Читать книгу Comanchen Mond Band 1 - G. D. Brademann - Страница 14

Kapitel 8

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Das Mädchen bemerkten sie erst, als sie die Klappe hinter sich lauter als beabsichtigt zufallen ließ. Die beiden hielten inne. Großmutter schlug sich wie ertappt vor Schreck die Hand vor den Mund. Great-Mountain schnaufte hörbar auf. Er holte tief Luft, schwieg dann jedoch weiter. Wie zwei, die sich bei etwas Unangenehmem ertappt fühlen, dachte Summer-Rain. Natürlich glaubte sie, dass das Geheimnis ihres Bruders entdeckt und zur Sprache gekommen war. Aber so schnell? Great-Mountain konnte doch eben erst mit den Männern zurückgekommen sein. Unschlüssig blieb sie stehen, ihr Gesicht war leichenblass.

Großmutter musterte sie forschend. Auch der Medizinmann runzelte die Stirn. „Setz dich“, forderte er etwas unwirsch. Sie kam der Aufforderung nach und hockte sich ihm gegenüber. Sich neben ihn zu setzen, gehörte sich nicht. Großmutter blieb stehen, die Hände wütend in die Hüften gestemmt. Von guten Manieren hielt sie anscheinend nichts. Summer-Rain zitterte leicht und versuchte krampfhaft, ihre Hände unter Kontrolle zu bringen, doch die beiden schienen es nicht zu bemerken.

„Deine Großmutter ist der Meinung, du seist noch ein kleines Kind. Ich dagegen sehe das nicht so. Du bist alt genug, um einem Mann wie Running-Fox den Kopf zu verdrehen – also auch alt genug, um das zu tun, worum ich dich bitten werde; denn nur du allein bist dafür geeignet. Glaub mir, wenn es nicht so wäre, hätte ich einen großen Bogen um deine Großmutter gemacht. Sie ist, wenn es um dich geht, wie eine Wölfin, die ihr Junges verteidigt.“ Nach diesen Worten machte er erst einmal drei tiefe Züge aus seiner Pfeife.

In Summer-Rains Kopf schwirrten die Gedanken durcheinander. Es ging also gar nicht um Light- Cloud oder Dark-Night! Vor Erleichterung atmete sie auf und hörte nur halb hin, was Great-Mountain zu sagen hatte.

„Du wirst eine ganze Zeit lang nur auf dich allein gestellt sein. Außerdem kann es gefährlich werden.“

Verständnislos, erst jetzt die Worte begreifend, sah sie ihn an. Großmutters Augen funkelten böse, während sie äußerst energisch meinte: „Kommt gar nicht in Frage, das Kind bleibt hier.“ Abwehrend hatte sie beide Hände erhoben. „Ich habe ‚Nein‘ gesagt und dabei bleibt es!“

Great-Mountain ging nicht darauf ein. „Das hast du nicht zu bestimmen – nicht in diesem Fall. Und lass dir eines sagen, diese hier ist kein Kind mehr! Sie wird sehr wohl im Stande sein, allein bis ins Colorado-Territorium zu reiten!“ Seine Stimme war ernst, beinahe drohend geworden.

Summer-Rain horchte auf. Endlich hatte sie ihre Sprache wiedergefunden. „Worum geht es hier eigentlich?“

Nun bekam Great-Mountain ihre volle Aufmerksamkeit. Mit der Pfeife in der Hand wandte er sich an Großmutter. „Du hältst dich zurück – lass mich mit Summer-Rain sprechen.“

Eine bequemere Sitzposition suchend, rückte er seinen großen Bauch zurecht. Damit fertig, deutete er auf das zusammengerollte Kaninchenfell. „Das hier ist ein Geschenk, man kann es nur jetzt noch nicht sehen. Es ist so etwas wie die Häute, die wir mit Ereignissen aus unserm Leben bemalen. Der Weiße Mann hat darin ein Gebiet aufgemalt, das er uns als Dank für ein Ereignis, das schon mehr als vierzig Winter zurückliegt, schenkt. Hier drin ist alles, nicht wie wir es tun aufgemalt, sondern in den seltsamen Zeichen der Weißen, die du von deiner Mutter gelernt hast. Du sollst dorthin reiten.“

Sein Blick glitt zu Großmutter. Die hatte endlich begriffen, dass ihr Protest nichts nützen würde. Also fuhr Great-Mountain mit seiner Rede fort, diesmal nur an Summer-Rain gewandt. „Niemand von uns spricht Americano Taibo Tekwapu. Die, die deine Mutter war, hat es dir beigebracht. Dich können sie nicht mit ihren falschen Zungen betrügen. Auch nicht mit diesen Zeichen, die sie Schrift nennen. Wie unsere Männer Spuren lesen können, so kannst du diese Zeichen lesen. Alles, was du zu tun hast, ist, dich dort umzusehen. Das Land, von dem ich spreche, befindet sich noch etwas weiter im Norden als unsere eigenen Jagdgründe, in denen wir das letzte Mal vor vielen Wintern waren und seitdem nicht mehr. Du weißt, was damals mit uns und den Ute passiert ist.“

Beide Frauen schwiegen, es herrschte vollkommene Stille. Ihn jetzt zu unterbrechen, wäre mehr als unhöflich gewesen. Das hatte Großmutter auch gar nicht vor; die Erinnerungen jedoch, die er heraufbeschworen hatte, ließen sie ihre Hände ineinander verkrampfen. Sie erinnerte sich auch noch an einen anderen Vorfall, viele Winter davor.

Damals hatten Lipan Apachen sie auf dem Weg nach dort überfallen und den jüngsten Sohn von Sun-In-The-Red-Hair, Red-Bear, getötet. Summer- Rain schluckte. Auch sie wusste, was Great-Mountain mit seiner Bemerkung meinte. Ute hatten sie vor drei Wintern dort überfallen und ihre Eltern getötet.

