weiter. Jeder dachte nach. Boyd sah zerknirscht aus.
»Mir gefällt die Angelegenheit auch nicht. Das wirft einen Schatten auf mich. Evi könnte denken, daß ich deswegen mit ihr reden will, weil sie Modeln soll. Es ist schon ohnehin sehr kompliziert.«
»Was ist kompliziert, Boyd? Sprich es schon aus!«
Boyd schaute in die Runde.
»Ja, es ist wohl besser, ich rede offen! Arnold war heute morgen bei mir. Wir frühstückten zusammen. Er kennt mich seit der Schule. Wir sind wirklich ganz enge Freunde. So eng, daß einer dem anderen nichts vormachen kann. Er sagte mir auf den Kopf zu, daß ich ein Auge auf Evi geworfen habe. Ich habe das die letzten beiden Wochen zu verdrängen versucht. Aber die Evi geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich mußte mir eingestehen, daß ich mich in die Evi verliebt habe. Sie ist eine ganz besondere junge Frau.«
»Ja, des ist sie, die Evi! Sie ist ein ganz besonders Madl und fesch ist sie auch!« grinste der Bauer.
Boyd sah ihn erstaunt an. Sein Geständnis schien nicht zu verwundern.
»Also in das Liebesleben unserer Kinder, da tun wir uns net einmischen! Da müssen sie schon alleine klarkommen«, sagte die Bäuerin. »Mußt halt dein Glück bei der Evi versuchen.«
Boyd war mit Essen fertig.
»Mir gefällt es nicht, daß sich private und berufliche Angelegenheiten verknüpfen. Ich habe eben große Sorge, daß Evi denkt, ich heuchele ihr nur Liebe vor, weil ich sie als Model gewinnen will.«
»Des kommt ganz drauf an, wie du des anstellst, Boyd!« bemerkte Simon. »Am besten wanderst du morgen gleich rauf auf die Berghütte und redest mit der Evi. Ihr sucht euch ein schönes Plätzchen, an dem ihr ungestört seid und sprecht euch aus.«
Boyd nickte und trank dann sein Bierseidel aus.
Von draußen drang das Geräusch von Schritten herein. Gleich darauf betrat Rosi die Küche.
»Ein herzliches Grüß Gott alle zusammen!«
Simon stand auf und drückte Rosi einen Kuß auf die Wange.
»Des ist mein Madl, Boyd! Die Rosi!«
Rosi lächelte.
»Du mußt Boyd sein, der Fotograf!«
Sie reichte ihm die Hand.
»Ich habe dich gleich erkannt. Ich muß sagen, die Evi hat dich gut beschrieben.«
»Die Evi hat von mir gesprochen?« fragte Boyd mit einer Unsicherheit in der Stimme, die von Hoffnungsgefühlen überlagert war. Rosi lachte laut.
»Net nur ein bisserl! Sie redet nur noch von dir, wenn wir zusammen sind. Aber mehr kann ich net sagen. Ich habe der Evi mein Wort gegeben und jetzt habe ich mich verplaudert. Des tut mir leid. Also, wenn du etwas wissen willst, dann mußt du mit der Rosi selbst reden. Die ist oben auf der Berghütte.«
Boyd stand auf. Er bedankte sich für das Essen. Er beschloß, gleich zur Berghütte aufzubrechen. Simon warnte ihn. Bald würde es dunkel sein. Dann war der Aufstieg von der Oberländer Alm gefährlich.
»Du bist net von hier! Du kennst den Weg net gut! Warte bis morgen früh, Boyd!«
Boyd schüttelte den Kopf.
»Ich fahre mit dem Geländewagen den Pilgerweg hinauf. Dann nehme ich den Pfad, der am Erkerchen vorbeiführt.«
Boyd setzte sich über das Verbot, daß der Pilgerweg nur für Forstwirtschaftsfahrzeuge und Rettungswagen freigegeben war, einfach hinweg.
»Bei mir ist des auch ein Notfall!« murmelte er leise.
Simon und Rosi gingen mit Boyd zu seinem Auto. Sie sahen ihm nach, wie er davonfuhr.
Die Eltern kamen aus dem Haus. Sie setzten sich auf die Bank vor das Haus und genossen den Abend. Sie sprachen wenig. Jeder machte sich alleine so seine Gedanken über Evi und Boyd.
*
Evi erreichte die Berghütte. Toni und Anna hatten viel zu tun. Der alte Alois stand hinter dem Tresen und zapfte Bier. Draußen auf dem Geröllfeld spielten Franziska und Sebastian mit dem jungen Neufundländerrüden Bello. Am Wochenende durften die beiden Kinder immer länger aufbleiben.
»Evi! Was für eine Überraschung? Grüß Gott!« sagte Toni.
»Grüß Gott, Toni! Ihr habt viel Betrieb! Gibt es noch ein Plätzchen für mich?«
»Wir werden schon eines finden!«
Anna begrüßte Evi.
»Schaust nicht so glücklich aus, Evi! Hast du Kummer?« fragte Anna direkt.
Evi neigte Anna den Kopf zu und flüsterte ihr ins Ohr.
»Ich denke, daß ich so etwas wie Liebeskummer habe, aber da bin ich mir noch nicht ganz sicher. Rosi meinte, ich sollte mit dir reden, Anna! Aber wenn ich mich so umsehe, denke ich, daß ich keinen ungeschickteren Zeitpunkt für meinen Besuch hätte wählen können.«
Anna lächelte Evi an.
»Die meisten haben schon gegessen. In zwei Stunden ist es ruhiger. Dann verziehen sich die meisten auf die Lager auf dem Hüttenboden. Wenn die morgen früh aufstehen wollen, um wandern zu gehen, dann brauchen sie ihren Schlaf. Wir finden sicherlich noch Zeit für ein Schwätzchen. Nächtigen kannst du bei uns im Wohnzimmer auf dem Sofa. Hast du Hunger? Durst?«
»Ja, ich gestehe, ich habe seit dem Mittag nichts mehr gegessen!«
Anna griff nach Evis Hand. Sie zog sie hinter sich her in die Küche der Berghütte. Dort tischte Anna Evi einen Teller leckeren Eintopf auf.
Trotz der vielen Arbeit nahm sich Anna einen Augenblick Zeit für Evi.
»Ich habe mich verliebt – denke ich!«
Anna lachte herzlich.
»Denkst du? Lieben – das fühlt man!«
Evi erzählte in wenigen Worten von ihrer Begegnung mit Boyd. Anna fand Boyd nett. Er war ja mit Simon auf der Berghütte gewesen und hatte später die Berghütte zusammen mit seinem Team besucht, um Fotos zu machen.
»Ich bin so durcheinander, Anna!« klagte Evi.
»Das wird schon! Ich verstehe dich gut.«
Anna lachte. Sie dachte an ihre Freundin Sue in Frankfurt und an den Abend bei ihr. Wie verdreht sie damals war. Wie sie sich gewehrt hatte gegen die Gefühle in ihrem Innern. Anna versuchte, Evi verständlich zu machen, daß keiner die Liebe planen konnte. Sie kommt einfach. Sie bricht herein wie eine Naturgewalt, gegen die jede Abwehr vergebliche Mühe ist.
»Ich verstehe dich! Mir ist es damals auch so ergangen. Ich sah Toni im Zug und mein Herz klopfte bis zum Hals. Was habe ich mich gewehrt! Wie kann mir nur so ein Bergler in Lederhosen, mit einem Gamsbarthut gefallen, mir, der Bankerin? Was soll ich mit ihm machen? Evi, ich konnte kaum noch klar denken. Doch je mehr ich mich gegen die Gefühle wehrte, desto stärker wurden sie.«
»Ja, genauso ist es! Ich bin ein Bauernmadl aus den Bergen und er ist ein bekannter und geschätzter Fotograf. Er kommt aus einer ganz anderen Welt. Es paßt nicht!«
»Wenn er dich auch liebt, dann werdet ihr schon einen Weg finden. Laß die Angelegenheit einfach auf dich zukommen. Vertraue der Liebe!«
»Ach, das ist alles so schwer!«
»Das erscheint dir so, Evi! Es ist nicht schwer, im Gegenteil! Es ist einfach! Die Liebe ist einfach! Entweder zwei lieben sich oder sie lieben sich nicht. Liebe ist ein Geschenk! Du mußt sie nur annehmen.«
»Wenn du das sagst, klingt es so einfach! Außerdem habe ich ein bisserl Angst! Die Models, die er fotografiert hat, die waren sehr hübsch. Man sagt doch, daß solche Leute auch Liebesgeschichten haben, verstehst du?«
Anna schmunzelte. Sie sah die Falten auf Evis Stirn.
»Du meinst Affären?«
»Richtig! Ich will keine Affäre sein!«
Anna legte die Hand auf Evis Schulter.
»Paß auf! Wir reden morgen drüber! Ich muß Toni jetzt wieder helfen. Wenn du willst, dann laufe doch rüber zum ›Erkerchen‹. Es wird bald dunkel, aber das ist nicht schlimm. Du kennst den Weg. Nimm eine Stablampe mit. Bello begleitet dich bestimmt gern. Dann hast du einen Beschützer. Bleib dort und schau in die Sterne. Das wird dir sicher guttun.«
Evi zögerte.
Anna ließ ihr keine Wahl. Sie füllte eine Thermoskanne mit Tee, packte Schokolade und Kekse in einen Stoffbeutel und reichte ihr die Stablampe.
