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Ω Opfer Ω

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Sie hatten sich in einem der Hauseingänge versteckt, als die Angreifer über den Mann herfielen. Zu zweit konnten sie nichts gegen die Männer ausrichten, die sich die Reichtümer nahmen und mit der Limousine davonschoben. Als der letzte Täter endlich hinter dem nächsten Häuserblock verschwunden war, liefen sie über die Straße zu dem Eingang der alten S-Bahn-Station, wo das fast nackte Opfer lag. Wie ein Mistkäfer, dachte Bo und schämte sich nicht für den Vergleich.

Joris suchte zwischen den Falten am Hals nach einem Puls.

»Er lebt noch, hilf mir, ihn in die stabile Seitenlage zu bringen.«

Bo setzte den Arztkoffer ab, in dem sein Vater eine medizinische Grundausstattung aufbewahrte und ohne den er nie das Haus verließ. Er packte den Mann an der Schulter, drehte ihn zu sich, sah das blutverschmierte Gesicht und dann die leeren Augenhöhlen. Fast hätte er ihn losgelassen.

»Oh Gott«, rief er. »Die haben ihm die Augen ausgestochen.«

Der Mann auf dem Boden stöhnte.

Joris nahm die Hand des Mannes in seine und legte den Arm vorsichtig in die vorgesehene Position. »Alles wird gut, ich bin Arzt, ich kann Ihnen helfen«, sagte er leise und voller Zuversicht.

Bo bewunderte seinen Vater für die Fähigkeit, selbst in solch einer Situation Hoffnung zu verbreiten. Er war kein Arzt, aber er hatte genug Verletzte gesehen, um zu wissen, dass dieser Mann nicht mehr lange zu leben hatte. Aus der Tiefe des riesigen Körpers kam ein Gurgeln und im nächsten Moment spuckte er Blut. Ein dunkler Bach rann über die hellen Steine.

Bo richtete sich auf. »Lass uns gehen.«

Joris hielt immer noch die Hand des Mannes. Sein Ärmel war blutverschmiert. Aber er rührte sich nicht. »Einen Moment noch.« Ein erneutes Gurgeln, dann ein tiefer, rasselnder Atemzug. Dann Stille.

»Das war’s.« Mit einer verinnerlichten Geste wollte Joris dem Toten die Augen schließen, ließ die Hand aber wieder sinken. »Er hätte ihnen die Kontaktlinse bestimmt auch freiwillig gegeben«, sagte er. »Die Ratten werden immer brutaler.« Er stand auf und wusch sich die Hände in einer der Pfützen.

»Beeil dich, ja?«, sagte Bo. »Wir müssen abhauen, bevor die Bullen kommen.« Er zog sich die Kapuze seines Pullovers noch tiefer ins Gesicht. Die wahren Gegner waren nicht die Ratten, sondern die Polizisten und ihre Überwachungskameras. Ein Wunder, dass sie nicht schon lange hier waren. Er nahm die Tasche und marschierte los. Als er sich nach seinem Vater umdrehte, stand der immer noch vor dem Toten. Der Mond hatte sich zwischen die Regenwolken geschoben. Sein weißes Licht warf scharfe Schatten.

»Komm!«

»Willem Duhnkreih«, murmelte Joris. »Seit wann hast du nicht mehr genug Geld, um dein Auto anständig zu betanken?«

»Joris!«

Endlich setzte sich sein Vater in Bewegung. Er ging gebeugt, als hätte ihm jemand eine unsichtbare Last auf die Schultern gelegt. Bo lief ihm entgegen, besorgt über die plötzliche Veränderung seines sonst so aufrechten Vaters. »Was ist los?«

Aber der antwortete nicht. Mit einer leichten Kopfbewegung deutete er nach hinten, zum Dach der alten S-Bahn-Haltestelle. Jetzt hörte Bo es auch. Ein leises Surren. Er musste nicht hinschauen, um zu wissen, was es bedeutete. Eine Überwachungs­kamera hatte sich in ihre Richtung gedreht. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie schon lief und was sie alles aufgezeichnet hatte. Er hatte nicht einmal gewusst, dass dort oben eine Kamera hing.