„Davon will ich heute nicht sprechen“, unterbrach Great-Mountain die Stille, ihre Gedanken erratend, und senkte den Kopf, um ihn gleich darauf wieder zu heben. Jetzt war nicht die Zeit, um zu trauern oder diese schmerzhaften Erinnerungen heraufzubeschwören. Noch einmal sog er an seiner Pfeife, dann nickte er zu Großmutter hinüber. Weitersprechend bekam seine Stimme einen weichen Klang. „Also, die Ratsversammlung hat sich mit dem, was ich ihr vor meinem Ritt auf die Büffeljagd zu besprechen aufgetragen habe, beschäftigt. Light-Cloud, der euch hätte davon berichten können, ist dort nicht erschienen.“

Sollte dass ein Vorwurf sein? Summer-Rain biss sich auf die Lippe.

„Nun gut, er hatte sicher etwas Besseres zu tun.“

Nein, Great-Mountain weiß es nicht, dachte sie erleichtert.

„Ich bin zur Büffeljagd geritten – in dem Wissen, dass sie sich darum kümmern würden“, fuhr Great-Mountain fort. „Bis zu meiner Rückkehr sollten sie zu einem Beschluss kommen. Das sind sie auch. Mein Tiergeist hat mich auf die Büffeljagd begleitet. Ich musste wissen, ob die Zeichen günstig stehen. Deshalb habe ich gefastet – was mir nicht leichtgefallen ist, das muss ich zugeben.“

Ein breites Lächeln erhellte sein altes Gesicht, das voller Falten war. „Die Sorgen, die mich quälten, habe ich mitgenommen. Unsere Geister, die Geister unserer Verstorbenen, die Tiergeister, von denen wir abstammen, habe ich gefragt, doch nicht gleich eine Antwort bekommen. Wir haben auch zu wenige Büffel gefunden, viel zu wenige. Wo wir auch hinritten, welche Himmelsrichtung wir auch einschlugen – bis auf eine Handvoll waren alle fort. Dann, der Tag erneuerte sich wieder, lag ich abseits von den anderen in tiefem Gebet. Da erhielt ich endlich ein Zeichen. Der Morgen legte noch seine Schatten über die Ebene, und ich hatte eine Vision. In flimmernder Hitze kam eine gewaltige Menge blauer und in der aufgehenden Sonne wie abgeschabtes Silber blitzender Gestalten auf mich zugeritten. Ich wurde zur Erde niedergeworfen, und sie kamen über mich wie eine Wolke voller Ungeheuer.

Die Zeit war stehengeblieben, denn als ich aus meiner Starre erwachte, war die Sonne keinen einzigen Fingerbreit weiter über den Horizont gezogen. Vergeblich habe ich versucht, diesen Traum zu deuten, aber ich konnte es nicht. Nochmals tauchte ich in diesen Zustand ein, der nicht Wachen ist und auch nicht Schlafen. In dieser zweiten Vision, die der Große Geist mir erneut schickte, habe ich gesehen, wie gewaltige Blitze und Donner auf unsere Erde niedergingen. Die Ungeheuer kamen wieder. Sie kämpften mit mir und ich habe einen Speer genommen, um ihn ihnen entgegenzuschicken. Ein Blitz löste sie in Nichts auf, ein zweiter erhellte die weite Ebene, dann sah ich die Büffel kommen.“

Great-Mountain hatte die letzten Worte sehr schnell gesprochen. Erschöpft hielt er jetzt inne. Die Erinnerung an diese letzte Vision hatte ihn sichtlich mitgenommen. Noch war er nicht am Ende seiner Rede angekommen. Sich über die Stirn wischend, fuhr er mit fester Stimme fort: „Die Büffel kamen wahrhaftig, und wir hatten eine gute Jagd.“ Wie um Beifall heischend blickte er die beiden Frauen an. Sich zurücklehnend schloss er die kleinen Augen.

Großmutter dachte schon, er schliefe, da zuckte er plötzlich zusammen. Die Augen weit aufgerissen, meinte er in einem Ton tiefster Zufriedenheit: „Wir luden gerade unsere Jagdbeute auf die Packpferde, da stießen wir auf Spuren einer weiteren Herde. Es müssen so viele sein, dass das eine Jagd wird, wie wir sie schon lange nicht mehr hatten. Diesmal wird das gesamte Lager daran teilnehmen. Ich sehe das alles als ein Zeichen, dass wir für die Zukunft noch mehr vorsorgen müssen. Unser Volk braucht mehr Sicherheit. Das war mir auch schon vor meinen Visionen klar. Deshalb hatte ich ja die Ratsversammlung einberufen, um ihnen meinen Vorschlag zu unterbreiten. Einen kleinen Anteil oder Anschub, wenn man es denn so ausdrücken möchte, hat daran gewiss auch Running-Fox. Er hat mir ganz offen gesagt, was er von unserer Lage hier hält. Die Büffeljagd hat meine Anwesenheit erfordert, so hatte die Ratsversammlung genügend Zeit, um das Für und Wider meines Vorschlages ohne mich zu beraten. Sie reden ja immer noch.“

Er verzog den Mund zu einem breiten Lächeln, und das ließ seine Augen noch kleiner erscheinen. „Nun ja“, seufzte er, „sie werden sicher noch bis zum Sonnenuntergang reden. In der Hauptsache aber haben sie meinem Vorschlag bereits zugestimmt.“ Jetzt nahmen seine kleinen, runden Augen Summer-Rain ins Visier. „Dafür brauchen wir dich, meine Summer-Rain.“

Noch wusste sie nicht wirklich viel und fragte sich, ob sie für die ihr zugedachte Aufgabe geeignet war. Das, was Great-Mountain hier mit so großem Ernst vorgebracht hatte, machte ihr irgendwie Angst. Der alte Mann verlagerte sein Gewicht und nahm eine andere Position ein. „Ich und einige der Männer werden noch einmal mit Running-Fox reden müssen, doch das Wesentliche ist bereits beschlossen.“ Er blickte zufrieden auf. Jetzt war er fertig.