»Komm mit!«
Anna ging durch den Wirtsraum der Berghütte. Sie blieb auf der Terrasse stehen und rief nach Bello und den Kindern. Bello kam sofort angerannt. Franziska und ihr Bruder Sebastian trödelten etwas. Anna leinte Bello an, redete kurz mit dem Hund und gab Evi die Leine.
»So, fort mit dir! Und hörst du! Nicht so viel denken! Schau in die Sterne und spüre die Gefühle in deinem Herzen auf.«
Anna blinzelte Evi zu und schickte sie los. Bello ließ Evi auch keine Wahl. Er rannte voraus und zog Evi an der Leine hinter sich her.
*
Evi erreichte das ›Erkerchen‹, eine Bank auf einem Felsvorsprung mit einem Geländer. Sie setzte sich ans äußerste Ende der Bank. Bello nahm den Rest der Bank ein. Der Hund legte seinen Kopf auf Evis Schoß. Sie kraulte ihn zwischen den Ohren. Die Sonne war nur noch als ganz schmale Sichel über den Gipfeln im Westen zu sehen.
Die vereinzelten Schleierwolken leuchteten in Pastellfarben. Die Farbenskala reichte von einem zarten Rosa bis zu Blaßgelb. Evi schloß die Augen und hielt ihr Gesicht in den warmen Wind. Sie atmete durch. Es roch nach Tannen und frisch gemähtem Gras.
»Schön ist es hier, Bello! Bald wird die Sonne ganz untergegangen sein, dann betrachten wir zusammen den Mond und die Sterne.«
Bello leckte ihr die Hand. Evi fütterte ihn mit Schokolade.
»Süßes ist eigentlich nix für Hunde. Aber mußt ja nix verraten«, lachte Evi leise.
Während sie mit einer Hand weiter Bello streichelte, glitten ihre Augen über das Tal hinüber zu den Felswänden des gegenüberliegenden Berges. Langsam kroch die Dunkelheit aus dem Tal hinauf.
Wie schön die Natur doch ist, dachte Evi. Sie lauschte. Es war ganz still, nur der Wind war leise zu hören. Es war kein Rauschen, es war ein leises Summen. Wie ein Wiegenlied kam es Evi vor.
Dann war die Sonne ganz hinter den Bergen versunken. Nur noch ein spärlicher Rest Licht erleuchtete den Horizont. Evi machte den Reißverschluß ihrer Jacke zu. Sie schenkte sich einen warmen Becher Tee ein und nippte genüßlich Schluck für Schluck.
Plötzlich sprang Bello von der Bank. Um ein Haar hätte sich Evi den Rest Tee über die Hose gegossen. Bello setzte sich vor Evi hin und bellte einige Male kurz und laut.
»Was hast du? Hast du etwas gehört?«
Evi, die vorher ganz in Gedanken versunken war, lauschte angestrengt in die Nacht.
Trug der Wind das Geräusch eines fahrenden Autos herauf?
War das nicht eine Autotür, die laut zugeschlagen wurde?
Bald darauf hörte sie Schritte. Evi stand auf und schaute in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Ihr Augen hatten sich gut an die Dunkelheit gewöhnt. Außerdem war es eine mondhelle Nacht. Ein Mann kam den Pfad entlang, aus der Richtung des Pilgerpfades.
Evis Herz fing an zu rasen. Sie erkannte Boyd mehr an seinen Bewegungen. Vor Schreck ließ sie Bellos Leine aus der Hand fallen. Bello stürmte davon.
»Ja, Bello! Was machst du denn hier? Bist du fortgelaufen? Dann werde ich dich mal wieder heimbringen. Toni und Anna werden dich vermissen und erst die Kinder!«
»Bello hat mich begleitet!« entfuhr es Evi. »Bello, hierher! Bello, bei Fuß!« fügte Evi sehr streng hinzu.
Bello kam und stellte sich neben Evi.
Dann kam Boyd auf Evi zu. Sie standen sich gegenüber.
»Du bist es wirklich! Ich habe dich an der Stimme erkannt. Deine Stimme würde ich unter Tausenden erkennen. Was machst du hier?«
»Das könnte ich dich auch fragen! Bei dir ist die Frage noch angebrachter. Du bist nicht aus Waldkogel!«
»Richtig! Darf ich deshalb nicht in den Bergen spazierengehen?«
»Mache, was du willst!« zischte Evi zurück.
Sie nahm Bellos Leine und setzte sich wieder an das äußerste Ende der Bank. Sie schlug mit der Hand auf die Sitzfläche.
»Bello! Platz!«
Der Hund ließ sich nicht zweimal auffordern.
Boyd stand dabei und sah zu.
»Kannst du vielleicht etwas zur Seite rücken, Bello. Dann kann ich mich auch noch setzen!«
Evi legte den Arm um Bello und drückte ihn an sich. Boyd ließ seinen Rucksack von den Schultern gleiten. Er zögerte, setzte sich dann doch hin.
So saßen sie eine Weile schweigend auf der Bank. Links saß Boyd, in der Mitte wachte Bello und Evi saß am rechten Rand der Bank.
Sie schauten in die Sterne hinauf. Der Mond stand groß und hell am Himmel. Er schien zum Greifen nah.
Boyd räusperte sich.
»Ich habe noch gar nicht ›Grüß Gott‹ gesagt! Also Grüß Gott, Evi! Evi, so heißt du doch!«
»Grüß Gott«, antwortete Evi leise.
»Boyd! Ich werde ›Boyd‹ gerufen! Das ist dir sicherlich bekannt.«
»Saudummer Name!« entfuhr es Evi. »Ich würde höchstens einen Ochsen so nennen!« entfuhr es ihr, was sie sofort tief bereute.
Zu ihrer Verwunderung war Boyd nicht ärgerlich. Er lachte laut und herzlich.
»Das muß ich Arnold erzählen. Das wird ihm gefallen. Er hält mich für einen dummen Ochsen. Aber ich bin auf dem Wege der Besserung. Der Mensch soll ja lernfähig sein, was meinst du dazu?«
»Kann sein! Im allgemeinen kann man davon ausgehen! Ob du lernfähig bist, das kann ich net beurteilen. Dazu kenne ich dich zu we-
nig!«
»Das liegt aber nicht an mir! Du bist fortgelaufen!«
Evi schwieg. Ihr Herz klopfte. Sie mußte ihre ganze Kraft aufbringen, um ihren Kopf nicht in Boyds Richtung zu drehen.
»Boyd ist mein Künstlername. Auf meinem Taufschein steht Gustav! Vielleicht kannst du dich damit anfreunden? Das wäre schon schön! Kannst auch Gustl zu mir sagen. Gustl paßt ganz gut in die Berge, denkst du nicht auch?«
Er erhielt keine Antwort. Er wartete und wartete.
Endlich räusperte sich Evi.
»Was machst du hier? Du hast die Frage noch nicht beantwortet. Willst du Nachtaufnahmen machen?«
»Nein, ich wollte zu dir!« antwortete Boyd.
»So? Wer’s glaubt, wird selig! So sagt man. Du konntest nicht wissen, daß ich hier bin. Höre auf, so einen Schmarrn zu erzählen. Willst doch nur Süßholz raspeln! Aber darauf falle ich nicht rein!«
Boyd seufzte.
»Evi! Du bist wirklich schwierig! Glaube doch, was du willst. Aber ich komme direkt vom Quentmair Hof. Dein Bruder und deine Eltern wissen, daß ich rauf zur Berghütte wollte, weil du dort bist. Du kannst sie fragen, wenn du wieder daheim bist. Ich muß mit dir reden. Mit deinen Eltern habe ich schon gesprochen.«
»So! Ich wüßte nicht, was du mit denen zu bereden hast!«
Boyd griff in die Innentasche seiner Jacke und reichte Evi den Umschlag.
»Hier, nimm! Das wollte ich dir geben!«
»Was ist drin?«
»Das Foto, das ich von dir mit dem Teleobjektiv gemacht habe, und das Negativ. Das sollst du haben!«
»Danke!«
Evi nahm den Umschlag. Sie schaute kurz hinein. Es war zu dunkel, um den Inhalt genau zu sehen. Sie erkannt nur, daß ein Bild und ein Negativ darin war.
»Deswegen hast du den weiten Weg gemacht? Es gibt auch eine Post!«
»Richtig! Doch ich will auch noch etwas klarstellen!«
»So? Willst du? Ich weiß zwar nicht, was es da zu klären gibt, aber wenn du etwas zu sagen hast, dann sage es!«
Boyd war ziemlich ratlos. Er spürte, daß Evi sich mit einem Schutzpanzer umgab, den er nicht zu durchbrechen vermochte.
»Warum bist du so abweisend?« fragte er.
»Ich? Ich bin nicht abweisend! Es ist nur nicht schicklich, wenn ich mit dir hier sitze. Hoffentlich kommt niemand vorbei und sieht uns!«
»Jetzt redest du Unsinn! Oder wie du es nennen würdest – Schmarrn! Du sitzt am anderen Ende der Bank, und zwischen uns hält Bello Abstand.«
Evi ging nicht darauf ein. Sie biß sich in der Dunkelheit auf die Unterlippe. Ihr Herz klopfte. Ihr Kopf fühlte sich heiß an. Sie war froh, daß es Nacht war. Es geht alles schief!