Und dann hörte er die Sirenen.

Sie rannten los, tauchten ein in das Gewirr der Straßen. Aber sein Vater war alt. Schon nach wenigen Minuten lehnte er keuchend an einer Wand. Sie waren in einem kleinen Quergang zwischen zwei größeren Straßen, zu klein für Autos und nach allem, was er wusste, auch ohne Überwachung.

»Gib mir die Tasche, Bo, schnell!«

Er drückte seinem Vater das abgewetzte Stück in die Hand. Der öffnete den Arztkoffer und löste an einer Stelle das Innenfutter. Dahinter, ganz genau konnte Bo es nicht erkennen, lag etwas, an das Joris seinen Daumen drückte. Der Fingerabdruck startete einen Mechanismus, der die feste Außenwand der Tasche wegklappen ließ. Oder das, von dem Bo bisher gedacht hatte, dass es die Außenwand sei. Als Joris seine Hand wieder aus dem schmalen Geheimfach hervorzog, befand sich ein alter, vergilbter Briefumschlag darin.

»Nimm.«

»Was …?«

»Betrachte es als mein Erbe. Lass dich nur nie damit erwischen. Auf den Besitz steht die Todesstrafe.«

»Aber …«

Joris’ Atem ging immer noch viel zu schnell. Trotzdem unterbrach er Bo. »Wir haben nicht viel Zeit. Der Tote, das war Duhnkreih, der Bürgerschaftspräsident. So jemand wird nicht einfach überfallen. Ich weiß nicht, wer ihn aus dem Weg räumen wollte, aber die Polizei wird uns für seinen Tod verantwortlich machen. Du musst untertauchen, Bosse. Sofort. Geh zu Tom, der kann dir helfen.«

»Warum kommst du nicht mit?«

Joris lächelte. Zum ersten Mal an diesem Abend. Er legte seine Hand auf Bos Schulter und sah ihn voller Zuneigung und Zärtlichkeit an. Sein Atem hatte sich beruhigt.

»Ich hab meine Kämpfe gekämpft. Ich bin zu alt für ein Leben im Untergrund. Außerdem möchte ich mich von Johanna verabschieden. Du weißt doch: Sie wird wahnsinnig vor Angst, wenn wir nicht nach Hause kommen. Ich will ihr erzählen, was passiert ist und was passieren wird, bevor sie mich abholen.«

»Dich abholen? Aber du hast doch nur versucht zu helfen.«

»Das ist denen egal. Sie brauchen einen Schuldigen und mich werden sie schneller finden als die Ratten.« Joris drückte ihm den Briefumschlag in die Hand. »Hier steht alles, was du über die Birds wissen musst. Ein Journalist hat diese Sachen recherchiert, damals, vor der Blutnacht, und dafür mit seinem Leben bezahlt. Aber dieser Text hat die Menschen dazu gebracht, sich zu wehren. Auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Vielleicht gelingt es dir erneut.«

»Aber …«

»Lauf. Lauf so schnell du kannst. Und mach mich stolz.«

Joris umarmte ihn. Bo fühlte die festen Arme seines Vaters, roch die Wolle des alten Mantels und dahinter, ganz leicht nur, den Geruch von Desinfekt. Er weigerte sich, diesen Abschied als endgültig zu akzeptieren. Aber in ihm keimte die Ahnung, dass das die letzte Umarmung gewesen sein könnte. Er hatte lange genug in Nordland gelebt, um zu wissen, dass den Birds alles zuzutrauen war. Außer Gerechtigkeit.

Und während sein Vater, die Tasche in der Hand, in die eine Richtung ging, rannte Bo in die andere, immer im Mondschatten der Häuser, die Kapuze seines Pullovers tief ins Gesicht gezogen.

Nordland. Hamburg 2059 - Freiheit

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