Die alte Frau ging zur Feuerstelle, um in einem Topf zu rühren. Der Duft von Fleischbrühe stieg auf. Sie schöpfte eine Kürbisschale voll und tat noch zerkochte Fleischstücke hinein, damit er sie besser essen konnte, denn er hatte fast keine Zähne mehr. Dann reichte sie ihm alles zusammen mit einem Hornlöffel. Dankbar griff er danach. Großmutter schürte das Feuer, als wäre nichts gewesen. Erst als Great-Mountain fertig war, schaute er hoch. Seine kleinen dunkelbraunen Augen trafen in die blauen von Summer-Rain. Einen langen Moment sahen sie einander an. „Du wirst es verstehen, wenn du dort bist“, sagte er mit solchem Ernst, dass sie erst jetzt begriff, dass viel von ihr verlangt wurde. Von den Treffen im Ratstipi wusste sie zwar, jedoch nicht, worum es ging. Die Männer kamen oft zusammen – sie hatte sich nie groß darum gekümmert.

Great-Mountain gab die leere Schüssel mit einem dankbaren Blick Großmutter zurück.

„Running-Fox“, wandte er sich wieder an Summer-Rain, „er hat mir und Old-Antelope eine ganze Menge über die Weißen erzählt. Ich persönlich gebe viel auf seine Meinung. Wir haben ihm gut zugehört. Er ist so manches Mal Gast in meinem Tipi gewesen. Leider immer noch viel zu selten. Wahrscheinlich war das deine Schuld, Mädchen.“ Ohne ihre zusammengezogene Stirn zu beachten, sprach er einfach weiter. „Er ist viel herumgekommen und weiß eine Menge Dinge, die neu für uns sind.“

„Ah ja? Was für Dinge?“, entfuhr es ihr.

Great-Mountain knurrte ungehalten etwas vor sich hin. Natürlich galt es als unschicklich, ihn zu unterbrechen. Doch er war ein nachsichtiger, gutmütiger alter Mann. „Comes-Through-The- Summer-Rain weiß sicher nicht, dass Running-Fox Icy-Wind nur begleitet hat, weil er es Dark-Nights Mutter versprochen hatte. Bevor er bei diesen, unseren Verwandten, aufgetaucht ist, war er in einem der Forts des Weißen Mannes.“

Das hatte sie nicht gewusst. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht wieder ungefragt etwas zu sagen.

Der Alte musterte sie nachdenklich. Dann, nach vorn gebeugt, sprudelte es aus ihm heraus. „Was ist, wenn die Soldaten bis hierher kommen? Das, so sagt Running-Fox, kann nächsten Sommer geschehen oder den Sommer darauf oder wenn wir unser Winterlager beziehen und uns in Sicherheit glauben, doch es wird passieren. Niemand außer mir glaubt ihm hier bis jetzt. Niemand will ihm glauben. Es ist ja viel leichter, in alten, ruhmreichen Geschichten zu schwelgen. Welcher Krieger macht das nicht gern, frage ich euch. Aber …“ – ein Seufzer hob seine gewaltige Brust – „aber du kennst mich, Summer-Rain. Du kennst mich, seit du zu uns gehörst. Du weißt, dass ich ein vorsichtiger Mann bin.“

Erschöpft hielt er inne.

Großmutter hatte sich wieder zu Summer-Rain gesetzt. Jetzt nahm sie sie in den Arm. Sie will sie schützen, natürlich, dachte Great-Mountain. In seinem Gesicht zuckte es. Auch ihm fiel es nicht leicht, dieses Mädchen, das kaum älter als sechzehn oder siebzehn Winter sein konnte, mit dieser Aufgabe fortzuschicken. Ein letztes Mal erwog er die Möglichkeit, jemand anderen damit zu betrauen. Nein, das ging nicht – nein, so sehr er sich das auch selber wünschte. Und ihr einen erfahrenen Krieger an die Seite zu stellen, der die falschen Entscheidungen wegen seiner eigenen Befindlichkeiten treffen würde, konnte alles zum Scheitern bringen. Kein Krieger würde auf das Wort eines Mädchens hören. „Ich muss die Dinge von allen Seiten betrachten.“ Ein trauriger Ausdruck glitt über sein faltiges Gesicht, als er sich wieder an Großmutter wandte. „Ich würde meine Enkelin genauso wie du beschützen, meine Liebe; das verstehe ich gut. Aber ich bin ein Beschützer der ganzen Herde. Ich muss weiter denken als du, viel weiter. Meine Aufgabe ist es unter anderem, für die Sicherheit aller zu sorgen. Es geht hier nicht darum, was du für deine Enkelin willst – es geht um uns alle. Dafür brauche ich Summer-Rain.“ Tief aufatmend lehnte er sich gegen die weichen Felle. Nein, er würde sich nicht mehr umstimmen lassen – auch wenn er es einen Moment lang in Betracht gezogen hatte.