Warum kann ich nicht einfach mit ihm reden?
Warum kann ich nicht mit ihm sprechen?
Diese Fragen stellte sich Evi, dabei wußte sie in ihrem Herzen genau, warum es so war. Sie hätte ihm gern etwas ganz anderes gesagt, ihm in die Augen gesehen, ihr Herz geschenkt.
Als könnte Boyd ihre Gedanken lesen, sagte er leise:
»Evi! Ich will dir nichts Böses! Aber ich muß mit dir reden. Ich bitte dich, höre mir in Ruhe zu. Mir ist ein Fehler passiert. Ich möchte dir im voraus aus tiefstem Herzen versichern, daß es wirklich ein Fehler war und keine Absicht. Erst heute morgen bin ich darauf gestoßen und dann sofort hierher gefahren. Ich hoffte, dich daheim auf dem Hof anzutreffen. Dort wäre es sicherlich leichter gewesen, mit dir darüber zu reden – weil deine Familie hätte dabeisein können. Aber bis Montag woll-
te, konnte ich auch nicht mehr warten.«
Evi lauschte seiner Stimme. Sie klang wirklich zerknirscht.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und sagte etwas sanfter:
»Rede schon! Ich werde dir nicht gleich den Kopf abreißen!«
Boyd räusperte sich. Er überlegte sich jedes Wort.
»Du weißt doch, daß ich Fotos gemacht habe für einen Trachten- und Landhausmodekatalog, nicht wahr?«
»Ja! Weiter?« sagte Evi in die Dunkelheit.
Sie griff sich in Brusthöhe an ihren Reißverschluß. Nicht weil sie fror, sondern, weil ihr Herz so sehr klopfte.
»Nun, ich habe die Bilder entwickelt und meinem Freund Arnold, der die Marketing des Versandhauses leitet, die ersten Abzüge geschickt. Das wird immer so gemacht. Doch dabei ist diese Panne geschehen. Auf dem Tisch war auch dein Foto, daß ich dir mit netten – mit lieben – Zeilen schicken wollte. Doch in der ganzen Hektik ist es in den Umschlag gewandert, den ich Arnold gegeben habe. Er hat es gesehen und es mir heute morgen gebracht. Wir hatten uns zu einem Arbeitsfrühstück verabredet. Verstehst du?«
»Ja, soweit kann ich folgen. Ist es dir peinlich, daß dieser Freund von dir, dieser Arnold, das Bild gesehen hat?«
Evi machte sich Gedanken. So schlimm kann das nicht gewesen sein, überlegte sie.
»Nein, es ist nicht schlimm, daß Arnold das Foto gesehen hat. Sein Chef kam in sein Büro, gerade als er die Bilder betrachtete und sah dein Foto, das Arnold zu Seite gelegt hatte. Arnold war sofort klar, daß es ein falsches Bild war. Denn das Dirndl, das du auf dem Bild trägst, war kein Kleid aus der Kollektion. Und dann, dann ist es eben passiert!«
Evi stöhnte hörbar.
»Willst du mit jetzt einen Roman erzählen? Bist du Fotograf oder Märchenerzähler? Komm zu Sache! Jetzt red’ schon!«
»Arnolds Chef hat das Foto gesehen. Er war begeistert.«
Jetzt wurde Evi doch neugierig. Sie kramte ihre Stablampe heraus und besah sich das Foto im Licht.
»Hast mich gut getroffen, das gebe ich zu. Das Bild gefällt mir. Weiter!«
Boyd fiel es sichtlich schwer, zum Wesentlichen zu kommen.
»Was ist jetzt? Will er einen Abzug haben? Da sage ich nein!«
»Nein, so ist es nicht! Er – also Arnolds Chef – läßt anfragen, ob du vielleicht bereit wärst, dich für den Katalog fotografieren zu lassen!«
Endlich war es heraus. Boyds Herz schlug bis zum Hals. Er war froh, daß es Nacht war. Auf seiner Stirn standen kleine Schweißperlen. Er wagte kaum zu atmen.
Evi schwieg. Sie denkt nach, dachte Boyd. Es war für ihn wie eine Erlösung, als sie endlich antwortete.
»Es gibt doch genug junge Frauen, die sich fotografieren lassen. Warum ausgerechnet ich? Steckst nicht doch du dahinter?«
»Nein! Nein! Bestimmt nicht, Evi! Bitte, glaube mir.«
Boyd griff in seine Jackentasche. Er holte seine Handy heraus und hielt es ihr hin.
»Hier! Auf der ›Eins‹ ist Arnolds Nummer eingespeichert. Rufe ihn an, rede selbst mit ihm. Laß dir die Telefonnummer von seinem Chef geben. Telefoniere mit ihm! Ich habe damit nichts zu tun!«
Die Worte waren nur so aus Boyd hervorgesprudelt.
»Steck des Ding ein! Es wird schon so gewesen sein, wenn du es sagst!«
»Danke, danke, Evi!« sagte Boyd mit einem Seufzer der Erleichterung.
»Du scheinst ja mächtig Angst gehabt zu haben, mit mir zu reden, wie?«
»Ja, das gebe ich zu!«
»Nun ja, jetzt ist es ja gesagt – und ich habe das Foto und das Negativ.«
»Und ich habe dir das Angebot gemacht!«
Evi besah sich im Schein der Lampe noch einmal das Bild.
»Warum gefällt es diesem Mann so gut? Es gibt doch wirklich Models, die hübsch sind und auch Erfahrung haben. Warum will er mich?«
»Du bist so natürlich, Evi! Dir sieht man an, daß du aus den Bergen bist. Das kommt auf dem Bild gut herüber. Es ist nicht gestellt.«
Boyd sprach einfach weiter.
»Wenn du ein Dirndl trägst, dann ist das mehr. Es ist viel mehr als nur ein Kleidungsstück. Du zeigst damit eine gewisse Haltung, deine Liebe zu den Bergen, zu dem Leben hier auf dem Land. Du strahlst so viel Natürlichkeit aus, eine solche Reinheit. Das ist genau das, was er sucht. Das kann kein Model, das heute in Hosen und morgen im Dirndl und nächste Woche im Badeanzug vor der Linse steht. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
»Ungefähr!« sagte Evi leise.
Evi streichelte Bello.
»Der Chef von deinem Freund scheint die Berge zu lieben, daß er das so gesehen hat.«
»Ja, das kann er, Evi! Er verbringt sogar seinen Urlaub in Waldkogel. Deshalb wollte er, daß die Fotos hier in Waldkogel gemacht werden.«
»Das spricht für ihn!« sagte Evi mehr vor sich hin.
»Heißt das, dir gefällt die Idee? Du bist einverstanden?«
»Langsam, langsam! Wir sind hier in den Bergen. Da gehen die Uhren etwas anders, falls du es noch nicht bemerkt hast. Ich…«
»Entschuldige, daß ich dich unterbreche, Evi. Aber mir ist schon bewußt, daß hier vieles anders ist. Außerdem hast du es mir auch deutlich gezeigt, wie du mich vor der Kirche so einfach hast stehen lassen. Ich wollte dir doch nur ein nettes Kompliment machen! Dich nicht beleidigen! Da, wo ich herkomme, hätte das jede junge Frau verstanden. Du bist davongerannt. Wolltest mich nicht mehr sehen. Ich sollte auch mein Auto nicht bei euch auf dem Hof abstellen.«
Boyd holte tief Luft.
»Evi, was ich dir damit sagen will ist, daß ich hier fremd bin. Da mache ich Fehler. Ich wollte dich weder verletzen, noch verspotten. Ich bin es eben so gewohnt. Eine nette kleine Plauderei wollte ich mit dir, nur um näher mit dir bekannt zu werden.«
»So, warum wolltest du näher mit mir bekannt werden?« fragte Evi bewußt, aber schüchtern, noch einmal nach.
»Weil ich sofort erkannt habe, was für ein ganz besonderer Mensch du bist, eine ganz besondere junge Frau. Noch niemals zuvor bin ich jemanden wie dir begegnet, das mußt du mir glauben! Dabei kenne ich bestimmt viele junge und attraktive Frauen. Das bringt schon mein Beruf so mit sich. Aber keine ist so wie du! Wirklich keine! Du erschienst mir wirklich wie aus einer anderen Welt. Heute, wenn ich an unser erstes Zusammentreffen zurückdenke, dann erscheint es mir, daß ich sehr verwirrt war und unsicher, ja, irgendwie verlegen. Ich wollte mit dir reden, spürte auch, daß ich es anders anpacken mußte. Doch ich wußte nicht wie, verstehst du?«
»Ungefähr!«
Boyd nahm noch einmal einen Anlauf.
»Ich will ganz ehrlich zu dir sein! Beruflich habe ich großes Interesse daran, daß du die Chance, die sich dir bietet, wahrnimmst. Ich habe auch schon mit Arnold gesprochen. Wenn es dich stört, daß ich die Fotos mache, dann kann die auch jemand anders machen.«
Dann fügte er leise hinzu:
»Was ich natürlich sehr bedauern würde.«
»So, so«, flüsterte Evi leise.
