Читать книгу Nordland. Hamburg 2059 - Freiheit - Gabriele Albers - Страница 13

Theater

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»Ihr habt den Elbtunnel geschrottet? Echt wahr?«

Lillith grinste. Fritjof!

»Ja«, twinkerte sie zurück. »Danke der Nachfrage. Ich habe überlebt und es geht mir den Umständen entsprechend gut.«

»Oh … Verzeih, meine Liebe. Du musst mir alles ganz genau erzählen. Ich bin gleich am Rathaus. Wir sehen uns.«

Lillith beendete die Verbindung und ging die schmale und schmucklose Treppe in den Zuschauerraum der Bürgerschaft hoch. Fritjof hatte definitiv das falsche Geschlecht. Sie kannte niemanden, der so gut über den Klatsch und Tratsch der Gesellschaft Bescheid wusste wie er. Seine Sensationslust war vermutlich der einzige Grund, warum er regelmäßig die Bürgerschaftssitzungen besuchte. Während der wöchent­lichen Treffen, bei denen die Senatoren die Abgeordneten über ihre Entscheidungen informierten, passierte nicht viel und weil sich alle langweilten, blieb reichlich Zeit für informelle Vidja-Gespräche.

Der rote Teppich dämpfte ihre Schritte. Hinter ihr zog jemand geräuschvoll die Nase hoch. Lillith spürte Titus’ allgemeines Unwohlsein. Anscheinend war ihm das schlechte Wetter gestern auf die Gesundheit geschlagen. Und dann spürte sie seine Gier. Sie drehte sich zu ihm um. Ertappt wandte er seinen Blick von ihrer Rückseite ab und starrte auf den Teppich vor sich.

Sie begriff wirklich nicht, warum ihr Vater diesen Mann als persönlichen Assistenten beschäftigte.

Lillith drückte sich mit ihrem Reifrock an der halbhohen Zwischenwand vorbei, die ihre Loge von den Plätzen der Familie Hawik trennte. Ausladender durfte die Mode nicht mehr werden, sonst würde sie nicht mehr durch den schmalen Gang passen.

Sie setzte sich auf einen der Konferenzstühle direkt an der Balustrade, obwohl sie bezweifelte, dass sie sich heute auf die Sitzung würde konzentrieren können. Maja hatte sie gestern Abend gleich in ein warmes Wannenbad gesteckt, während Davide Erik Drach über die Ereignisse informierte. Ihre alte Kinderfrau hatte sich geduldig Lilliths Schilderung angehört, vor allem die Geschichte von Peer und seiner Familie, die Lillith viel mehr bewegte als der Überfall im Elbtunnel. Überfälle passierten eben. Genau dafür hatte man seine Leibwächter.

Maja hatte ihr davon abgeraten, Lebensmittel und Energie nach Neugraben zu schicken. »Damit machst du die Nachbarn nur abgünstig und dann wird es für die Familie noch schwerer.«

»Und wenn ich allen etwas schicke?«

»Mit so’n paar Pfennig kannst du die Welt nicht ändern,

Lillith. Die Menschen da draußen kommen zurecht. Misch dich nicht ein.«

Lillith war sich nicht sicher, ob sie Majas Rat folgen würde. Der Blick der Kinder, als Titus das letzte Stück Brot aß … Sie verdrängte die Erinnerung und musterte die Männerlandschaft unter ihr. Die Senatorenbank war heute fast vollständig besetzt. Von den Mitgliedern der Bürgerschaft war dagegen nicht einmal jeder dritte gekommen. Eine Ignoranz dem hohen Haus gegenüber, die Davide regelmäßig in Rage brachte. »Wir tun alles, um dieses Land am Laufen zu halten und die anderen Familien besitzen nicht einmal so viel Anstand, uns dafür Anerkennung in Form ihrer Anwesenheit zu zollen.«

Sein Standardspruch auf fast jeder Fahrt zurück.

Was er dabei zu erwähnen vergaß: Der Einfluss der Familien, die nicht auf der Senatorenbank Platz nahmen, war, vorsichtig formuliert, gering. Auf dem Papier war Nordland ein demokratisch organisierter Staat mit klassischer Gewaltenteilung. De facto bestimmten allein die Senatoren die Geschicke des Landes.

