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Ω Guerilla Ω

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Kris’ Zeichen war eindeutig gewesen. Verschwinde. Sofort. Bo tauchte in der Masse unter und ließ sich von ihr zu den Toiletten treiben. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Polizisten in die Mundsburg hineinstürmten. Eine Ansage lief über die Lautsprecher, aber er hörte nicht zu. Da vorn, nur noch ein paar Stände entfernt, waren die Klos. Den Polizisten folgten Männer in langen, schwarzen Mänteln. Nicht hinschauen. Keine Aufmerksamkeit erregen. Untertauchen. Schnell.

Er war zu leichtsinnig gewesen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Der Markt in der Mundsburg. Ausgerechnet. In der Menge untertauchen und gleichzeitig neue Omegas anwerben, das war der Plan gewesen. Heute Vormittag hatte es gut geklappt. Was wollten die Bullen jetzt hier? Ob Maja ihn verraten hatte? Eigentlich konnte er sich das nicht vorstellen. Aber was wusste er wirklich von ihr? Die Belohnung auf seinen Kopf war weiter gestiegen. Nicht, dass man seinen Kopf auf dem Fahndungsplakat erkennen konnte. Aber wer Joris gekannt hatte, der konnte sich denken, wer der zweite noch flüchtige Mann war, der angeblich diesen fetten Bird getötet hatte.

Er hatte nicht nur Freunde auf dieser Welt. Dutzenden Bekannten war er heute begegnet. Jeder davon hätte die Polizei rufen können.

Er zog die Kapuze noch tiefer ins Gesicht.

Idiotisch, diese ganze Aktion.

Er zwang sich, nicht zu rennen. Ganz in Ruhe zu den Räumlichkeiten zu schlendern und dann zu beten, dass außer ihm niemand dort war. Er hielt die Luft an, als er die Tür öffnete. Mist. Am Urinal standen zwei Männer, und die Kabine war auch besetzt. Er atmete aus und durch die Nase wieder ein. Nur winzige Züge der stinkenden Luft. Er stellte sich zu den Männern ans Urinal.

Die Tür öffnete sich erneut. Ein Mann in einem langen, schwarzen Mantel stellte sich direkt neben ihn und sah ihn herausfordernd an. Bo spürte, wie unter seinen Armen der Schweiß zu laufen begann. Leider lief sonst nicht mehr viel. Ganz anders bei dem Mantelträger. Hörte das denn nie auf? Der Typ schaute ihn an und grinste. »Freibier. Konnte ich mir doch nicht entgehen lassen.«

Bo schob den Unterkiefer vor und nickte, zustimmend-anerkennend, wie er hoffte, bevor er den Reißverschluss zuzog und zum Waschbecken trat. Ein trauriges Rinnsal tropfte heraus. Der andere Mann verzichtete aufs Händewaschen und verließ den Raum. Genauso wie der Marktbesucher, der jetzt aus der Kabine heraustrat.

Endlich war Bo allein. Er öffnete die Tür der Kabine mit dem Schild »defekt«. Ein Drücken gegen einen der Steine, ein Ziehen am Hebel und der Fluchtweg lag offen stinkend vor ihm. Diese Flucht durch die Siele war wirklich ekelhaft.

Er sah seinen Vater vor sich. Zusammengekrümmt, blut­verschmiert.

Scheiß auf den Siel. Er kletterte durch die Öffnung, zog erneut am Hebel und alles rutschte zurück an seinen Platz. Das hatten die Altvorderen damals echt gut gebaut. Selbst nach 25 Jahre funktionierte der Mechanismus perfekt.

Eine knappe Stunde später kletterte er aus einer anderen Klappe zurück an die Oberfläche. Am liebsten hätte er sich sofort gewaschen. Aber Sunna kam ihm schon entgegen.

»Da bist du ja endlich. Die anderen sind schon oben.«

Er wollte seiner Schwester einen Begrüßungskuss geben, aber die wich zurück. »Du stinkst.«

»Danke, ich kann dich auch gut riechen.«

Er lief die Treppe hoch in ihren Besprechungsraum. Taschenlampen sorgten für ein Minimum an Licht, aber er sah auf einen Blick, dass ihre kleine Gruppe gewachsen war. Er gab sich keine Mühe, seine Freude darüber zu verbergen.

»Großartig, dass ihr alle da seid!«, rief er ihnen entgegen. Alek und die gesamte Quartierswache, Sunna und ihre Freundinnen aus dem Viertel, Nathan und seine Debattierfreunde und eine Menge Unbekannter, die er heute auf dem Markt angesprochen und das Flugblatt in die Hand gedrückt hatte. Wenn sie später zu ihm gekommen waren und gefragt hatten, was sie denn gegen die ganze Ungerechtigkeit machen könnten, hatte er ihnen Ort und Uhrzeit verraten. Und hier waren sie nun.