Nach einem der Höflichkeit genügenden Schweigen fragte Summer-Rain, die endlich mehr wissen wollte: „Dieses Geschenk – was ist das genau?“

Great-Mountain war sichtlich erleichtert und zeigte ihr das auch. Seine klugen kleinen Augen strahlten. „Die Antwort darauf würde die ganze Nacht bis weit in den Sonnenaufgang hinein dauern“, behauptete er, wobei ein Lächeln seine alten, welken, von unzähligen kleinen Fältchen umgebenen Lippen in die Breite zog. Sie will es wissen, dachte er – ja, sie will es wissen. „Um es kurz zu machen: Dieses Geschenk kommt von denen, die uns einst ihr Leben verdankten. Wenn wir diesen weißen Männern und Frauen damals nicht beigestanden hätten, wären sie von der Erde vertilgt worden. So, wie es der Weiße Mann jetzt mit uns vorhat, wenn ich den Worten Running-Fox Glauben schenken soll. Das ist ja die Schwierigkeit bei der ganzen Sache. Wir wissen nicht, ob wir ihren Nachkommen trauen dürfen oder sie lieber fürchten sollten.“

Erst nach einer Weile des Schweigens, während man nur das Knistern des Feuers hören konnte, sprach Great-Mountain weiter. „Vielleicht haben wir ja damals einen Fehler gemacht. Vielleicht hätten wir sie ja von ihren Feinden, den Cheyenne, töten lassen sollen. Das wäre ein großer Berg Toter geworden. Anschließend hätten wir selbst den Cheyenne gegenübergestanden und unseren eigenen Berg Toter gehabt. Die Cheyenne zu besiegen wäre unser Kampf gewesen, nicht den Weißen beizustehen. Am Ende jedoch standen wir Seite an Seite mit den Menschen, die sich dort niederlassen wollten. Bei den Cheyenne gab es gewaltige Verluste. Daraufhin verließ der ganze Stamm dieses Gebiet und kam nie wieder. Aus Dankbarkeit dafür brachten die Weißen uns diese – sie nannten es Ur-kunden“, er deutete auf die Papiere in dem Kaninchenfell.

Großmutter, die im Gegensatz zu Summer-Rain genau wusste, wovon er sprach, nahm sie an sich. Zögernd hielt sie sie einen Moment lang in ihren zitternden Händen, während die Flammen kaum einen Schritt weiter hell loderten. Einen Augenblick erwog sie die Möglichkeit –dann jedoch reichte sie sie Great-Mountain weiter.

Dem war ihre Absicht nicht entgangen, doch er vertraute auf ihre Klugheit. „Diese Papiere gibt es zwei Mal. Der weiße Mann, der damals das Wort führte, hat sie noch einmal in Verwahrung“, war sein einziger Kommentar.

Großmutter wusste das; sie wagte jedoch nicht, ihn anzusehen, und fühlte sich ertappt. Verlegen senkte sie den Kopf. Hatte sie tatsächlich gedacht, wenn sie dieses Schriftstück vernichtete, musste sie ihre Enkelin nicht hergeben? Nein, natürlich nicht. Es war nur so ein Gedanke gewesen.

Great-Mountain blickte auf ihren gesenkten Kopf herunter. „Die Worte, die hier stehen, sind mit Blut gemalt – von denen, die gemeinsam mit uns gegen ihre und unsere damaligen Todfeinde, die Cheyenne, in den Kampf gezogen sind. Männer, deren Wort etwas galt, haben ihr Zeichen unter dieses Papier gesetzt. Männer, deren Kinder und Kindeskinder heute noch dort leben können, nur weil wir ihnen beigestanden haben, aus welchen Gründen auch immer.“

Großmutter hatte sich wieder gefasst und gesehen, dass Great-Mountain die Pfeife ausgegangen war. Emsig wuselte sie in den Hintergrund des Tipis, um gleich darauf mit einem Beutel Tabak zurückzukommen. Mit einem freundlichen Nicken nahm ihn Great-Mountain entgegen.

Summer-Rain, die die beiden die ganze Zeit über mit einem unguten Gefühl beobachtet hatte, atmete auf. Irgendwie hatte sich jetzt die ganze Situation entspannt. Während Great-Mountain bedächtig seine Pfeife neu stopfte, herrschte wieder Schweigen. Erst nachdem er die ersten Wölkchen in die Luft gepafft hatte, redete er weiter. „In dieser Ur-kunde sind die Grenzen ihres Geschenks aufgemalt – ein Gebiet, das für alle Zeiten für uns freigehalten werden soll. In einer feierlichen Zeremonie, bei der wir alle anwesend waren, schworen sie sogar bei ihrem einzigen Gott, den sie anbeten, niemals zuzulassen, dass sich dort ein weißer Mann ansiedelt. Es soll für ewige Zeiten unser Land sein – so lange die Flüsse fließen und die Berge in den Himmel ragen.“

Summer-Rain blickte ihre Großmutter an. Oh ja, sie hatte noch tausend Fragen, doch Great-Mountain war noch nicht fertig.

„Dorthin werden wir reiten, wenn diese Weißen ihr Wort gehalten haben. Das sollst du, kleine Summer-Rain, für uns herausfinden. Wir wollen dort nicht für ewig bleiben; es wäre jedoch schön, einen sicheren Platz zu wissen, an dem wir ausharren können, bis unsere Gebiete hier wieder alle uns gehören.“

War er jetzt endlich fertig? Summer-Rain rutschte unruhig hin und her. Sie traute sich nicht, ihn nach etwas zu fragen. Das meiste hatte er ja gesagt. Great-Mountain wollte nur noch ihren Weg nach dorthin besprechen. Dass er mit Großmutter vorhin aneinander geraten war, konnte er gut verstehen. Great-Mountain war ein mitfühlender Mann und nicht so unempfindlich für ihre Einwendungen, wie er ihr Glauben machen wollte. Sehr wohl konnte er sich in die Gefühle anderer hineinversetzen, und das wusste sie im Grunde ihres Herzens ja auch.

