Читать книгу Tränen einer Braut: 3 Romane - G. S. Friebel, Hendrik M. Bekker - Страница 7
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ОглавлениеElvira Schlieven war siebzehn Jahre alt, als sie von zu Hause wegging. Sie hatte das Leben in einem gutbürgerlichen Haushalt einfach satt. Elvira nannte so etwas »spießig«. Und sie war doch nur einmal jung und schön und lustig. Sie wollte die Welt und das Leben kennenlernen. Es machte ihr nichts aus, dass sie ihre Banklehre unterbrach. Über Nacht verschwand sie aus dem Leben ihrer Familie.
Der Vater war Richter in einer Kleinstadt. Es gab ein ungeheures Aufsehen. Zuerst versuchte man, es zu vertuschen; suchte bei den Freundinnen und Verwandten nach Elvira. Aber sie tauchte nicht auf. Sie hatte auch keinen Brief hinterlassen, sodass man gewusst hätte, wohin sie gegangen war. Elvira hatte auch keinen Freund gehabt, das wussten die Eltern ganz genau. Mit dem wenigen Geld, das sie sich vom Taschengeld abgespart haben musste, war sie auf und davon.
Tagelang weinte die Mutter. Elvira war ja ihre einzige Tochter, und sie kannte das Leben zur Genüge. Vor allem hatte sie Elvira bewahren wollen, aber vielleicht war das gerade falsch gewesen. Junge Menschen lassen sich einfach nicht bevormunden.
Was keiner wissen konnte, war, dass Elvira nach Hamburg gegangen war, per Anhalter. Und man konnte wirklich von Glück sprechen, dass das bezaubernde Mädchen nicht schon im Auto belästigt worden war. Ein älterer Mann hatte sie mitgenommen. Er erfuhr bald ihre ganze, kleine Lebensgeschichte. Und da er selbst eine Tochter zu Hause hatte, versuchte er ihr klarzumachen, dass es besser sei, wieder zurückzukehren.
»Nein«, sagte sie, »Ich will nicht mehr zurück! Daheim verstehen sie mich einfach nicht.«
»Hast du es denn mit ihnen versucht?«
»Das brauche ich gar nicht«, meinte sie schnippisch. »Ich weiß das auch so. Wenn ich nicht alles tue, was Mutti befiehlt, dann sind beide sauer. Ich hasse das Leben in dieser Kleinstadt.«
»So! Und was hast du jetzt vor?«
»Ich will nach Hamburg. Sie fahren doch nach Hamburg?«
»Ja«, knurrte er.
Sie sah ihn groß an. »Sie sagen das so böse! Tut es Ihnen vielleicht leid, dass Sie mich mitgenommen haben?«
Der Mann starrte auf die nasskalte Straße. »Gar nichts hätte ich tun sollen«, fluchte er. »Du bist kindisch und dumm, jawohl! Und das schreib dir mal hinter dein hübsches rosa Öhrchen: Du wirst bald nach Mama und Papa flennen, o ja! Und ob sie dich dann noch haben wollen, das ist dann eine ganz andere Frage.«
»Nein, das werde ich nie!«, antwortete sie hitzig. »Nie!«
»Ich bin froh, dass du nicht meine Tochter bist.«
Dieser Satz kränkte sie doch ein wenig, und sie dachte: Er hat ja überhaupt keine Ahnung. Wie oft habe ich Bekannte sagen hören: Wir beneiden Sie, Frau Schlieven, um ihre hübsche Tochter. Ja, das hatte sie oft genug gehört. Und jetzt sagte dieser dumme Mensch, er wäre froh, sie nicht zur Tochter zu haben.
Eine Weile saß sie stumm in ihrer Ecke und wollte ihn damit strafen, dass sie nicht mehr sprach. Aber der Mann bemerkte es nicht einmal. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und war froh, bald zu Hause zu sein. Der Regen gab ihm den Rest. Quietschend zogen die Scheibenwischer ihre Bahn über die Scheibe. Das Fahren wurde noch anstrengender.
»Sind wir bald in Hamburg?«, unterbrach sie das Schweigen.
»Ja, bald. Sei ohne Sorge, du wirst noch alles sehen.«
Elvira war wirklich müde und außerdem wütend auf den Mann. Aber sie war froh gewesen, dass sie zu so später Stunde noch mitgenommen worden war. Ausgerechnet heute musste es regnen. Hätte der Regen nicht bis morgen warten können?
Weiter kam sie nicht mit ihren Gedanken. Denn jetzt tauchten die Millionen Lichter von Hamburg auf. Der ganze Himmel über der Stadt war hell erleuchtet. Ein herrlicher Anblick! Das war doch wirklich etwas anderes als die kleine, triste Stadt, aus der sie kam.
An der Helgoländer Allee endete die Fahrt mit dem Laster.
»Du musst hier aussteigen. Ich muss runter zum Hafen und entladen. Die sollen nicht merken, dass ich jemanden mitgenommen habe. Das sehen sie nicht gern.«
Elvira nahm ihren Rucksack und wollte aussteigen.
»Danke«, quetschte sie noch zwischen den Zähnen hervor. Schließlich entstammte sie einem guten Elternhaus.
Er hielt sie zurück.
»Hör zu, Kleine! Hier in der Nähe befindet sich eine Jugendherberge. Dort kannst du billig übernachten. Jeder kann dir von hier aus den Weg zeigen. Wenn du klug bist, gehst du dort hin. Dort bist du sicher.«
Sie sah ihn mit ihren großen, ausdrucksvollen Augen an.
»Danke«, sagte sie noch einmal. »Ich werde es mir merken, ich bedanke mich.«
»Keine Ursache«, brummte der Mann.
Dann wurde die Tür zugeschlagen und der große Laster schaukelte langsam um die Ecke und war gleich darauf verschwunden. In diesem Augenblick fühlte sich das Mädchen so richtig allein. Sein Herz schlug bis zum Hals. Es hatte einfach Angst!
Da stand Elvira nun auf der Straße; und der Regen drang bald in die Kleidung. Das wurde allmählich sehr unangenehm. Und dann wusste sie auch noch nicht, wo sie diese Nacht verbringen sollte. Zur Jugendherberge würde sie auf alle Fälle nicht gehen, dort gingen nur Kinder hin. Sie war schließlich schon siebzehn Jahre alt.
Mit den Freundinnen hatte sie so oft über Hamburg gesprochen. Hier war alles möglich. Hier sollte man auch sofort Arbeit und ein Zimmer finden. Wenn man fleißig war, dann konnte man sehr schnell aufsteigen, zumindest viel höher als bei einer so langweiligen Arbeit wie auf der Bank.
Aber all ihre Überlegungen brachten sie in diesem Augenblick nicht sehr viel weiter. Sie musste jetzt endlich etwas unternehmen. Mit den hundert Mark in der Tasche würde sie nicht weit kommen.
Vorsichtig ging sie auf der regennassen Straße weiter. An jeder Ecke gähnte ihr eine dunkle Gasse entgegen, und sofort liefen ihr kalte Schauer über den Rücken. Natürlich hatte sie auch schon gehört, dass es hier ein schlechtes Viertel gab. Davon sprach man eben nicht, flüsterte höchstens darüber, wenn sich keine Jugendlichen in der Nähe befanden.