Aus seiner Sporttasche holte er den Briefumschlag, den sein Vater ihm an ihrem letzten gemeinsamen Abend gegeben hatte. In dem Umschlag waren zwei gefaltete Zettel, sehr alt, der Text darauf verblasst, aber immer noch lesbar.

»Ich habe hier Auszüge vom Text.« Bo machte eine Pause und sah seine Mitstreiter an. »Von DEM Text.« Endlich begriffen die Ersten. Ein Raunen ging durch den Raum. Der »Text«, wie er überall nur hieß, hatte über die Jahre die Aura des Heiligen Grals bekommen. Jeder wusste, dass dieser Text die Blutnacht ausgelöst hatte und dass im Anschluss daran die gesamte Opposition Nordlands vernichtet worden war. Jeder wusste, dass in dem »Text« die Geschichte der Birds stand, die vielen illegalen Mittel, die sie benutzt hatten, um zu Wohlstand und Reichtum zu kommen, während das Volk in den Wintern des Umbruchs verhungerte und erfror. Aber wie genau sie es gemacht hatten, welches Recht sie gebrochen und welche Unverfrorenheit sie begangen hatten, alles was die Menschen hätten nutzen können, um sich an ein ordentliches Gericht zu wenden, diese Informationen waren verloren gegangen.

»Es ist nicht ganz vollständig, aber schon das bisschen hier ist heftig. Wenn wir damit rausgehen, dann kriegen wir das Volk auf die Barrikaden. Dann haben wir hier eine Revolution. Dann schaffen wir es, dieses ganze scheiß System zu stürzen.«

Seine Leute applaudierten und johlten. »Und dann holen wir, was uns zusteht.« – »Nieder mit den Birds.« – »An die Wand mit ihnen!«

»Moment, Moment.« Bo hob beschwichtigend die Hände. »Wie ihr alle wisst, steht auf den Besitz des Textes die Todesstrafe. Wir müssen also vorsichtig vorgehen. Wir können ihn nicht einfach abschreiben und verteilen. Ganz abgesehen davon, dass die Birds dann behaupten würden, wir hätten uns die ganzen Geschichten nur ausgedacht.«

»Wie willst du vorgehen?«, fragte Nathan.

»Schritt für Schritt. Als Erstes müssen wir verhindern, dass die Birds mit diesen komischen Umsiedlungsplänen Erfolg haben. Wenn erstmal alle Menschen ihre Häuser hier verlassen haben, dann haben wir schlicht und ergreifend kein Volk mehr, das sich wehren kann. Mal ganz abgesehen davon, dass bei dieser Umsiedlung längst nicht alles mit rechten Dingen zugeht.« Kurz erzählte er die Geschichte von Eve und den beiden Behördenmitarbeitern. »Deshalb müssen wir als Erstes dafür sorgen, dass die Menschen überhaupt wissen, dass es uns gibt. Wir müssen die Stadt weiter mit Ωs fluten. Die Älteren werden wissen, was es heißt. Und die Jüngeren werden hoffentlich fragen.«

»Warum gehen wir nicht sofort mit dem Text raus?«, fragte Alek. »Wenn er so gut ist, wie du sagst, müsste das doch ein Selbstläufer sein. Warum willst du weiter Zeit vergeuden?«

»Weil wir noch keine Struktur aufgebaut haben, um die Wut der Leute zu lenken. Weil wir noch keine Kontakte ins Ausland haben, zu Menschen, die uns unterstützten könnten. Weil wir momentan so schwach sind, dass die Birds einfach eine zweite Blutnacht machen und uns vernichten würden.«

Zustimmendes Gemurmel zeigte ihm, dass die meisten kapiert hatten, dass mit einer Hau-Ruck-Aktion nichts gewonnen war.

»Deshalb fangen wir mit kleinen Aktionen an«, fuhr Bo fort und erklärte den Plan für diese Nacht.

Es war sternenklar, als er mit seinen Leuten die Max-Brauer-Allee erreicht hatte. So langsam gewöhnte Bo sich an das Prickeln im Nacken, wenn er unterwegs war und nicht wie sonst nach Ratten Ausschau hielt, die auf der Suche nach leichten Opfern waren, sondern nach Kameras, die in den entlegensten Winkeln montiert waren. Nicht, dass sie alle funktionierten. Die wenigsten schienen intakt, beziehungsweise wurden nicht kontrolliert. Er hatte sich schon oft gefragt, wie die Birds eigentlich das ganze Datenmaterial auswerteten, das tagtäglich bei ihnen einging.