„Summer-Rain“, begann er deshalb aufs Neue, einen Finger auf den glühenden Pfeifenkopf drückend. „Du bist die Einzige aus unserem Volk, die ich dort hinschicken kann. Wie eine Wölfin musst du sein, die ein neues Zuhause für ihren kommenden Wurf sucht. Auf leisen Pfoten musst du durch die Wälder streifen und den See, den es dort gibt, umrunden. Mische dich unter die Leute. Höre zu, was sie zu sagen haben. Halte Augen, Ohren und Nase offen. Finde heraus, ob das, was in dieser Urkunde verzeichnet ist, noch Gültigkeit besitzt, so wie sie es einmal geschworen haben. Oder ob diese Papiere genauso beschmutz worden sind, wie es die Taibo und der Große Weiße Vater mit den Verträgen unserer Brüder machen. Wir, die stolzen Quahari, haben deshalb nie einen Vertrag mit den Taibo oder dem Weißen Vater abgeschlossen. Mit ihnen wollen wir nichts zu tun haben. Wenn sie unser Land haben wollen, werden wir darum kämpfen und Krieg über sie bringen. Hier – diese Urkunde, die haben Männer unterzeichnet, hinter denen keine Soldaten standen. Die aus einem fernen Land kamen, in dem sie ohne Hoffnungen auf eine Zukunft waren. Verfolgt oder aus anderen Gründen sind sie von dort weggeritten und über den großen See mit gewaltigen Kanus hier auf unserem Teil der Welt gelandet. Wir haben mit ihnen gemeinsam gekämpft – Seite an Seite. Wir haben mit ihnen zusammen am heiligen Feuer gesessen, haben mit ihnen die heilige Pfeife geraucht und mit ihnen unser Essen geteilt, genau wie unseren letzten Tabak. Einige von unseren jungen Mädchen sind sogar dort bei ihnen geblieben, um ihre Ehefrauen zu werden. Einen halben Mond lang waren wir Brüder. Ob sie jetzt noch so denken und das heilige Verspechen auf ewigen Frieden mit uns noch zu halten bereit sind, das sollst du, kleine Summer-Rain, herausfinden. Nun gut, ich bin erschöpft – gib mir einfach nur deine Antwort.“

Summer-Rain wollte gerade etwas zu ihm sagen, da kam Großmutter ihr zuvor. „Du kannst sie nicht allein dorthin gehen lassen.“

Trotz ihrer Zurückhaltung die ganze Zeit über konnte sie nicht länger schweigen. Großmutter war eben Großmutter. Nur noch einen letzten Versuch, sagte sie sich. Einen allerletzten, dann gebe ich Ruhe. Hier ging es schließlich um ihre Enkelin. Sie sollte in die Nähe des Landes geschickt werden, wo ihre Mutter und ihr Vater von den Ute getötet wurden waren? Nun ja, nicht direkt dorthin. Auf jeden Fall aber würde sie durch das Land der Apachen müssen. Sie dachte mit Schrecken daran, dass einst Lipan-Apachen Light-Clouds Bruder getötet hatten. Great-Mountain verstand durchaus ihre Beweggründe. Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er sprach diesen Gedanken laut aus, ohne groß darüber nachzudenken. „Wir könnten Running-Fox fragen. Vielleicht ist er ja bereit, sie zu begleiten – wenigstens durch das Apachengebiet.“

Großmutter wischte seine Worte mit einer einzigen Handbewegung fort. „Nein“, ihre Stimme nahm einen scharfen Klang an. „Nein, es ist nicht seine Sache. Er gehört nicht zur Antilopenbande. Summer-Rain sollte jedoch warten, bis die gelben Blumen blühen; dann ist es für sie sicherer.“

Sie will die ganze Sache nur weiter hinauszögern, dachte Great-Mountain unglücklich. All die Ausflüchte werden ihr nicht helfen. Nachsichtig betrachtete er sie, während er das Wort an sie richtete. „Du bist eine sehr hartnäckige alte Frau. Bis dahin werden wir nicht warten können.“

Jetzt mischte sich Summer-Rain ein. „Warum sollte ich warten? Es ist doch bereits beschlossene Sache. Mach dir keine Sorgen, Großmutter. Wer sollte mich auf diesem Weg aufhalten?“ Herausfordernd blickte sie von einem zum anderen.

Great-Mountain verbiss sich klugerweise eine Bemerkung, Großmutter schnaufte nur böse.

„Schluss jetzt, Summer-Rain ist alt genug – und sie ist stark, stärker als du denkst.“ Der alte Mann hatte es satt. „Sie kann selbst entscheiden.“ Allmählich war er mit seiner Geduld am Ende. Großmutter sollte endlich einsehen, dass es keinen Sinn hatte, weiter mit ihm darüber zu streiten.

Nicht gerade glücklich betrachtete Großmutter ihre Enkeltochter. Einen Augenblick lang sah sie das kleine Mädchen von damals wieder vor sich – fast nackt, frierend, hungrig, mit unzähligen Brandwunden bedeckt, auf dem Rücken dieses großen Pferdes. Die Zeit, seit sie hier bei uns ist, bei mir, ist so schnell vergangen, dachte sie wehmütig. Nun stand dieses so schnell erwachsengewordene Kind hier und sollte in ein ihr völlig fremdes Gebiet geschickt werden, ganz auf sich allein gestellt? Es war richtig, was Great-Mountain von ihr gesagt hatte. Summer-Rain hatte Mut, war unerschrocken, voller Zuversicht und Selbstvertrauen. Doch was wusste sie schon vom Leben? Von Gefahren, die aus der Falschheit von Menschen herrührte, die überall lauerten Gefahren, von denen sie nicht einmal ahnte, dass es sie gab. Sie war doch noch wie ein junges Fohlen, das beginnt, sich den Platz in der Herde zu suchen, und glaubt, es hätte freie Wahl. Großmutter wusste es besser, denn so war es meistens nicht. Versonnen strich sie sich einige weiße Haarsträhnen hinter die Ohren. Eine Hand nach Summer-Rain ausgestreckt, berührte sie sie leicht an der Schulter.