Unten rief eine Glocke zur Sitzung. Die Männer unterbrachen ihre Gespräche und gingen zu den Plätzen: die Senatoren zu den aufwändig geschnitzten Stühlen auf dem Podium unter den hohen Fenstern, die Abgeordneten zu ihren Klappsesseln im Halbrund des Saals.

Lillith richtete ihre Aufmerksamkeit auf die gegenüberliegende Seite des Raumes. In den Logen verfolgten Vertreter der wichtigsten Familien Nordlands die Sitzung. Baldachine, Säulen und handgeschnitzte Brüstungen rahmten die üppig verzierten Ehrenplätze ein. Das darin sitzende Publikum lieferte das passende Interieur.

Ihr genau gegenüber verzog Otwin Rabe, der Sohn des Bürgermeisters, sein teigiges Gesicht und scheuchte einen seiner Angestellten fort, der ihn belästigt zu haben schien.

Im Hintergrund lauerte Joseph Foth, ein Angestellter aus dem Hause Drach und ein Mann, bei dessen Anblick es ihr jedes Mal kalt den Rücken herunterlief: der steife hohe Kragen seiner Uniform, das schüttere und trotzdem streng gescheitelte Haar und die halb zusammengekniffenen Augen, die nie einfach nur so über die Menschen hinwegschweiften. Lillith hoffte, dass sie niemals in den Fokus des Polizeichefs geriet.

In der Loge, die den Rängen am nächsten war, saß Bibi Kropp, die stets schwarz gekleidete und schlecht gelaunte Ehefrau von Handelssenator Jay Kropp. Meistens war sie neben Lillith die einzige Frau in diesem ganzen Theater. Gegrüßt hatten sie sich hier noch nie.

Während unten auf der Senatsbank Bürgermeister Rabe zu seiner Begrüßung ansetzte, gab es auf den Rängen, wo sich die Vertreter der unteren Führungsebenen Nordlands versammelten, Geschiebe und Gedränge. Ein athletischer Mann, dessen graues Haar in krassem Widerspruch zu seinem fast jungenhaften Gesicht stand, drängelte sich nach vorne, vorbei an dem Saaldiener, der vergeblich versuchte, ihn wieder nach hinten zu komplimentieren. Lillith schüttelte missbilligend den Kopf: Fritjof von Eschenburg. Eine Naturgewalt – und ihr bester Freund.

»Hallo, meine Hübsche«, las sie im selben Moment auf ihrer Kontaktlinse. »Das rubinrot korrespondiert außerordentlich gut mit deinen dunklen Haaren.« Lillith drückte auf ihr Vidja-Armband, aber bevor sie antworten konnte, erhoben sich alle. Sie hörte Rabe sagen: »Bitte erweisen Sie unserem ehemaligen Bürgerschaftspräsidenten mit einer Schweigeminute Ihren Respekt.«

Lillith stand auf und strich die Röcke glatt. Die Sache mit Willem Duhnkreih hatte sie nach den Ereignissen gestern schon fast vergessen. Aber die Schuldgefühle waren sofort wieder da. Was, wenn … ? Sie nahm die Schultern zurück und machte sich gerade. Nein. Sie hatte sich nicht getäuscht.

»Einen Penny für deine Gedanken«, erschien auf ihrer Kontaktlinse.

Fritjof. Er konnte keine Schweigeminute lang den Mund halten. Dankbar für die Ablenkung antwortete Lillith mit schnellen Augenbewegungen.

»So billig sind die nicht zu haben. Einen halben Penny für deine!«

»Schon mal überlegt, dir den Chip für die Vidja implantieren zu lassen?«

»Damit du deinen Penny sparst?«

»Dann könnte ich jetzt live und in Farbe sehen, was gestern im Elbtunnel passiert ist und du müsstest nicht die nächste halbe Stunde nach den passenden Buchstaben suchen. Das würde enorm Zeit sparen.«

»So weit kommt das noch, dass ich dir Zugriff auf mein Gehirn gebe. Meine Gedanken sind frei und sollen es auch bleiben!«

»Sei doch nicht so technikfeindlich!«

»Das ist nicht technikfeindlich, das ist realistisch. Außerdem finde ich das aktuelle Modell mit Kontaktlinse, Ohrstecker und Armreif schon cyborgig genug.«