»Ja! Ich will dir nur sagen, daß du völlig frei in deiner Entscheidung bist. Ich will dir noch mehr sagen! Ich habe Arnold versprochen, mit dir zu reden, aber ich habe ihm nicht versprochen, dich zu überreden, wie sehr er mich auch unter Druck setzte.«
»Klingt ehrlich!«
»Das ist auch ehrlich, Evi! Du bist mir wertvoller als dieser Auftrag. Ich bin mit deinem Bruder befreundet. Ich möchte dich auch näher kennenlernen und nichts liegt mir ferner, als Mißverständnisse zwischen uns. Ich suche nach einer Möglichkeit, daß wir ganz normal reden können. Wenn ich etwas Falsches sage, dann weise mich darauf hin. Korrigiere mich! Können wir uns für das erste darauf einigen?«
»Ja, das können wir!«
»Danke! Wirklich danke, Evi! Dann bitte ich dich, über das Angebot nachzudenken. Laß dir Zeit!«
Evi schwieg eine Weile. Dann drehte sie endlich ihren Kopf in Boyds Richtung.
»Boyd! Was soll ich da vorführen?«
»Festtagsdirndl und Brautdirndl!«
»Wo sollen die Aufnahmen gemacht werden?«
»Ist das wichtig für dich?«
»Ja!«
»Wenn ich die Bilder mache, dann sichere ich dir zu, daß du die Plätze bestimmen kannst.«
»Gut! Das gefällt mir! Ich will nicht ins Gerede kommen. Damit sage ich aber noch nicht zu. Nur, daß du mich richtig verstehst, Boyd. Unsere sprachlichen Mißverständnisse, die hatten wir ja schon.«
»Richtig, die hatten wir schon!«
»Weißt du, ich will nicht ins Gerede kommen. Wenn, dann würde ich es auch nur ein einziges Mal machen. Wie gesagt – wenn! Ich war nicht sehr nett zu dir. Vielleicht sogar etwas garstig! Das will ich wiedergutmachen. Das ist aber keine Zusage, Boyd. Ich verspreche dir nur, daß ich mir die Sache ernsthaft überlege. Allerdings ist dabei in Haken.«
»Welcher?«
»Festtagsdirndl! Das geht in Ordnung! Damit könnte ich leben. Hochzeitsdirndl! Nein! Ich lasse mich nicht in einem Hochzeitsdirndl für einen Katalog ablichten. Das mag dir vielleicht unverständlich sein und deinem Freund und seinem Chef auch. Aber ich habe vor, nur einmal in meinem Leben ein Hochzeitsdirndl zu tragen – auf meiner eigenen Hochzeit. Darin lasse ich mich mit meinem Bräutigam fotografieren. Das Bild hängen wir dann ins Schlafzimmer. So wird das hier gemacht. Ein Hochzeitsdirndl, das ist etwas Besonderes. Es ist fast etwas Heiliges. Ich kann das nur schwer erklären. Vielleicht bin ich auch altmodisch.«
»Nein, das bist du nicht! Evi, es gefällt mir, was du sagst.«
»Wirklich?« fragte Evi erstaunt.
»Ja, wirklich! Ich achte deine Entscheidung. Sie gefällt mir sogar. Einverstanden! Keine Aufnahmen in Hochzeitsdirndl! Ich habe Fotos von den Kleidern dabei! Willst du sie sehen?«
»Ja! Gern!« Evi lachte. »So verschieden von anderen jungen Frauen bin ich nicht. Ich betrachte auch gern schöne Sachen zum Anziehen.«
Sie lachte noch einmal.
»Übrigens, so weit ich das hier in der Dunkelheit sehen kann, hast du Berglersachen an. Stehen dir ganz gut!«
»Kannst mich ja mal anleuchten?«
Evi schaltete die Lampe wieder ein. Boyd blinzelte ins Licht.
»Mm, schaut urig aus! Aber net schlecht!«
»Danke!«
Boyd kramte in seinem Rucksack. Er holte eine Plastikmappe heraus. Darin waren Fotos von Kleidern.
Er sah sie in der Dunkelheit an.
»Also, wenn Bello hier etwas Platz machen würde und du näher kommen würdest, dann könnten wir die Bilder zusammen ansehen. Ich verspreche, ich beiße auch nicht!«
»Runter, Bello!« sagte Evi und gab dem Hund einen zärtlichen Klaps.
Bello sprang von der Bank und legte sich davor. Boyd und Evi rückten in die Mitte der Bank, aber nicht dicht zusammen. Boyd legte Bild für Bild auf die Sitzfläche zwischen ihnen. Evi hielt die Lampe und sie betrachteten die Aufnahmen.
»Die sind sehr schön. Sie sind wirklich sehr schön«, lobte Evi. »Einige der Feststagsdirndl gefallen mir so gut, daß ich sie sogar kaufen würde. Da hab’ ich wirklich die Qual der Wahl.«
»Blau müßte dir gut stehen! Du hast wunderschöne große blaue Augen!«
»Daran erinnerst du dich?«
»Ja! Ich werde deinen ersten Blick nie vergessen! Und du hast blonde schulterlange Locken, die du jetzt leider unter der Mütze verbirgst.«
Evi griff sich an den Kopf und zog langsam die Wollmütze herunter. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Locken umrahmten ihr liebliches Gesicht.
Boyd konnte sich nicht zurückhalten, zu flüstern:
»Du bist wunderschön! Lieblich wie ein...«
Dann brach er erschrocken ab.
Er sah, wie ihn Evi im Mondlicht anlächelte.
»Ich weiß! Wie ein Engel, das wolltest du doch sagen, oder?«
»Ja, wenn es nicht verboten ist. Du könntest mir etwas Nachhilfe geben, was ein Mann – pardon! Das heißt Bursche hier! Was ein Bursche hier zu einem Madl sagen darf!«
»Das ist wahrscheinlich auch nicht viel anders als überall auf der Welt, Boyd. Es kommt nur darauf an, wie er es meint und ob es auch wirklich so gemeint ist und nicht einfach so dahergeredet.«
»Es war nicht nur so dahergeredet, Evi! Du gefällst mir wirklich!«
Evi spürte, wie ihr warm wurde. Ihr Herz raste. Ihr war heiß. Sie öffnete den Reißverschluß ihrer Jacke ein Stück.
»Wollen wir die Bilder weiter ansehen?« fragte sie leise.
Boyd spürte deutlich, daß es zwischen ihnen knisterte und Evi auch Schmetterlinge im Bauch spürte. Ihm war aber bewußt, daß er vorsichtig sein mußte. Er war schon sehr glücklich, daß Evi so in seiner Nähe saß und er mit ihr sprechen konnte.
»Wir sind schon fast durch! Du kannst die Bilder behalten. Vielleicht willst du sie morgen noch einmal bei Tageslicht besehen?«
»Das wäre gut!«
Boyd reichte ihr den Stapel.
»Bitte schön! Und überlege es dir in Ruhe! Ich habe Arnold zwar versprochen, daß ich ihm am Montag Nachricht gebe. Aber ich will dich nicht drängen. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.«
Boyd lächelte.
»Eines habe ich in den Bergen, von der Natur, schon gelernt. Alles hat seine Zeit.«
»Richtig! Sommer und Winter, Frühling und Herbst! Tag und Nacht! Werktag und Sonntag! Nur das Vieh muß wirklich jeden Tag versorgt werden.«
»Ja, so ist es!«
Evi deutete auf den anderen Stapel von Bildern, die auf der Sitzbank zwischen ihnen lagen.
»Was ist damit?«
»Ach, das sind die Aufnahmen von den Hochzeitsdirndl! Willst du sie trotzdem ansehen?«
»Ja, warum nicht? Eines Tages werde auch ich mir ein Hochzeitsdirndl kaufen oder nähen lassen.«
»Eines Tages…«, wiederholte Boyd leise. »Du wirst wunderschön darin aussehen.«
Er schaute ihr in die Augen.
»Hast du einen Burschen? Oder kann ich das nicht fragen?«
Evi lachte. Aber ihr Lachen klang verlegen.
»Fragen kann man alles. Es ist nur nicht sicher, ob man eine Antwort erhält.«
Sie griff nach den Aufnahmen mit den Brautdirndl und steckte sie zusammen mit den anderen Fotos in ihren Rucksack.
»Magst du einen Schluck Kräutertee?«
»Gerne, Evi!«
Boyd holte einen Becher aus seinem Rucksack. Evi schenkte ein.
Sie lehnten sich auf der Bank zurück und tranken schluckweise den süßen Tee.