Bislang hatten sie keine Schwierigkeiten gehabt. Vielleicht lag es daran, dass den Birds egal war, was außerhalb ihrer Grundstücksgrenzen passierte. Bo hatte für ihre Aktionen 500 Meter als Minimalentfernung zum nächsten Birdanwesen ausgegeben. Seit zehn Minuten malten sie nun schon völlig ungestört ihre Parolen auf die Straßen: »Tausch nur gegen Alstervilla«, »Meine Heimat ist die Schanze« und was ihnen sonst so einfiel. Am Montag würden die Senatoren wieder mit ihrer Entourage hier entlangrollen. Und dann würden sie sehen, was das Volk von ihren Umsiedlungsplänen hielt.

Nichts.

In der Ferne hörte er Sirenen. Aber die schienen östlich der Alster unterwegs zu sein. Vielleicht hatte es bei der Mundsburg weiteren Ärger gegeben? Kurz hatte Bo ein schlechtes Gewissen, weil auch die Quartierswächter aus St. Georg, Hamm und Barmbek in dieser Nacht im Dienst von Omega unterwegs waren und an ihren Straßen und Häusern ähnliche Botschaften hinterließen wie er hier im Schanzenviertel.

Der Ruf einer Eule ließ ihn aufhorchen. Da. Nochmal. Der vereinbarte Warnruf – der beim dritten Mal mittendrin abgeschnitten wurde. Mist. Bo spurtete zu der Ruine, in der Huge sich versteckt hatte. Der kleine rotlockige Huge, der mit seinen 14 Jahren eigentlich viel zu jung war, um bei ihnen mitzumachen, der mit seinen scharfen Augen aber perfekt geeignet war, um Wache zu stehen.

Und der jetzt ein Messer an der Kehle hatte. Von Skoruppa, dem Arsch.

»Lass den Kleinen laufen«, sagte Bo.

»Warum sollte ich?«, fragte Skoruppa, seine dünnen Lippen zogen sein hässliches Gesicht noch breiter als es ohnehin schon war. Hinter Skoruppa tauchten seine Leute auf: Ratten in ihren schwarzen Jeans, den schwarzen Pullovern – dass sie sich nicht noch das Gesicht schwarz färbten, war einzig ihrem Rassismus geschuldet.

»Weil es hier nichts für dich und deine Jungs zu holen gibt.« Bo hörte, wie hinter ihm die eigene Verstärkung auftauchte.

»Oh, das glaub ich aber doch«, sagte Skoruppa mit seiner schnarrenden Stimme. »Auf deinen Kopf, mein lieber Bosse, ist eine fette Belohnung ausgesetzt. Und wenn du nicht möchtest, dass dein kleiner Feuermelder hier draufgeht, dann kommst du besser freiwillig mit uns mit.« Er drückte die Klinge noch etwas fester und Bo spürte mehr als dass er es sah, wie die Klinge in der oberen Hautschicht verschwand.

»Lass ihn los.«

»Komm rüber.«

Bo zuckte mit den Schultern und näherte sich Skoruppa. Zwei Ratten nahmen ihn in Empfang und hielten ihn fest. Endlich ließ Skoruppa Huge laufen. Der stolperte zurück zu Bos Leuten – und in dem Moment gingen die beiden Gruppen aufeinander los. Mit einer schnellen Bewegung befreite sich Bo aus dem Griff der beiden Männer, schlug einem die flache Hand unter die Nase, dem anderen drückte er den Kehlkopf ein. Bo sah Messer durch die Nacht blitzen, er hörte Knochen auf Knochen schlagen, Schmerzenslaute, Stöhnen, er sah wie der kleine Huge eine Ratte von den Beinen holte. Im nächsten Moment blockte Bo ein Messer und trat dem Angreifer gegen das Knie. Er wurde in den Schwitzkasten genommen, schlug mit dem Hinterkopf gegen ein Gesicht und glaubte, die Nase des anderen knirschen zu hören. Er steckte Schläge ein, teilte aber deutlich mehr aus.

Als Skoruppa realisierte, dass er diesen Kampf nicht gewinnen würde, pfiff er kurz und verschwand mit seinen Leuten in der Nacht. »Ich weiß, wo du wohnst, Bo Thorn. Ich sorg dafür, dass Foth dich abholt. Dich oder deine Schwester. Such es dir aus.«

Nordland. Hamburg 2059 - Freiheit

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