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Ω Frösche Ω

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Es tat gut, etwas zu tun. Das lenkte ab von dem Schmerz, der immer wieder zog und zerrte, sobald er an seinen Vater dachte. Ihm war dann, als wollte der Herzmuskel aus seiner Brust springen, als dehnten sich die Gefäße wie Bänder und Sehnen und als hätten sie große Mühe, das Herz an seiner Flucht zu hindern.

»Wir geh’n getrennt zum Rathausmarkt«, sagte Tom. »Ich geh’ mit deiner Mudder und deiner Schwester. Is’ nicht gut, wenn die alleine sind morgen. Und nee«, fuhr er fort, bevor Bo protestieren konnte, »du bist nich’ dabei. Du präsentierst dich Foth und seinen Männern nich’ auf’m Silbertablett. Du bleibst schön mit’m Kopp unten und im Versteck!«

»Ja, ja, okay, ich hab’s verstanden, Tom. Aber ich sehe immer noch nicht, wie wir weitere Verhaftungen verhindern können.«

»Warum sollten sie uns verhaften?«, fragte Kris. »Bislang konnten wir immer unsere Meinung sagen, wenn uns was nicht passte. Haben wir alle Zettel?«

Bo reichte ihm den kleinen Stapel. Auf jedem Blatt stand ein einzelner Buchstabe. Sunna hatte sie heute Morgen gemalt. Sollten die einzelnen Demonstranten kontrolliert werden, gäbe es keinen Grund, sie wegen eines Ns oder eines Qs festzuhalten. Was mit ihnen passierte, sobald der Protest lesbar war … er war sich nicht so sicher wie sein Kumpel Kris, dass sie ungehindert den Rathausmarkt wieder würden verlassen können.

»Dann treffen wir uns morgen nach der Hinrichtung wieder hier, ja?«, fragte Bo. »Ich will alles ganz genau wissen. Jedes Wort der Birds, jede Reaktion von unseren Leuten.«

»Was ist mit der Mannschaft für unser Viertel morgen?«, fragte Nathan.

»Ich glaub, es reicht die Notbesetzung.« Die Feiertagsbesetzung, wie sie es normalerweise nannten, wenn nur eine Handvoll Quartierswächter durchs Viertel patrouillierten. Aber morgen war mit Sicherheit kein Feiertag. »Alek, suchst du dir ein paar Leute?«

Alek verzog den Mund. »Eigentlich würde ich danach lieber noch ein Bier trinken.«

Bo wusste, wofür »ein Bier trinken« bei Alek stand. Saufen und sich prügeln. Es grenzte an ein Wunder, dass sein herzförmiges Gesicht immer noch so hübsch symmetrisch war.

»Ich würde den Dienst übernehmen, aber wie du weißt, kann ich gerade schlecht raus auf die Straße. Also, lieber Stellvertreter, suchst du dir bitte ein paar Leute?«

Alek hob die Hand an den Kopf und salutierte. »Aye, aye, Sir.« Die übertriebene Schmissigkeit hätte Bo in jeder anderen Situation Sorgen gemacht, aber heute war sie ihm egal.

Seine Leute packten ihre Sachen zusammen. Im Abstand von einigen Minuten verließen sie jeweils zu zweit oder zu dritt den Keller, in dem sie getagt hatten. Ein altes Mehrfamilienhaus in der Schanze. »Brauchste noch was?«, fragte Tom zum Abschied.

»Was Hochprozentiges wäre gut. Etwas, mit dem ich mich morgen Abend abschießen kann.«

»Findste das schlau? Du brauchst ’nen klaren Kopf, Bosse. Du hast nu’ andere Gegner. Das sind nicht länger irgendwelche Kleinkriminelle, die planlos durch die Straßen zieh’n. Das sind die Birds, gegen die du kämpfst.«

Bo öffnete den geheimen Zugang, der vom Keller hinein in das unterirdische Wegenetz führte. Er wollte, dass Tom endlich verschwand. »Ich bin im Versteck«, sagte er und kletterte in den schmalen Tunnel, der von hier direkt in den Siel führte. Seine Taschenlampe leuchtete ihm den Weg. Er drückte einen Hebel und ließ den Deckel über sich einrasten.