»Es wäre unhöflich, wenn ich deine Frage unbeantwortet lassen würde, besonders weil ich einmal sehr unhöflich zu dir war. Es war zwar eine sehr persönliche Frage. Du willst wissen, ob ich einen Burschen habe?«
»Du mußt sie mir nicht beantworten, Evi! Ich war vorlaut. Entschuldige!«
»Und ich habe nichts zu verbergen! Aber die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Einen Burschen hat ein Madl hier in den Bergen erst, wenn sie als Paar gelten, wenn alle wissen, daß sie zusammengehen, wenn die Verlobung bevorsteht. Einige heiraten auch gleich. Es ist üblich, wenn die beiden sich einig sind, daß sie an einem Abend gemeinsam Hand in Hand durch Waldkogel spazieren und so bekunden, daß sie zusammengehören. Ganz soweit bin ich noch nicht.«
»Dann bist du aber verliebt? Bist dir aber nur noch nicht sicher?«
»Nein, so ist es auch nicht! Ich bin sehr verliebt. Aber es braucht eben alles seine Zeit. Ich habe großes Glück. Ich kann wählen, wen ich will. Hauptsache, ich werde glücklich. Ich muß keine Rücksicht nehmen, zum Beispiel auf die Familie, den Hof. Den Quentmair Hof, den übernehmen mein Bruder und ich zusammen. Ich will dort leben, auch später mit meiner Familie. Aber wenn etwas dazwischenkommen sollte, dann würde Simon den Hof auch alleine machen. Aber es werden dort immer meine Wurzeln sein und er ein Ort sein, an dem ich mit meiner Familie immer willkommen bin. Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders glücklich zu sein. Ich bin ein Kind der Berge. Aber mit der Liebe ist es so eine Sache. Die kann mich auch ganz woanders hinführen. Wie gesagt, ich bin verliebt und es ist noch alles offen.«
»Du bist zweifellos ein Madl aus den Bergen! Die Berge sind wunderschön. Ich überlege, ob ich mir hier etwas mieten soll, eine kleine Almhütte vielleicht. Dort kann ich auch ein weiteres Studio haben. Das reizt mich. Ich habe auch schon mit Simon darüber gesprochen. Was hältst du davon?«
»Das wäre nicht schlecht. Du würdest viele Wege sparen.«
»Nicht nur das! Ich könnte Simon öfters sehen und dich vielleicht auch?«
»Ja, wir könnten uns dann auch öfter sehen.«
»Du wärst da nicht im Konflikt?«
»Wie meinst du das?«
»Nun, du sagtest, du seist verliebt?«
»Ja, das bin ich! Doch mehr wird jetzt nicht verraten. Wie steht es mit dir? Du hast doch bestimmt eine Freundin?«
»Es kommt darauf an, wie du das Wort ›Freundin‹ auslegst, Evi.«
»Wie kann man es denn auslegen?«
»Also, das kann ich gut erklären. Ja, ich habe eine Freundin, sogar Freundinnen. Aber die Freundin, mit der ich jetzt gelegentlich zusammen bin, nein, eigentlich müßte ich sagen, zusammen war, die ist nicht das, was du unter einem Madl verstehst. Es ist niemand, die man wirklich liebt, in die man verliebt ist. Niemand, an den man Tag und Nacht denkt, derentwegen man nicht schlafen, nicht essen kann. Da gibt es jemanden, dem meine ganze Liebe gilt, seit ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Sie ist in meinen Gedanken und in meinem Herzen.«
Boyd lachte leise.
»Weißt du, Evi! Ich habe mich immer gegen eine feste Beziehung gewehrt. Wollte mich nie binden! Nie festlegen! Arnold ging es auch so. Doch er hat sich verliebt und wird bald heiraten. Was habe ich ihn ausgelacht! Doch da war mir die Liebe noch nicht begegnet. Als es geschah, da spürte ich sofort, daß sich alles verändert. Aber ich brauchte eine Weile, bis ich zu meinen Gefühlen stand. Ich mußte mich von dem Ruf des ewigen Junggesellen verabschieden. Heute kann ich mir gut vorstellen, eine liebe Frau zu haben, sogar in den Bergen zu wohnen und auch Kinder zu haben. Du verstehst?«
»Auch wenn die Liebe plötzlich über einem kommt, dann gehört ein weiterer Schritt dazu, nämlich sie anzunehmen. Ich verstehe dich, Boyd!«
»Das ist schön! Es tut mir gut, mich mit dir zu unterhalten, Evi. Ich habe eine Bitte! Jetzt reden wir nicht von Aufnahmen, Katalogen und meinem Beruf. Dort in dieser Welt, da bin ich Boyd! Hier, wenn wir reden, da bin ich – einfach nur ich – Gustav. Kannst du mich Gustav nennen oder Gustl?«
Evi schaute ihm in die Augen. Im Mondlicht sah sie darin so viel. Ihr Herz klopfte. Es klopfte noch mehr, als sie Boyd leise sagen hörte:
»Evi, ich habe noch niemals eine junge Frau, eine meiner Freundinnen, gebeten, Gustav oder Gustl zu mir zu sagen. Du verstehst?«
Evi lächelte glücklich. Sie verstand.
»Ich werde es mir überlegen!«
Sie bückte sich und griff nach Bellos Leine.
»Es ist spät geworden! Ich will zurück zur Berghütte. Kommst du mit?«
»Nein! Ich habe mein Auto auf dem Pilgerweg geparkt. Ich werde wenden und zurückfahren. Hoffentlich bekomme ich bei den Baumbergers noch ein Zimmer. Es ist schon spät. Ich vergaß, sie anzurufen! Na, es wird schon werden. Wenn nicht, suche ich mir eine Almwiese und lege mich dort ins Heu.«
Sie lachten.
Dann standen sie sich gegenüber.
»Es war eine glückliche Fügung, daß wir uns hier getroffen haben!«
Boyd streckte Evi die Hand aus. Sie zögerte einen Augenblick, dann nahm sie sie. Boyds Hand fühlte sich warm, weich und kräftig an. Er hielt Evi Hand fest in der seinen, ohne sie jedoch fest zu drücken.
»Gute Nacht, Evi! Schlafe gut! Träume schön! Träume von deinem Burschen!«
Evi lächelte Boyd an. Dann sagte sie leise mit zärtlichem Klang in der Stimme.
»Das werde ich, Gustl! Das werde ich sicher! Dir auch eine gute Nacht! Wenn du bei den Baumbergers kein Zimmer bekommst, dann fahre zu uns auf den Hof. Sage, wir hätten uns getroffen und ich würde nicht wütend, wenn du unser Gast bist.«
»Danke, Evi!«
»Gern geschehen, Gustl!«
Evi entzog sanft ihre Hand. Sie standen sich noch einen Augenblick mit klopfenden Herzen gegenüber. Doch keiner wagte, einen Schritt auf den anderen zuzugehen. Dabei waren sie sich so nah. Es war ein Zauber zwischen ihnen, wie er nur zwischen Verliebten besteht.
Evi ging einige Schritte. Dann drehte sie sich um und sagte in die Dunkelheit:
»Ich komme morgen abend zurück. Wenn du willst, kannst du mich um zwanzig Uhr mit dem Auto auf der Oberländer Alm abholen, Gustl! Sei pünktlich!«
»Ich werde mein Madl nicht warten lassen!« flüsterte Boyd sehr leise vor sich hin.
Doch Evi hatte es gehört. Sie warf ihm ein Lächeln zu und ging dann mit Bello davon.
*
Die Tür der Berghütte stand offen. Das Licht fiel heraus auf die Holzplanken der Terrasse. Evi trat ein. Sie streifte Bello das Halsband ab.
Anna saß am Kamin und schaute in die Glut.
»Da bin ich wieder! Bist du extra wegen mir aufgeblieben, Anna?«
Bello ging auf sein Frauchen zu und legte sich auf seinen Lieblingsplatz, vor den Kamin.
»Schön, daß du wieder da bist! Schaust viel besser aus als am frühen Abend, Evi. Mußt dir keine Sorgen machen. Ich bin nicht wegen dir aufgeblieben. Die Hüttengäste sind unerwartet sehr früh schlafen gegangen. Der alte Alois ist schon ins Bett. Toni und ich sind so eher mit der Arbeit fertig und haben etwas Zeit. Toni sitzt im Wohnzimmer und klebt Fotos in das Album und schreibt an seinem Tagebuch. Darin notiert er Erlebnisse, die außergewöhnlich sind, damit sie über die Jahre nicht in Vergessenheit geraten. Ich sitze hier und hänge meinen Gedanken nach. Ich genieße einfach mein Glück, so will ich es mal nennen. Willst dich zu mir setzen?«
»Gern!«
Während Evi ihren Rucksack abstellte und ihren Anorak auszog, bereitete ihr Anna einen schönen Tee mit Rum.
Evi setzte sich.
»Dein Bruder Simon hat angerufen! Er machte sich Sorgen. Boyd kam heute abend zu euch auf den Hof! Er wollte rauf auf die Berghütte und mit dir reden. Nun ja, er scheint es sich anders überlegt zu haben. Da wird Boyd morgen kommen. Es war ja auch schon spät.«
Evi lächelte verschmitzt.
»Er war in den Bergen! Er ist mit dem Auto den Pilgerweg heraufgefahren, was verboten ist. Dann sind wir uns beim ›Erkerchen‹ begegnet.«
»Was du nicht sagst!« staunte Anna.
Sie musterte Evi aufmerksam. Evi sah die Neugierde in Annas Augen. Sie ließ sich Zeit, nippte an dem heißen Getränk.
»Ja, wir haben uns getroffen und geredet und geredet und geredet.«
»So? Mehr nicht?«
»Wie kommst du darauf?«
Anna lachte herzlich.
»Weil du so glücklich aussiehst, Evi. So ganz entspannt! So zuversichtlich!«
Evi holte aus ihrem Rucksack die Fotos der Dirndl. Sie erzählte Anna, welche Bewandtnis es damit hatte.
»Ach, Anna! Das hättest du erleben müssen, wie er sich gewunden hat. Er hatte wohl große Sorge, daß ich ihm nicht glauben würde. Aber ich denke, es war wirklich eine Panne mit dem Foto oder Schicksal oder Vorsehung? Ist auch gleich! Darüber mache ich mir keine Gedanken.«
»Du machst dir über etwas anderes Gedanken?«
»Ja!«
Evi redete sich Anna gegenüber alles von der Seele. Sie sprach davon, wie offen und ehrlich sie miteinander über die Liebe und über Freundschaft und über Burschen und Madln geredet hatten.