„So ungern ich dich auch gehen lasse, Tochter meines einzigen Bruders“, versuchte sie ihren Standpunkt noch einmal zu erklären. „Ich weiß, dass du deine eigenen Entscheidungen treffen wirst. Ich will nur nicht, dass du mitten im fürchterlichsten Schneesturm über die hohen Berge reitest. Zuletzt sind wir dort alle gemeinsam in diesem Land vor langer Zeit im Sommermond gewesen, durch das du auch bald ziehen wirst. Jetzt aber bist du auf dich allein gestellt. Du wirst keinen fragen können; niemand wird dir beistehen, wenn dir etwas Schlimmes passiert. Wenn du nicht zurückkommst, werden wir hier nicht wissen, wo deine Knochen vermodern.“

Great-Mountain nickte, obwohl ihm allein diese Vorstellung den Magen zusammenzog. Während er weitersprach, war ihm zumute, als müsse er alle Last seines Entschlusses alleine tragen. „Meine Liebe, sprich nicht von so etwas. Summer-Rain wird nichts geschehen, nichts, hörst du? Und nun ist genug von dem gesprochen worden, was passieren könnte. Ich habe Aufzeichnungen von diesem Land hier in dieser Ur-kunde und auch für den Weg, den du gehen wirst.“ An Großmutter gewandt, konnte er sich nicht enthalten, ihr zuzuzischen: „Und wenn sie nicht zurückkommt, werden wir ihre Knochen finden!“

Großmutter schnaufte laut, ihr Atem ging schnell, doch sie hütete sich, etwas darauf zu erwidern. Sie dachte nur: Er spricht, als hätte er bereits ihr Einverständnis; noch ist ja nichts entschieden. Doch ein Blick auf ihre Enkelin, die voller Aufmerksamkeit zugehört hatte, bestätigte ihre Befürchtung. ‚Sie wird es tun, sie wird nicht auf mich hören.‘ Das machte sie sehr traurig.

„Ich werde dir zeigen, wo es sicher ist“, hörte sie Great-Mountain weiter auf ihre Enkelin einreden. „Dein Weg führt dich zwar durch Gebiete, die manchmal auch von herumstreifenden Jicarilla oder anderen Apachengruppen benutzt werden. Sie treiben Handel mit den weißen Viehzüchtern und den Mexikanern. Das heißt, sie rauben ihr Vieh und verkaufen es ihnen wieder zurück.“

Sein altes, faltiges Gesicht zeigte bei diesen Worten ein breites Grinsen. Während er weitersprach, leuchteten seine kleinen runden Augen. „Es sind alles feige Hunde, aber – das muss ich zugeben – sie sind die besten Viehdiebe, die ich jemals kennengelernt habe. Vor ihnen brauchst du dich nicht zu fürchten. Sie machen zwar nicht so viel Lärm wie die Chiricahua mit ihren Tá-ashi, die man schon von weitem hört. Egal, welche feigen Hunde dort auch sein werden, eine Comanchenkriegerin wie du wird ihnen überlegen sein.“

Großmutter sah jetzt besorgter aus als zuvor, wenn das überhaupt möglich war. Noch einmal versuchte sie einen Einspruch. „Wir sollten auf die Krieger warten, Great-Mountain, bitte. Red-Eagle muss davon wissen; er ist der Kriegshäuptling, und sein Wort hat Gewicht.“

Great-Mountain überlegte kurz, dann nickte er. Dagegen konnte er nichts sagen und hatte sogar schon die ganze Zeit über damit gerechnet. Na, dachte er, dann warten wir also noch auf Red-Eagle und seine Krieger. Er hatte berechtigte Hoffnung, dass sie jeden Tag auftauchen würden.

Summer-Rain strich zärtlich über Großmutters Arm, während sie leise, an sie gewandt, sagte: „Es ist entschieden – ich reite. Warten wir noch auf Red-Eagle, aber das wird nichts ändern.“

Es gab nichts mehr zu sagen. Während sich die beiden Alten erhoben, war Summer-Rain mit ihren Gedanken bereits bei dieser Wanderung. Sie dachte darüber nach, was sie alles mitnehmen musste. Vor allem die Frage, welche Pferde, war von größter Bedeutung. Ihre jugendliche Begeisterung ließ die Gefahren völlig außer Acht.

Auf ihrem Gesicht erkannte Great-Mountain Zuversicht und auch einen gewissen Stolz, dass er nicht umhinkonnte, zu lächeln. ‚Diese Jugend‘, dachte er mit Wehmut an seine eigene zurück, ‚sie hat keine Angst vor der Herausforderung, sie ist gedankenlos und mutwillig. Ein wenig mehr Vorsicht wäre manchmal angebracht. Die wirklich wichtigen Dinge erkennt man erst mit dem Alter, wenn die Erfahrung von uns Opfer verlangt hat. Mit den erlittenen Verlusten kommt die Einsicht über Niederlagen, die vermeidbar gewesen wären. Die Toten ermahnen uns an das Leben. Ich bin alt geworden. Ich kenne sie alle. Nicht nur aus Erzählungen, wie die Jugend, denn das ist nicht das Gleiche. Man denkt nach, wird vorsichtiger – und auf einmal sieht man Zusammenhänge, Wahrheiten, die vorher keine Rolle gespielt haben, weil man zu eitel war, um sie zu erkennen, oder einfach nur zu stolz. Im hohen Alter ist das alles nicht mehr wichtig.‘ Wehmütig strich er durch seine weiß gewordenen Haare, während er sich weiter in Gedanken erging: ‚Die Zeit ist vorbeigerannt, zerflossen, weg. Was bleibt, ist nur noch Erinnerung. Wenn man vieles mit den Augen des Alters und seiner Weisheit damals schon gesehen hätte, ja. Doch es ist zu spät, um es zu ändern. Vielleicht ist es ja ein Fehler, dieses Mädchen dorthin zu schicken oder mit meinem kleinen Völkchen dort hinzugehen. Das werde ich erst später – oder zu spät? – wissen.‘ Das alles ging ihm durch den Kopf und wieder regten sich Zweifel. Und dann dieses Mädchen, dieses junge Mädchen. Hatte er das Recht, über ihr Leben zu bestimmen? Er war sich durchaus darüber im Klaren, was er von ihr verlangte. Im Aufstehen sagte er zu Großmutter: „Gut, warten wir also noch auf Red-Eagle.“

Er war eben im Begriff, das Tipi zu verlassen, als ihm noch etwas einfiel. „Doch dann wird der Cheyenne längst fort sein. Running-Fox hat mir gesagt, dass er mit dem nächsten vollen Mond Abschied von unseren gastlichen Tipis nehmen muss.“

Summer-Rain und Großmutter stutzten. Entgeistert sahen sie sich an. „Cheyenne?“ Ungläubig weiteten sich Summer-Rains blaue Augen.