Er wartete, bis er Toms Schritte nicht länger hörte. Dann drückte er den Hebel erneut und schob sich zurück in den Keller. Er brauchte Luft. Richtige, echte Draußen-Luft. Tom hätte mit ihm diskutiert, behauptet, das wäre zu gefährlich. Aber er war jetzt seit drei Tagen nicht mehr draußen gewesen. Es war dunkel, sein Gesicht würde unter der Kapuze nicht zu sehen sein und die nächste Kamera war ein ganzes Stück die Straße runter. Ihr Plan würde nicht scheitern, nur weil er einmal frische Luft schnappte.

Die kalte Regenluft war wie eine Liebkosung. Bo streckte die Zunge raus in dem kindischen Verlangen, ein paar Regentropfen aufzufangen. Er atmete tief ein, zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und ging breitbeiniger als er sich fühlte. Er versuchte, sich einzureden, dass er keinen Grund hatte, sich zu fürchten. Er hatte nichts Unrechtes getan. Er gehörte hierher. Das war seine Straße. Seine Stadt.

Außer ihm war niemand unterwegs. In den Häusern flackerten Kerzen hinter den Vorhängen. In zwei, drei Zimmern schien sogar elektrisches Licht. Offenbar hatte jemand die Stromleitungen vom alten Civetta angezapft und war bisher noch nicht erwischt worden. Der Regen auf der Haut, der vertraute Geruch von verbranntem Holz, das Licht, das aus Häusern auf die Straße fiel – für einen Moment konnte Bo glauben, dass alles nur ein böser Traum gewesen war.

Und dann hörte er Geschrei aus einer der Wohnungen über ihm.

Eine Frauenstimme: »Nein, es passt mir gerade gar nicht. Bitte kommen Sie morgen wieder, wenn mein Mann … was wollen Sie? Raus aus meiner Wohnung!«

Eine Männerstimme, die zu leise war, als dass Bo sie hätte verstehen können.

»Ey, das gehört mir«, schrie die Frau. »Legen Sie das zurück!«

Bo rannte die Treppe hoch. Das Fenster, hinter dem sich mehrere Schatten bewegten, war im zweiten Stock. Die Eingangstür war nur angelehnt. Er schob sich leise in die Wohnung hinein: ein schmaler Flur, von dem drei halb geöffnete Türen abgingen. An einem Nagel hingen eine Jacke und ein alter Hut. Auf einem kleinen Tisch daneben lagen Schlüssel, ein paar Steine, eine Brille mit Hornrand, ein ramponiertes, kleines Spielzeugauto.

Das Gespräch kam aus dem vorderen Zimmer, der Küche, wie Bo vermutete.

»… offiziellen Vertreter der Heimatschutzbehörde«, sagte ein Mann. »Sie haben sich auf unsere Anzeige gemeldet und jetzt sind wir hier, um Näheres mit Ihnen zu klären.«

»Um diese Uhrzeit?«

»Sie ahnen ja nicht, wie viele Leute sich gemeldet haben! Da machen wir sogar nach Feierabend noch Hausbesuche.«

»Und warum zählt Ihr Kollege dann mein Bargeld?«

Etwas klickte – ein Verschluss?

»Hey, das können Sie nicht einfach einsacken!«

»Möchten Sie eine neue Wohnung oder nicht?«

»Ja schon, aber …«

»Betrachten Sie das als Anzahlung.«

Bo ging langsam weiter, den Blick auf die Küche gerichtet. Unter seinem Fuß raschelte es. Er bückte sich und hob ein Stück Papier auf. Ein fetter, grinsender Frosch war in die obere Ecke gedruckt, daneben stand »Behörde am Poggendiek – Wir realisieren Ihre Wohnträume«.

»Ich möchte dann bitte eine Quittung.«

Ein kurzes Auflachen. »Kannst du mir gerade mal unseren Quittungsblock reichen?« Und die ebenso scherzhafte Antwort des Kollegen: »Oh, den habe ich vergessen. Ich notiere es mir aber, Frau …«

Bo schlich die drei Schritte zur Eingangstür zurück, setzte sich Brille und Hut auf, bevor er die Tür ins Schloss schlug und mit lauten Schritten zur Küche ging.