»Ach, Anna! Es knisterte so zwischen uns. Er sprach, daß er sich in ein Madl aus den Bergen verliebt habe. Ich redete von einer heimlichen Liebe. Ich hätte fragen können, wer das Madl ist. Er hätte mich weiter nach meiner heimlichen Liebe ausfragen können. Doch keiner von uns beiden fand dazu den Mut.«
Evi war sich unsicher. Vielleicht war es doch gut, daß keiner den anderen gefragt hatte. Immerhin war es erst das zweite Zusammentreffen.
Evi seufzte. Sie war voller widersprechender Gefühle.
»Er ist doch der Bursche! Wenn er mich mag, dann soll er es sagen. Er schwatzte von meinen blauen Augen, von meinem blonden Haar. Ich nahm extra meine Mütze vom Kopf.«
Evi hatte erwartet, daß er schüchtern, zaghaft nach einer ihrer Locken greift.
»Aber nichts dergleichen! Das war schon ein bisserl enttäuschend!«
Anna lachte laut.
»Evi! Evi! Er wollte eben nichts falsch machen!«
»Ja, das versteh ich!« brummte Evi. »Doch wie soll das weitergehen?«
Evi fand, daß sie ihm viele Andeutungen gemacht hatte. Wenn er ihr hätte näher kommen wollen, dann hatte es gute Chance dafür gege-
ben.
»Ach, Evi, du bist schon herzig! Erst bekämpfst du ihn mit allen Mitteln. Dann wunderst du dich, daß er zurückhaltend ist. Habe doch ein bisserl Verständnis für ihn.«
Anna verstand Boyd. Außerdem erinnerte sie sich, wie das damals mit Toni gewesen war. Toni hatte Anna damals nur angeschaut. Sie hatte die Liebe in seinen Augen gesehen. Aber er hatte sich Zeit gelassen, so viel Zeit bis zum ersten Kuß.
»Burschen tun gelegentlich so, als seien sie echte Draufgänger. Dann sind sie wieder schüchtern wie kleine Schulbuben«, schmunzelte Anna.
Sie tröstete Evi. Nach Annas Beurteilung wollte Boyd sich seiner Sache ganz sicher sein. Sie war der Meinung, daß er mit seiner Zurückhaltung seine Ernsthaftigkeit bekundete. Anna fand es bemerkenswert, daß Boyd Evi von den Freundinnen erzählt hatte.
»Damit wollte er reinen Tisch machen, Evi. Du weißt jetzt, woran du bist. Ich denke, daß nicht viele Burschen so offen über ihr bisheriges Gefühlsleben reden. Sehe es positiv!«
»Das versuche ich ja auch! Doch plötzlich war mir alles egal. Ich wünschte mir nur, er würde mich in den Arm nehmen und küssen. Kannst du das verstehen, Anna?«
»Besser als du denkst! Damals lag ich schlaflos in der Kammer und grübelte darüber nach, wann – wann mich endlich Toni küssen würde. Ich war drauf und dran ihn zu fragen!«
»Was du nicht sagst!«
»Ja, Evi! Ich dachte darüber nach, wie ich ihn fragen könnte, ihn ermutigen. Etwa so: Wird in den Bergen nicht geküßt? Sieht die Liebe in den Bergen keine Küsse vor? Küssen die Burschen in den Bergen mit den Augen und nicht mit den Lippen?«
Die beiden jungen Frauen lachten.
Evi sah ein, daß sie es mit ihrer anfänglichen Ablehnung Boyd nicht gerade leicht gemacht hatte.
»Übrigens, ich sage nicht mehr Boyd zu ihm. Jedenfalls nicht, wenn wir uns privat unterhalten, dann sage ich Gustl! Boyd heißt mit Vornamen Gustav.«
Anna staunte.
»Wie kommt es?«
»Er bat mich darum und fügte hinzu, das habe er noch keinem Madl angeboten!«
»Nun, das ist doch etwas! Der will dir nah sein! Sieh es so!«
»Ja, das versuche ich!«
Anna erkundigte sich, ob Evi sich zu den Modeaufnahmen durchringen könnte.
»Ich denke schon! Außerdem bin ich dann mit ihm zusammen. Ich kann auch die Orte bestimmen. Ich habe mir auf dem Rückweg vom ›Erkerchen‹ hierher schon Gedanken gemacht.«
Evi wollte mit ihrem Bruder Simon reden. Er war mit dem jungen Grafen, dem Adoptivsohn des Grafen Tassilo von Teufen-Thurmann befreundet. Das renovierte Waldschloß des Grafen gab eine gute Kulisse für die Aufnahmen von Festtagsdirndl ab. So dachte es sich Evi. Anna war davon auch überzeugt. Auch der Schloßpark, der sich bis zum Bergsee erstreckte, eignete sich gut dafür. Evi legte aber noch auf etwas anderes Wert. Dort würden sie ungestört sein. Niemand konnte zusehen. Sie würde mit Boyd dort allein sein, das hoffte sie jedenfalls. Vielleicht würden noch Leute aus seinem Team dabei sein. Evis Bruder Simon hatte ihr erzählt, daß mehrere Leute zu Boyds Team gehörten, die den Models beim Anziehen und Ausziehen halfen, sie schminkten und frisierten.
»Ich werde mit ihm darüber reden. Auf dem Foto, das er von mir gemacht hatte, da war ich auch nicht geschminkt und frisiert.«
Während Evi weiter nachdachte, ließ sie die Bilder der Kleider durch die Finger gleiten.
»Sie sind wunderschön! Findest du nicht auch, Anna?«
»Sehr schön! Einige davon könnte man als Hochzeitsdirndl anziehen!«
»Nein! Da habe ich andere Bilder!«
Evi setzte sich neben Anna. Sie betrachteten die zehn Fotos, auf denen Brautdirndl auf Schaufensterpuppen fotografiert waren.
»Welches gefällt dir, Evi?«
»Sie sind alle schön! Aber ich würde keines davon nehmen. Außerdem habe ich noch keinen Anlaß, mir darüber Gedanken zu machen!«
Evi errötete tief. Anna lachte.
»Mußt nicht lachen! Erst muß er mir sagen, daß er mich liebt. Dann muß er mich küssen. Dann einen Antrag machen. So ist die Reihenfolge. Anna, das weißt du doch!«
»Sicherlich! Trotzdem kannst du davon träumen. Gib es zu, du träumst längst davon? Jedes Madl, das verliebt ist, träumt davon, wie es sein wird, wenn es als Braut zum Altar schreitet. Das ist keine Sünde und völlig normal.«
»Ja schon! Doch bei mir und Boyd – ich meine Gustl –, da war nichts völlig normal. Da ist was ganz schön schiefgelaufen. Dabei hatte ich mich sofort in ihn verliebt.«
Anna lachte herzlich.
»Oh, Evi! Du tust, als wäre es festgelegt, wie es ablaufen muß, wenn sich zwei verlieben. Das gibt es nicht. Es gibt keine Regeln, keine Muster. Die Liebe hat da ihre eigenen Wege, wie sie zwei Menschen zusammenführt. Das mußte ich auch erst einsehen. Bei allen Menschen auf der ganzen Welt ist das verschieden. Dieses Erlebnis teilen nur die beiden Liebenden miteinander. Das ist ein Geschenk, ein kostbares Geschenk, ein so wunderbares Geschenk. Das hat nichts mit Planung und Logik und Verstand zu tun. Es ist die Liebe. Sie vermag Grenzen, Entfernungen und Unterschiede mühelos zu überwinden. Sie hat ihren eigenen Plan, wann es der richtige Zeitpunkt ist. Du bist Boyd – nein – deinem Gustl, vor der Kirche begegnet, als du auf dem Friedhof gewesen bist, um die Gräber zu gießen. Mir ist mein Toni im Zugabteil begegnet.«
»Ich verstehe, was du meinst, Anna! Manchmal kommt die Liebe wie eine Naturgewalt über zwei Menschen. Oder sie kommt langsam und auf leisen Sohlen, so wie bei meinem Bruder Simon und meiner Schulfreundin Rosi. Rosi geht seit Jahren bei uns daheim ein und aus. Ich meine Simon und Rosi kennen sich gut. Als Kinder haben wir alle zusammen gespielt. Jetzt sind sie ein Paar. Irgendwann keimte die Liebe, langsam und stetig. So hatte ich es mir auch vorgestellt.«
»Niemand kann es sich aussuchen, wie, wann und wo der Blitz einschlägt. Die Liebe, so scheint es mir, ist wirklich das letzte Geheimnis auf unserem allzu wissenschaftlichen und technologischen Planeten. Dafür, daß es so ist, dafür bin ich dem Himmel dankbar, dankbar aus tiefstem Herzen!«
»Das hast du schön gesagt, Anna! Sehr schön! Ich stimme dir zu. Ich will dafür auch dankbar sein und das wirklich göttliche Geschenk annehmen. Wenn die Liebe uns füreinander bestimmt hat, dann finden wir zusammen. Darauf will ich vertrauen und mich freuen und davon träumen.«
»Das ist gut so, Evi! Träumen kann man besten im Bett. Es ist auch schon spät. Gehen wir schlafen!«
Anna brachte die beiden Becher in die Küche. Die Frauen sagten sich gute Nacht. Evi ging in ihre Kammer. Anna ließ Bello noch einmal hinaus, dann schloß sie ab, löschte das Licht und ging zu Toni. Dieser zeigte ihr das Album und seine Aufzeichnungen. Gemeinsam schauten sie noch einmal nach den Kindern. Franziska und Sebastian schliefen fest. Dann gingen Toni und Anna auch zu Bett.
