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Die rituelle Erfahrung

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Wenn Rituale auch kein Erkenntnisweg im Sinn esoterischer Deutungen sind, ermöglichen sie es uns dennoch, die Götter zu erfahren, und das ist auch eine ihrer wesentlichen Aufgaben. Im Gegensatz zu autoritären Offenbarungslehren, die nur blind geglaubt werden können, ist das Heidentum eine Erfahrungsreligion, die statt auf Glauben auf die lebendige Begegnung mit den Göttern setzt. Diese Begegnung kann auf vielerlei Weise geschehen: im Erleben der Natur um uns und der „Natur, die wir selbst sind“; in persönlichen Visionen und in den Mythen und Traditionen, die uns die religiösen Erfahrungen früherer Generationen zugänglich und erlebbar machen, an heiligen Plätzen und Kraftorten, in Ausnahmesituationen oder ganz unerwartet im täglichen Leben.

Die häufigste, für alle Menschen gleich erreichbare und auch am besten „steuerbare“, von uns selbst herbeigeführte Begegnung mit den Göttern geschieht aber im Ritual. Sie hat sich seit Beginn der Menschheit in allen Kulturen unzählige Male bewährt und ist die wohl älteste und grundlegende Art, Göttliches nicht nur vage zu ahnen, sondern konkret zu erfahren – „nicht hinter, sondern in den Wirkungen“, wie der moderne Philosoph Reinhard Falter sagt, der den Terminus „Erfahrungsreligion“ geprägt hat. Für unsere Vorfahren bildete das Ritual offenbar die Schlüsselerfahrung, nach der sie auch ihre Begriffe formten.

Das Wort, mit dem die Germanen seit jeher die heilige Wirklichkeit bezeichnet haben, das heutige deutsche Wort „Gott“, lautete in der Urform guþ (gesprochen guth mit „englischem“ th wie in think) oder guð (wie in this), war sächlich und wurde ursprünglich nur in der Mehrzahl verwendet. Es bezeichnete wie noch das nordische goð die Gesamtheit der Götter beiderlei Geschlechts oder jenseits der Geschlechter, als generelle Erfahrung göttlichen Seins in all seiner Vielfalt und seinem Geheimnis. Zumindest Tacitus scheint es so verstanden zu haben, wenn er den Germanen nachsagt, sie würden „mit den Namen der Götter jenes Geheimnis (secretum illud) benennen, das sie in einziger Ehrfurcht schauen.“ Überflüssig zu sagen, dass die Einzahl des Römers falsch und jede Spekulation über einen germanischen Monotheismus, wie sie christliche Romantiker daraus entwickelten, haltlos ist: guþ ist eindeutig Mehrzahl – aber was sagt es aus?

Jacob Grimms bekannte, bis heute in populären Darstellungen verbreitete Ableitung aus „gut“ ist philologisch nicht haltbar und hätte im Heidentum auch keine religiöse Grundlage, denn die Götter sind nicht nur in einer Welt des „Guten“, sondern in der ganzen Wirklichkeit zu Hause und in ihrem Handeln oft „jenseits von Gut und Böse“. Die moderne Sprachforschung, nachzulesen etwa in Dudens etymologischem Wörterbuch, leitet guþ aus dem indogermanischen Partizip *ghutom ab, das „angerufen“ bedeutet.

Das Göttliche der Germanen ist also „das Angerufene“ – es zeigt sich, wenn es im Ritual „mit den Namen der Götter benannt“ wird.

Ähnlich leitet sich das Wort für eine einzelne männliche Gottheit, nordisch áss und altgermanisch ansuz, aus der Wurzel *ans ab, die für den Pfahl oder Balken steht. Einfache, roh behauene Kultpfähle standen in den frühgermanischen Heiligtümern. Mit ihren naturbelassenen, zufällig gewachsenen Formen und minimalistisch ausgearbeiteten Gesichtszügen konnten sie nicht wirklich dazu gedacht gewesen sein, die Götter bildlich darzustellen, sondern sollten lediglich andeuten, dass sie sich hier zeigen würden. Das Wort für den Pfahl ging auf die Götter über, weil man die Erfahrung machte, dass sie in den Riten, die man davor zelebrierte, gegenwärtig wurden. So haben beide Begriffe, ansuz ebenso wie guþ, ihren Ursprung in der rituellen Begegnung.

Natürlich ist das keine germanische Besonderheit. Angehörige aller Religionen fühlen sich in ihren Ritualen den Göttern näher als sonst, denn sie erleben dabei ihre Gegenwart in einer Weise, die über das alltägliche Leben hinausgeht. Sie sprengt auch den Rahmen des Mitteilbaren in alltäglichen Worten, ja selbst in Mythen und Dichtungen. Deshalb lässt es sich nicht erklären, was dieses Erleben ist und beinhaltet.

Es ist auch individuell verschieden und einzigartig. Manche erfahren die Götter als Vision in klaren Gestalten, andere begegnen ihnen in sich selbst und fühlen sich von ihnen durchdrungen, und wieder anderen zeigen sie sich in den heiligen Gegenständen, im Lodern des Opferfeuers oder in der funkelnden Farbe und Kraft des Mets.

Allen gemeinsam jedoch ist die Erfahrung der besonderen, tiefen Kraft, die im Ritual hervortritt: die Erfahrung des Heils.

Das Heilige Fest

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