»Ich bin zu Hause, Schatz«, rief er. »Hast du Besuch? Die Tür war offen.« Er trat in die Küche und nahm die Frau schnell in die Arme, bevor sie etwas Falsches sagen konnte. »Quartierswache«, flüsterte er ihr ins Ohr. Er spürte ihr Nicken an seinem Kinn, zu sehen war es nicht. Auf dem Tisch lag ein aufgeklapptes Messer.

»Also, meine Herren, ich habe gehört, dass Sie keine Quittung ausstellen können. Dann sollten wir das mit der Anzahlung verschieben, finden Sie nicht?«, fragte er und stemmte die Fäuste in die Seiten. Bo war einen Kopf größer als die beiden, deren Gesichter er durch die Brille nur verschwommen sah. Und er war deutlich muskulöser. Das schien auch den beiden Männern in ihren verschlissenen Anzügen bewusst zu werden. Bo runzelte die Stirn und blickte über den Rand der Brille, väterlich-freundlich, tatsächlich aber um zu sehen, ob sie bewaffnet waren.

Anscheinend nicht.

Er musste sie trotzdem so schnell wie möglich aus der Wohnung komplimentieren, bevor sie bemerkten, dass er mindestens 20 Jahre jünger war als seine vermeintliche Frau. Er ließ die Falten auf seiner Stirn stehen und zeigte auf den Aktenkoffer.

»Ich glaube, da drin ist was, das uns gehört.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, versuchte es der Mann, der eben auch die meiste Zeit geredet hatte.

Wie zufällig griff Bo nach dem Messer auf der Ablage und schnitt sich ein Stück Brot ab. Das Messer glitt durch den Laib wie durch Butter. Mit der einen Hand hielt Bo das Brot – »Möchten Sie ein Stück?« – mit der anderen ließ er das Messer wirbeln. Im nächsten Moment war die Klinge am Hals des Kofferträgers.

»Unser Geld. Sofort.«

Bo roch den Schweiß, der dem Behördenvertreter aus den Poren trat. Der Mann ließ das Schloss aufklicken und nahm die Geldscheine heraus, die er lose auf einen Stapel Akten geworfen hatte. Die Frau riss sie ihm aus der Hand. »Ich glaube, ich bin doch ganz glücklich in meiner Wohnung hier. Sie können meinen Namen von der Liste der Interessenten streichen. Schönen Abend noch.«

Bo ließ das Messer sinken. Die beiden Männer verschwanden ohne ein weiteres Wort. Die Frau stand neben dem Fenster und wartete, bis die beiden nicht mehr zu sehen waren. Dann nahm sie drei Scheine aus dem Geldbündel und gab sie Bo. »Danke, Quartierswache.«

Bo steckte das Geld ein und nahm Hut und Brille ab. Wie angenehm, wieder scharf sehen zu können.

Ein Erkennen glitt über das Gesicht der Frau. »Du bist doch der Sohn von Johanna und Joris.«

Bo antwortete nicht, sondern zeigte auf den Zettel, den er auf die Ablage hatte fallen lassen.

»Was bedeutet das?«, fragte er.

»Die Birds wollen anscheinend dieses Viertel luxussanieren und bieten uns im Gegenzug für unsere Wohnungen neue Unterkünfte am Stadtrand«, erklärte sie. »Ich dachte, kann ja nicht schaden, sich ein bisschen zu informieren.«

»Kann ich den Zettel mitnehmen?«

»Klar. Mit dieser komischen Behörde will ich nichts mehr zu tun haben.«

»Lassen Sie in Zukunft keine fremden Männer mehr in Ihre Wohnung.«

Sie lächelte ihn an. »Mach ich. Und grüß deine Eltern von mir.« Sie gab ihm die Hand. »Ich bin Eve. Wir kennen uns noch vom Studium. Sag ihnen, sie sollen sich mal wieder blicken lassen.«

Bo nickte nur. Da war er wieder, der Schmerz. Als ob jemand sein Herz herausreißen wollte.

Nordland. Hamburg 2059 - Freiheit

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