„Das habt ihr nicht gewusst?“ Great-Mountain war baff. „ Die Farben an seinen Leggins und die schwarzen Perlen. Gleich, als er hergekommen ist, war er bei mir zu Gast. Ich habe ihn gefragt, wer seine Kleidung angefertigt hat. Da hat er es mir erzählt.“

Unwillig schüttelte er den Kopf. Er hatte mit niemandem darüber gesprochen, zumal Running-Fox nach dem, was er von ihm erfahren hatte, ja eigentlich zum Volk gehörte. Beinahe entschuldigend meinte er daher: „Für mich hatte das keine Bedeutung. Er hat sein halbes Leben bei unserem Volk verbracht, daher spricht er so gut unsere Sprache. Eigentlich weiß ich nicht viel mehr über ihn. Er kennt sich mit den Weißen aus. Von hier aus will er zu einem ihrer Forts. Aber“, unterbrach er sich, das Mädchen betrachtend, „er hat mir versichert, dass er wieder zurückkommen will. Sicher wird er vorher noch mit dir sprechen, kleine Summer-Rain.“

Sie tat, als hätte sie seinen forschenden Blick und die Anspielung nicht bemerkt. Großmutter dagegen funkelte ihn mit ihren braunen Augen an.

Jetzt hatte Great-Mountain es plötzlich eilig, aus dem Tipi zu kommen. Um noch mehr Fragen aus dem Weg zu gehen, schob er sich schwerfällig aus dem Eingang. Diese Angelegenheit ging nur Running-Fox etwas an. Insgeheim hoffte er ja immer noch, dass er nach seiner Rückkehr bei ihnen bleiben würde. Einen letzten Blick auf Großmutters Tipi werfend, seufzte er; dann machte er sich auf, um die Verteilung des Büffelfleisches, das die Männer mitgebracht hatten, zu überwachen. Außerdem musste die neue Jagd organisiert werden. Das und nichts anderes erforderte jetzt seine volle Aufmerksamkeit. Großmutter würde natürlich Running-Fox Fragen stellen. Bei diesem Gedanken musste er schmunzeln. In dessen Haut mochte er wahrlich nicht stecken. Mein Junge, murmelte er still vor sich hin, verscherze es dir nicht mit dieser alten Frau, wenn du dir etwas von der jungen erhoffst. Das Fell mit den darin eingewickelten Papieren, die er als Urkunde bezeichnete, hatte er mitgenommen. Erst wenn Summer-Rains Wanderung mit Red-Eagle besprochen worden war, würde er wieder mit ihr darüber reden. Seine Neugier auf das, was dort alles aufgezeichnet war, konnte er kaum zügeln. Das musste nun erst einmal warten. Dann wollte er noch einmal diesen Tag vor sich erscheinen lassen – all das, was damals geschehen war. Summer-Rain würde die Zeichen kennen und damit alles wieder heraufbeschwören. Was er niemals zugegeben hätte: Seine eigenen Erinnerungen daran hatten entgegen seinen Behauptungen große Lücken.

Doch Great-Mountain war zufrieden. Hier in der frischen Luft dieses Tages verschwanden alle seine Zweifel mit dem Wind. Jetzt war er überzeugt, die richtige Entscheidung für seine Herde getroffen zu haben, und schritt munter aus.

Schon immer war er ein vorsichtiger Mann gewesen. Bevor er eine Entscheidung traf, betrachtete er alles von verschiedenen Blickwinkeln aus. Wog ab, bedachte die Folgen, forschte nach ähnlichen Vorkommnissen, suchte nach anderen Möglichkeiten – kurz: Er ließ sich Zeit. Seit dem vergangenen harten Winter dachte er bereits über die Zukunft nach. Nicht, dass er sich sonst keine Gedanken darüber gemacht hätte. Doch die Zeiten veränderten sich schneller als jemals zuvor. Es gab Dinge, die noch vor vielen Wintern undenkbar gewesen wären.

Ihre Grenzen zum Beispiel. Sie hatten sich zu ihren Ungunsten verschoben. Der Weiße Mann mit seiner ihrem Land Zerstörung bringenden Welt rückte mehr und mehr in ihre Gebiete vor. Jetzt war dieser Three Finger sogar schon bis zum Llano Estacado gekommen. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn es ihnen nicht gelang, die Soldaten von dort zu vertreiben – und zwar nachdrücklich – dann sah Great-Mountain sich und die Seinen schon den Weg anderer Comanchengruppen in die Reservate des Weißen Mannes gehen. Daran mochte er gar nicht einmal denken.

Der Friedenshäuptling und Medizinmann der kleinen Antilopenbande, seiner Herde, lebte nicht so einfach in den Tag hinein. Sie alle wussten sehr wohl, was weitab von ihrem Lager passierte. Great-Mountain besuchte höchstselbst andere Comanchengruppen und hörte sich an, was sie zu sagen hatten. Nichts, was auf den Plains passierte, entging ihm. Die Nachrichtenübermittlung funktionierte reibungslos. Es gab Herolde, die von Lager zu Lager zogen, wenn sich etwas von Bedeutung ereignete, und sogar allseits bekannte Zeichen, die sie sich mittels Metall oder Spiegel auf weite Entfernungen zukommen ließen. Die Quahari wussten genau, wenn sich irgendwo auf ihrem Land etwas tat.

