Читать книгу Nordland. Hamburg 2059 - Freiheit - Gabriele Albers - Страница 7
– I – Ratten
ОглавлениеManche Dinge änderten sich nie. Egal, wie sehr sich die Welt verändert hatte.
Die dunkle Limousine rauschte durchs Schanzenviertel, als wären Geschwindigkeitsbegrenzungen nur für die anderen Verkehrsteilnehmer erdacht worden.
Es regnete und auf der Straße standen Pfützen. Die dunklen Spiegel verbargen tiefe Löcher unter ihrer wässrigen Oberfläche. Um einige Schlaglöcher lenkte das selbststeuernde Auto herum. Andere waren nicht in der aktuellen Navigationssoftware enthalten: Die Limousine setzte mehrfach auf und dem Mann auf dem Fahrersitz schlug es heftig in den Rücken.
Er übernahm die Kontrolle und drückte das Gaspedal herunter. In diesem Viertel waren er und seinesgleichen schon vor 30 Jahren nicht willkommen gewesen. In wildem Slalom lenkte er die Limousine um die nur scheinbar harmlosen Pfützen herum.
In dieser Gegend durfte man nichts und niemandem trauen.
Die Scheinwerfer glitten über beschmierte Fassaden, von denen der Putz in langen Fladen herunterblätterte. Das Licht huschte über mit Brettern verrammelte Fensterhöhlen und über tiefgelegene Hauseingänge, in deren Schwärze sich die Schatten zurückzogen, wenn ihnen das Licht zu nahe kam.
Jenseits davon versank alles in schwarzem Regen.
Männer, die an die Dunkelheit gewöhnt waren, warteten, bis das Auto an ihnen vorbei war. Dann folgten sie der Limousine, angezogen von dem Scheinwerferlicht, das immer schwächer wurde. Aber da der Fahrer grundsätzlich den Blick zurück verweigerte, sah er sie nicht.
Der Fahrer schlug den Cordkragen seiner Barbour-Jacke hoch. Etwas stimmte nicht mit der Heizung. Den Griff nach dem Flachmann hatte sein Körper fast so automatisiert wie Herzschlag und Atmung. Dabei übersah er das nächste Schlagloch. Der Schnaps lief dem Mann über Wangen und Hände.
Die Scheibenwischer blieben auf halber Strecke stehen und verweigerten den Dienst. Regentropfen schlugen dicht an dicht auf die Windschutzscheibe. Der Fahrer schlug aufs Lenkrad, drückte auf Tasten herum, kontrollierte die Energieanzeige: Die Batterie war fast voll.
Ein letzter Sprung nach vorne, dann blieb das Auto stehen.
Die Scheinwerfer dimmten herunter. Die Notbeleuchtung reichte zwei Meter weit.
Straßenlaternen gab es in diesem Viertel nicht.
Die Männer, alle in schwarz, ließen sich Zeit.
Der Fahrer stieg aus, ging um seine Limousine herum, verpasste ihr einen Fußtritt.
»Verdammte Scheißkarre«, rief er und: »Vidja, stell eine Verbindung her mit – « Weiter kam er nicht. Die Männer manifestierten sich aus dem Dunkel der Schatten. Ihr Opfer sprang zurück in sein Auto, wollte es von innen verriegeln, aber nicht mal dafür reichte der Strom. »Notfall! Hilfe! Vidja, stell sofort – «, schrie er, bevor ihn die Faust mitten ins Gesicht traf.
Die Männer zogen ihn aus dem Auto heraus.
»Hilfe!«, rief er nochmals. Seine Stimme klang nasal, fast weinerlich. »Was wollt ihr?«
Einer der Angreifer lachte. Es klang wie das Schleifen einer schlecht geölten Kette.
»Alles! Alles, was ihr scheiß Birds habt.«
»Ich …, hier, meine Brieftasche und, und – « Ein Schlag in die Magengrube verhinderte, dass er weiter verhandelte. Die Männer um ihn herum hatten die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Sie hatten Stöcke dabei und Messer. Aber die brauchten sie nicht, um ihn zusammenzuschlagen.
Er lag auf dem Boden, zusammengekrümmt. Das Licht entfernte sich, mehrere Männer schoben die tonnenschwere Limousine davon. Einer der Angreifer zog ihm die Jacke vom Leib, dann die Schuhe und den Anzug. Ein weiterer Tritt in die Seite. Er wand sich, versuchte mit letzter Kraft davonzukriechen, aber der Fuß des anderen genügte, ihn an Ort und Stelle zu halten, während er ihm die goldenen Knöpfe aus den Manschetten riss. Der Mann auf dem Boden versuchte, etwas zu sagen, ein letztes Mal zu verhandeln, aber statt Worten quoll Blut aus seinem Mund.
Ein Messer näherte sich seinem Gesicht. Er wehrte sich, bäumte sich auf, ein Schlag aufs Ohr setzte ihn außer Gefecht, aber er blieb bei Bewusstsein. Alles drehte sich um ihn, und das Messer, das sich seinen Augen näherte, wurde zu hundert Messern.
Die Frau, die alles aus der Ferne verfolgte, konnte nicht helfen. Sie versuchte, die Polizei zu rufen, aber niemand reagierte auf ihren Anruf. Sie nahm den Ohrring ab, der den letzten Schrei des Mannes zu ihr trug und schloss die Augen.