*
Evi wartete schon auf der Oberländer Alm, als Boyd kam. Er hielt an, sprang aus dem Auto und schaute auf die Uhr.
»Ich bin aber nicht zu spät! Es ist erst halb acht Uhr! Wieso bist du schon hier?«
»Ich wollte auch pünktlich sein!«
Sie lachten.
»Komm, laß uns schnell einsteigen und fahren! Der liebe alte Wenzel schaut schon sehr neugierig zu uns herüber. War viel zu früh und habe mich jetzt über eine Stunde mit Wenzel und seiner Frau unterhalten. Sie bemerkten, daß ich ständig auf die Uhr schaute.«
Sie stiegen ins Auto. Boyd wendete auf der Wiese und fuhr den Milchpfad hinunter nach Waldkogel.
Unterwegs warf Boyd Evi immer wieder Seitenblicke zu.
»Du sagst nichts!« bemerkte Evi.
»Ich wollte höflich sein! Warten, bis du etwas erzählst.«
Sie mußten lachen.
»Wenn wir so weitermachen, dann wird alles sehr kompliziert«, bemerkte Evi lachend.
»Gut, dann frage ich! Wo darf ich das Madl hinfahren?«
»Du hast letzte Nacht auf dem Quentmair Hof übernachtet. Du weißt, daß ich mit Simon telefoniert habe?«
»Ja, ich habe die Gastfreundschaft deiner Familie in Anspruch genommen. Aber nur für eine Nacht. Heute abend siedele ich zu den Baumbergers um. Nein, ich weiß nicht, daß du mit Simon telefoniert hast.«
»Warum willst du nicht länger auf dem Quentmair Hof bleiben? Hast du Angst vor mir?«
»Nein! Aber ich weiß, welch großen Wert du auf deinen Ruf
legst.«
»Nun, das laß mal meine Sorge sein. Du mußt das nicht sofort entscheiden. Wenn du nicht weißt, daß ich mit Simon telefoniert habe, dann wirst du jetzt auch nicht wissen, daß wir einen Besichtigungstermin haben. Wir fahren zum Waldschlößchen. Das gehört einem Grafengeschlecht, das seit dem Mittelalter seine Wurzeln hier hat. Ganz nette Leute, nicht abgehoben. Du wirst sie mögen. Ich zeige dir, wie du fahren mußt. Hauptstraße entlang und dann Richtung Bergsee, Sägewerk…«
»Ah, diese kleine Gasse! Das Nadelöhr für die Holzfuhrwerke. So einem Holzfahrzeug haben wir es zu verdanken, daß wir uns damals abends begegnet sind. Die Zugmaschine und der Anhänger kamen schlecht um die Ecke. So beschloß ich, zu parken und zu warten.«
Boyd bog auf die Hauptstraße ein.
»Was besichtigen wir dort und warum?«
»Weil ich mir denke, daß das Waldschlößchen eine gute Örtlichkeit für Aufnahmen mit den Festtagsdirndl sind!«
Boyd trat auf die Bremse. Der Wagen stand.
»Heißt das, du machst es?«
»Würde ich dir das Waldschlößchen und den Park sonst zeigen wollen?«
Boyd strahlte Evi an.
»Danke!« sagte er leise.
»Aber es gibt noch Bedingungen!«
»Erfüllt! Alles, was du willst!«
»Alles?«
»Wenn ich sage alles, dann meine ich das auch so!«
»Gut! Also, nur du und ich! Du fotografierst! Niemand von deinem Team, nix mit Schminken und Frisieren! Einverstanden?«
»Ja! Und wann?«
»Das ist mir gleich! Wenn es nach mir geht, können wir morgen anfangen! Wieviel Tage braucht man für solche Aufnahmen?«
»Wir sind bestimmt in einem Tag fertig! Du bist so ein wunderbares Model. Außerdem sind es nicht so viele Festtagsdirndl! Ich lasse die Kleider kommen. Ich schicke Arnold sofort eine SMS. Er kann sie doch zu euch auf den Hof bringen?«
»Besser gleich ins Schloß!«
Boyd fuhr wieder los.
Auf dem Schloß wurden sie vom alten Grafen erwartet. Tassilo führte sie überall herum. Er stellte sein Schloß unentgeltlich zur Verfügung, was Boyd sehr bemerkenswert fand.
»Das ist hier so in Waldkogel. Da hilft einer dem anderen. Wenn Waldkogel und unsere schönen Berge im Katalog sind, dann sind wir alle froh.«
Der Graf lud Boyd und Evi zum Abendessen ein. Anschließend saßen alle vor dem Kamin in der Bibliothek. Boyd lauschte den Geschichten, die der Graf so anschaulich erzählen konnte, über das Schloß, die Berge und ganz Waldkogel.
Es war schon Mitternacht, als Boyd und Evi den Quentmair Hof erreichten. Evis Eltern waren schon schlafen gegangen. Nur Simon war noch auf. Evi sagte ihrem Bruder gute Nacht und ging gleich hinauf. Boyd und Simon tranken noch ein Bier zusammen.
*
Am nächsten Morgen brachte Arnold die Festtagsdirndl zum Schloß. Zuvor hatte er Boyd angerufen. Sie trafen sich bei der Kirche. Boyd fuhr zum Schloß voraus. Der Graf stellte eines der Gästezimmer zur Verfügung.
»Dann hast du doch Erfolg bei Evi gehabt! Seid ihr euch schon näher gekommen? Wann bekomme ich Evi zu sehen?«
Boyd lachte.
»Das würdest du zu gerne wissen, wie? Da mußt du dich aber noch etwas gedulden! Und zu sehen bekommst du sie erst später!«
»Hast du Angst?«
»Nein! Aber alles hat seine Zeit! Ich schicke dir die Bilder. Dann sehen wir weiter!«
Boyd wollte mit Arnold nicht über Evi reden, noch ihn ihr vorstellen. Er war glücklich, daß sich ihre Beziehung so gut entwickelt hatte. Evi und er waren sich auf eine besondere Art und Weise nah. Das konnte er Arnold nicht erklären. Sie hatten sich ihre gegenseitige Zuneigung und Liebe gestanden, ohne sich ein Wort zu sagen. Sie waren sich einfach nah.
Boyd fuhr zurück zum Quentmair Hof und holte Evi ab. Als wären sie ein eingespieltes Team, lief der Tag ohne Probleme und harmonisch ab. Evi zog sich zwischen den einzelnen Aufnahmen um. Sie frisierte sich die Haare neu. Mal rieselten ihre blonden Locken über die Schultern. Dann trug sie die Haare hochgesteckt.
Boyd fotografierte sie in jedem Dirndl an verschiedenen Orten im Schloß und draußen im Park.
Dabei sprachen sie nur das Notwendigste. Um die Mittagszeit und am Nachmittag machten sie eine kleine Pause.
»So, das war es!« sagte Boyd. »Es ist alles im Kasten! Du hast das großartig gemacht!«
Evi blieb stehen und legte den Kopf leicht schräg. Sie schaute Boyd in die Augen.
»Kannst du mit dem Selbstauslöser ein Bild machen, auf dem wir beide drauf sind? Als Andenken für mich!«
»Gern! Schön, daß du daran gedacht hast! Darf ich davon auch einen Abzug haben?«
»Dummer Kerl!« lacht Evi.
Sie nahm Boyd bei der Hand und zog ihn fort.
Weiter hinten im Park stand ein alter Baum. Ein dicker Ast hing ziemlich tief herab. Evi kletterte hinauf und setzte sich darauf.
»Boyd, das gibt ein schönes Bild! Ich sitze hier und du stehst unten und reichst mir die Hand!«
»Gut! Wenn du das so haben willst! Doch warum sagst du schon den ganzen Tag wieder Boyd zu mir?«
Evi lachte.
»Ich trenne zwischen Beruf und Sonstigem! Nun, frage nicht so lange! Stelle die Kamera auf und schalte sie ein.«
Boyd setzte den Fotoapparat mit dem großen angeschraubten Stativ ab, den der über der Schulter getragen hatte. Er richtete die Kamera ein und ging auf Evi zu. Er reichte ihr die Hand.
Dann geschah es. Evi tat so, als würde sie das Gleichgewicht auf dem Ast verlieren. Sie ließ sich hinunterfallen in Boyds Arme. Er hielt sie fest. Ihre Gesichter waren sich nah. Sie schauten sich in die Augen. Sie sah seine Liebe. Er sah die Liebe in ihren Augen.
Evi schloß die Augen und flüsterte:
»Gustl, mein Gustl!«
Er drückte sie an sich. Endlich fanden sich ihre Lippen zu den ersehnten Küssen. Sie küßten und küßten sich, lang und sehr leidenschaftlich.
»Ich liebe dich, Evi! Meine Evi! Mein Madl! Ich liebe dich! Ich liebe dich!«
»Ich liebe dich, mein Gustl!«
Erneut fanden sich ihre Lippen.
So ging das eine ganze Weile. Dann schob Boyd Evi von sich.