Nachdem er nicht nur einmal mit Running-Fox gesprochen hatte, fasste Great-Mountain den Entschluss, dass er einen sicheren Zufluchtsort für seine Leute finden musste. Er wollte einfach nur vorsorgen. Für den Fall, dass eintreten sollte, was anderen Stämmen bereits widerfahren war. Das sagte er nicht laut. Man hätte ihn ausgelacht, diese Möglichkeit niemals in Betracht gezogen. Nein, nicht einmal zugehört hätte man ihm. Erst musste er sichere Beweise bringen. Etwas, was seine Leute zwang umzudenken. Ihm ging das Ausbleiben der Büffel im Kopf herum, und er sah darin ein Zeichen, dass sich die Welt um sie gewaltig veränderte. Besonders im Süden wurden die Herden immer spärlicher und blieben sogar viele Monde aus. Manchmal trafen sie auf sie, wo sie vorher nie gewesen waren, öfter jedoch waren sie auf den früheren Routen nicht mal mehr zu finden. Diese Tatsache konnte niemand leugnen. Der Weiße Mann würde weiter vorrücken, und sie würden zusätzliche Gebiete an ihn verlieren.

Und was wäre, wenn die Büffel eines Tages ganz ausblieben? Das fragte er sich wahrscheinlich als Einziger, denn niemand sonst konnte sich das vorstellen. Die Büffel waren schon immer dagewesen.

Great-Mountain jedenfalls machte sich große Sorgen um die Zukunft seiner Leute. Er grübelte und grübelte, doch ihm fiel keine Lösung ein. Dieser Krieg, den einer ihrer Kriegshäuptlinge, Quanah, jetzt führte, sollte ihre Position stärken und ihre Grenzen sichern. Das war die Voraussetzung für eine dauerhafte Lösung des Problems zwischen ihnen und den Texanern. Der Weiße Mann musste ihre Gebiete anerkennen, wie die Comanchen die seinen. Nur auf der Grundlage gegenseitigen Respektes und völliger Gleichberechtigung konnte es dauerhaft Frieden geben. Deshalb kämpften sie, darum ging es ihnen.

In Great-Mountains Überlegungen schlich sich eines Tages die Erinnerung an Ereignisse, die sich bereits vor langer Zeit zugetragen hatten. Damals halfen sie Siedlern bei einem Überfall der Cheyenne. Am Ende waren sie siegreich gewesen. Dafür hatten sie dieses Land zugesprochen bekommen, das Summer-Rain nun erkunden sollte.

Nach vielen Monden des Nachdenkens und Abwägens entschloss sich Great-Mountain endlich, seine Gedanken und Vorschläge dem Ältestenrat vorzutragen – und er war gegen jeden Einwand gewappnet gewesen.

Red-Eagle, zurzeit ihr erwählter Kriegshäuptling, wegen des Einsatzes mit Quanah und dessen Kriegern nicht anwesend, musste natürlich noch gehört werden – da gab er Großmutter recht. Old-Antelope als ihr Häuptling hatte sich zu seinem Erstaunen auf seine Seite geschlagen. Icy-Wind, als ein Mitglied des Ältestenrates, wollte von dieser – wie er meinte – ganzen Hundescheiße und ‚Koyotenpisse‘ nichts wissen. Er war ein Mann, der den Kampf liebte und blind für Überlegungen war, wie sie Great-Mountain hegte. Man hörte ihn an, ließ ihn sogar den halben Tag lang reden. Am Ende war es so wie immer mit Icy-Wind. Zu oft schon gingen Raubzüge, die der hitzköpfige, arrogante Krieger anführte, ins Leere. Meistens verliefen bereits die Vorbereitungen im Sande, denn irgendetwas kam immer dazwischen. Zum Beispiel dauerte es viel zu lange, bis er und seine Anhänger sich endlich über das Wie und Wohin einig waren. Er besaß nicht die Fähigkeiten eines Red-Eagle, die Männer dauerhaft für etwas zu begeistern. Fast jedes Unternehmen, das er begann, scheiterte.

Wenn sich eine kleine Kriegerschar mit ihm als Anführer doch noch in Bewegung setzte, dann kamen sie meistens nicht weit. Streitigkeiten untereinander, belangloses Geplänkel, sein Gehabe, immer Recht zu behalten, bereiteten dem Kriegszug schnell ein Ende. Nur einmal hatte er alles richtig gemacht – trotzdem endete dieser Kriegszug tragisch. Zwar kamen sie mit Beute zurück, es hatte jedoch durch seine Schuld einen der Männer das Leben gekostet. Deshalb wollte lange Zeit niemand mehr mit ihm reiten. Auf Icy-Winds Meinung jedenfalls konnte Great-Mountain und so mancher Anderer gut verzichten.

Zwei Mal von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang hatten sie in der Ratsversammlung geredet und geredet. Great-Mountain war danach mit einigen Männern und Icy-Wind auf die Büffeljagd geritten.

Als er heute zurückkehrte, waren die Ältesten erneut zusammengekommen und er hatte ihnen von seinen Visionen erzählt. Das gab den Ausschlag. Endlich waren alle einer Meinung gewesen und bereit, seinen Vorschlag anzunehmen. Es konnte ja schließlich nicht schaden, Erkundigungen über dieses Gebiet dort oben im Colorado-Territorium, wie die Weißen dieses Land nannten, einzuholen. Alles andere würden sie danach entscheiden. Mehr konnte Great-Mountain nicht tun.

Comanchen Mond Band 1

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