»Evi, ich brauche jetzt dringend eine Anweisung von dir! Ich will alles richtig machen. Ich will dich – dich – dich! Was muß ich machen? Muß ich erst noch lange um dich werben? Muß ich zuerst deine Eltern fragen und dann dich? Kann ich dich gleich fragen? Wie lange… wann kann ich dich heiraten?«
Evi schlang die Arme um seinen Hals.
»Ich liebe dich, Gustl! Ich hatte mich gleich in dich verliebt! Deshalb bin ich so schnell davongelaufen! Ich liebe dich! Wenn du willst, dann kannst du mich auf der Stelle heiraten! Ich weiß nicht, wie das alles zusammengeht – dein Leben und mein Leben. Aber ich weiß, daß die Liebe schon alles richten wird.«
Sie küßten sich erneut.
Dann kniete sich Gustl Ortmann, der auch Boyd gerufen wurde, vor Evi ins Gras.
»Liebste Evi! Ich bitte um deine Hand! Werde meine Frau! Werde bald meine Frau! Willst du?«
»Ja, ich will deine Frau werden!«
Boyd stand auf. Er hob Evi hoch auf seine Arme und drehte sich mit ihr im Kreis. Er war so glücklich.
Bald darauf fuhren sie zum Quentmair Hof. Hand in Hand betraten sie die große Wohnküche. Ihre Eltern waren mit dem Abendessen fertig und saßen noch am Tisch.
Evis Augen leuchteten wie zwei Sterne, als sie sagte:
»Grüß Gott! Da sind wir wieder! Wir sind mit den Aufnahmen fertig geworden.«
»Des ist ja schön!« bemerkte Willibald Quentmair.
»Vater! Mutter! Simon! Des ist nicht alles, was es zu berichten gibt! Also der Boyd! Boyd, ist nur sein Künstlername, das wißt ihr ja. Ich nenne ihn Gustl, weil er Gustav heißt. Es wäre schön, wenn ihr euch daran gewöhnen könnt, auch Gustl zu ihm zu sagen.«
Evi warf ihrem Liebsten einen Seitenblick zu. Dann sagte sie leise:
»Gustl wird wohl auf Dauer bei uns auf dem Hof leben! Er hat mir einen Antrag gemacht und ich habe ihn angenommen. Daß ich verliebt in ihn war, das war kein Geheimnis, auch wenn ich alles getan habe, es zu verbergen. Ich hatte mich sofort in ihn verliebt – in seine schönen braunen Augen, die mich so sanft angesehen haben. Ja, und jetzt wollen wir bald heiraten.«
Evis Vater und ihre Mutter schauten sich an. Sie schmunzelten, und Simon grinste.
»Bald?«
»Ja, Vater! Bald!«
»Madl, du bist alt genug. Ich denke, du weißt, was du tust.«
»Das weiß ich, Vater! Die Liebe ist so schnell über uns hereingebrochen, daß wir beide unsere liebe Not damit hatten. Doch jetzt ist alles geklärt zwischen uns. Ich weiß, daß ich mich frei entscheiden kann. Trotzdem würde es viel zu meinem Glück beitragen, wenn ihr meine Wahl gutheißen würdet.«
Willibald Quentmair stand auf. Er ging auf Boyd zu und sagte.
»Gustl, wie wir dich jetzt mit Freuden rufen, weil des auch besser hier in den Bergen klingt. Gustl, nimm die Evi und bring sie bald zum Traualtar. Bist uns willkommen! Heirate des Madl, damit hier wieder Ruhe einkehrt. Des sind schlimme Wochen gewesen. Mei, was haben wir gelitten!«
Dann schaute er seine Tochter an.
»Werd’ glücklich, Evi! Der Gustl ist ein braver Bursch’. Wir haben am Samstag hier zusammen gesessen und er hat mit uns geredet. Er paßt gut in die Familie. Er hat uns überzeugt, daß er dich glücklich machen wird.«
Der Quentmair drücke Evi an sich. Dann schüttelte er Gustl die Hand. Evis Mutter trat hinzu.
»Madl! Ich denke, du hast dir schon den Richtigen ausgesucht. Doch sage, ihr wollt doch am Ende nicht noch vor dem Simon und der Rosi heiraten?«
Simon ließ seine Schwester nicht antworten.
»Diese Blitzliebe zwischen den beiden, die schreit nach einer Blitzhochzeit! Wenn sie es so eilig haben, dann sollen sie heiraten! Die Rosi und ich sind gerne Trauzeugen.«
Der Bauer holte den Obstler aus dem Schrank. Die Bäuerin brachte die Gläser. Sie tranken auf das Glück und die Liebe der beiden. Simon rief sein Madl an. Rosi kam sofort. Sie saßen bis tief in die Nacht zusammen und beredeten die Einzelheiten der bevorstehenden Hochzeit. Das schien alles etwas komplizierter zu sein, als wenn sich Evi einen Burschen aus Waldkogel ausgesucht hätte. Boyd wollte auch mit seinen vielen Freunden feiern. Die lebten in einer anderen Welt und konnten mit einer richtig ländlichen Hochzeit nichts anfangen, so wie sie sich Evi wünschte.
Schließlich einigten sie sich auf eine Trennung der Feierlichkeiten.
Evis Eltern und Simon mit Rosi würden in Boyds Wohnort an der dortigen standesamtlichen Trauung teilnehmen. Anschließend gab es einen eleganten Stehempfang in einer vornehmen Örtlichkeit, die in der Szene gerade angesagt war. Das sollte bis zum frühen Nachmittag dauern. Danach wollte man nach Waldkogel zurückfahren, um am nächsten Tag hier kirchlich zu heiraten.
So geschah es dann auch. Vier Wochen später läuteten die Glocken der schönen Barockkirche in Waldkogel und luden zur Trauung ein.
Pünktlich setzte sich der Hochzeitszug vom Quentmair Hof aus in Bewegung. Die Musikkapelle führte den Zug an. In einer offenen weißen Hochzeitskutsche saß das Brautpaar, gefolgt von weiteren Kutschen mit den Gästen. Zur Überraschung aller, waren doch viele von Boyds Freunden nach Waldkogel gekommen. Sie bildeten ein Spalier vor der Kirche. Zu Ehren des Brautpaares trugen alle Frauen Dirndl und alle Männer einen Lodenanzug. Arnold hatte dies organisiert.
Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt. Evi machte sich keine Illusionen, waren viele aus reiner Neugierde gekommen. Ihr Gustl war eben als Boyd in Waldkogel bekannt, als der Fotograf. Das war schon sehr ungewöhnlich, daß ein Fremder auf einen Hof einheiratete.
Doch als sie das Brautpaar sahen, blieb ihnen fast der Atem stehen. Ein solch schönes Paar hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Boyd trug einen grünen Anzug aus feinstem Loden und einen Hut mit dem Gamsbart, ein Geschenk seiner Schwiegereltern. Er sah wirklich aus wie ein Bergler, besonders der kleine Schnauzer, den er sich in den Wochen vor der Hochzeit hatte stehen lassen, machte das Bild perfekt.
Evi trug ein blaßblaues seidenes Hochzeitsdirndl mit weißem Mieder und weißer Schürze. Ein Kranz aus Vergißmeinnicht schmückte ihr blondes Haar. Aus blauen Vergißmeinnicht und weißen Rosen war ihr Brautstrauß.
Hand in Hand, wie zwei unschuldige Kinder, gingen sie durch den Mittelgang der Kirche auf den Altar zu. Kein Auge blieb ungerührt. Jeder sah, wie groß die Liebe war und wie tief das Vertrauen in den anderen, daß sie gemeinsam alle Höhen und Tiefen des Lebens meistern werden.
Nach der Trauung wurde auf dem Quentmair Hof gefeiert bis tief in die Nacht. Viele der Gäste tanzten und feierten noch, als sich Evi und Gustl davonschlichen. Mit Gustls neuem Geländewagen fuhren sie den Pilgerpfad hinauf. Simon und Rosi hatten schon eine der Schutzhütten für das Paar hergerichtet. Sie hatten bei Förster Hofer auch die Sondererlaubnis zur Befahrung des Waldweges erwirkt.
Evi und Gustl verlebten wunderbare Flitterwochen. Sie machten Wanderungen. Sie besuchten Toni und Anna auf der Berghütte und spielten mit Franziska und Sebastian auf dem Geröllfeld.
»Du wirst ein wunderbarer Vater werden«, sagte Evi voller Überzeugung.
Es dauerte auch nicht lange, da war Evi in guter Hoffnung. Sie bekam einen Jungen. Den Bub nannten sie auch Gustav, genau wie sein Vater. Darauf hatte Evi bestanden und auch auf den zweiten Vornamen. Der war Boyd.
Bürgermeister Fritz Fellbacher schmunzelte, als er die Geburtsurkunde ausstellte und sagte:
»Die Vornamen, des ist die perfekte Mischung zwischen Tradition und Moderne!«
Evis Mann richtete sich auf dem Quentmair Hof ein Studio ein und erledigte seine berufliche Tätigkeit von dort aus. Hinzu kam, daß er die Liebe zu den Bergen immer wieder mit schönen Fotografien unter Beweis stellte. In den nächsten Jahren gab er mehrere Bildbände über die Berge und die Natur rund um Waldkogel heraus. Die Waldkogeler waren sehr stolz auf ihren Zugereisten. Daß Gustl Ortmann nicht aus Waldkogel war, das verschwiegen sie. Das war das schönste Kompliment, das sie Gustl machen konnten.