»Kontaktlinse, Ohrstecker und Manschettenknöpfe, meine Liebe. Dein Armreif ist eine Sonderanfertigung; möchte gar nicht wissen, wie viel dein Vater dafür hinblättern musste. Hat natürlich den Vorteil, dass du die Vidja nicht so schnell verlierst. Du ahnst gar nicht, wie oft ich nachts aufwache und denke, dass ich meine Manschettenknöpfe verlegt habe. Ein implantierter Chip könnte mir endlich wieder ruhige Nächte schenken.«

»Allein deshalb würdest du der Technik erlauben, deine Gedanken ins große Vidjanetz zu schicken?«

»Das sind doch nur die von mir freigegebenen Gedanken, die ich auf die Reise schicke. Außerdem: Wen interessieren schon meine Gedanken?«

»Solange sie nicht zu unverschämt sind: mich!«

»Dabei sollten dich vor allem die unverschämten interessieren.«

Lillith schaute zum Rang hinüber. Fritjof strahlte sie an, sein Lächeln reichte fast von einem Ohr zum anderen, dann zeigte er nach vorne und twinkerte: »Es geht weiter.« Sie hob und faltete den Reifrock so, dass die ausgefeilte Mechanik die Stäbe an den passenden Stellen knickte und den Rest so hinbog, dass sie auf den schmalen Konferenzstühlen Platz fand.

»Vielen Dank.« Bürgermeister Rabe räusperte sich. »Kommen wir also zu Tagesordnungspunkt 1: Vereidigungen. Wir beginnen mit unserem neuen Senator für Heimatschutz: Erik Drach.«

Lillith war dem Erben von Alexander Drach bisher nicht persönlich begegnet, abgesehen von dem kurzen Überflug gestern. Der alte Drach hatte ihn vor über zehn Jahren nach Russland geschickt, wo Erik sich angeblich um neue Geschäftsfelder kümmern sollte. Gerüchten zufolge, war Russland der letzte Versuch gewesen, Vernunft in den Schädel von Drach Junior zu hämmern. Offenbar erfolglos. Zur Beerdigung war Erik nicht erschienen. Ein Affront, über den sich die versammelte Oberschicht Nordlands noch Tage später das Maul zerrissen hatte.

Erik Drach also. Zurück aus Russland. Mit schnellen Schritten hatte er seinen Platz auf dem Podium verlassen und stand nun am Rednerpult, das neben ihm wie ein Kinderspielzeug wirkte. Er hielt sich extrem gerade, was ihn noch größer erscheinen ließ. Der gutgeschnittene Anzug kaschierte das breite Kreuz, aber Lillith war sich sicher, dass dieser Mann ähnlich definierte Muskeln hatte wie ihre Leibwächter. Die Haare waren kurz geschoren, harte Linien um Mund und Nase ließen auf Entschlossenheit und Unnachgiebigkeit schließen. Ein kantiges Gesicht, an dem man sich blaue Flecken holen würde, wenn man ihm zu nahe käme. Drach ließ seinen Blick über die Abgeordneten vor sich wandern. Soviel Selbstvertrauen strahlte nicht einmal ihr Vater aus. Ein General, der seine Truppen begutachtete.

»Das ist doch mal ein Kerl«, las sie. »Wäre der nicht was für dich?« Fritjof wieder.

Sie erwiderte sein Lächeln, bevor sie eine Antwort twinkerte. »Ach Fritjof, du weißt doch, wenn ich jemanden aus Nordland heiraten dürfte, käme nur einer in Frage.«

»Diesen Heiratsantrag werde ich speichern und dir bei entsprechender Gelegenheit unter die Nase halten.«

»Wer sagt denn, dass du der eine bist? Ich dachte eher an … Ehrenreich Benz?«

Ein lautes Prusten kam von den Rängen. Die Saaldiener und selbst Bürgermeister Rabe blickten tadelnd in Fritjofs Richtung.

Bürgermeister Rabe stand neben Drach und hielt in seiner von Altersflecken übersäten Hand eine Bibel. Für einen Moment schien er nicht zu wissen, was er als nächstes tun sollte, dann nickte er. Vermutlich hatte ihm ein Assistent über die Vidja die fehlende Information zukommen lassen.

»Erik Drach, bitte sprich mir nach.«

Lillith kannte den Amtseid auswendig. Davide zitierte ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Vermutlich, weil er ihn sich ausgedacht hatte.

»Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle Nordlands widme, seinen wirtschaftlichen Erfolg mehre und alles unterlasse, was den Geschäften Schaden zufügen könnte. Ich akzeptiere, dass kein Senator dem anderen übergeordnet ist. Ich respektiere den Pakt und werde das Leben der Elite und ihrer Angehörigen achten wie mein eigenes. Das schwöre ich, so wahr mir Gott helfe.« Drach nahm die Hand von der Bibel und ohne äußere Regung den Applaus entgegen.

»Danke, Erik.« Der Bürgermeister räusperte sich und blätterte durch die heilige Schrift, als würde er darin sein Redemanuskript vermuten. »Dann kommt jetzt also die Vereidigung von …« Er räusperte sich ein weiteres Mal und setzte neu an. »Nein, wir müssen ja erst wählen. Ich bitte Lüntje Petersen nach vorne, den einzigen Kandidaten für das Amt des Bürgerschaftspräsidenten.«

Auf dem Rang gab es kräftigen Applaus, als ein älterer Herr mit vollem weißem Haar und einem enormen Schnauzbart nach vorne ging. Endlich hatte es einer aus der zweiten Reihe nach oben geschafft. Na ja, fast. Die Position des Bürgerschaftspräsidenten lag zwischen der eines Senators und der eines Parlamentariers. Aber mit Petersen wurde sie nun von einem Mann besetzt, der nicht zur Gründungsmannschaft von Nordland gehörte. Die offizielle Wahl durch die Abgeordneten der Bürgerschaft war reine Formsache und inklusive Amtseid innerhalb von zwei Minuten erledigt.

Lüntje Petersen übernahm die Sitzungsleitung mit einer Souveränität, als hätte er nie etwas anderes getan. Lillith suchte in ihrer Vidja nach Hintergrundinformationen und fand lange Abschnitte über ihn und seine Familie in der Hamburger Genealogie. Ganz alter Hamburger Pfeffersackadel. Während der Umbruchjahre nicht schnell genug dabei, sich die wirklich wichtigen Ressourcen zu sichern. Aber seit der Gründung Nordlands stetig nach oben strebend. Er schien einer der logischen Kandidaten zu sein. Und hatte sich dabei so lange im Hintergrund gehalten, dass keiner der Senatoren, die inoffiziell diese Besetzung aushandelten, sich von ihm bedroht fühlte.

Das würde Fritjof noch lernen müssen, wollte er wirklich jemals einen wichtigen Posten übernehmen: Das politische System in Nordland vertrug keinen überehrgeizigen Einzelgänger. »Kein Senator ist dem anderen übergeordnet.« Selbst der Bürgermeister hatte nicht mehr Rechte als die acht ihm zur Seite stehenden Senatoren. Sie waren ein gleichberechtigtes Team, jeder zuständig für den Bereich, in dem er sich am besten auskannte.

Erik Drach, seit dem Tod seines Vaters Alleinaktionär der Sihhuri AG, war Experte für alles, was mit Sicherheit und Überwachung, Polizei und Grenzschutz zu tun hatte. Und erster Redner beim Tagesordnungspunkt »Aktuelles«.

»Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Senatoren, geehrte Abgeordnete.« Drach machte eine Pause und wartete, bis er die Aufmerksamkeit des gesamten Plenums hatte. »Ich bin erschüttert über die Lage in Nordland. Mord und Totschlag sind an der Tagesordnung, fast täglich gibt es neue Überfälle und Entführungen, Diebstähle und Einbrüche.«

Aus dem Plenum kamen zustimmende Kommentare. Lillith schüttelte den Kopf. So extrem wie Drach die Situation schilderte, war sie wirklich nicht. Sie hätten gestern nicht in den Tunnel hineinfahren dürfen, als ihnen klar wurde, dass es eine Störung beim Tor gegeben hatte. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass die Verbrecher die Stadt tyrannisierten.

»In Russland weiß das Gesindel, wo es hingehört«, fuhr Drach fort. »Niemand muss Angst davor haben, bei einem abendlichen Spaziergang überfallen zu werden. Egal ob in Moskau oder in

St. Petersburg, ob in Riga oder in Kiew – die Straßen sind sicher. Es wird Zeit, dass sie auch in Nordland wieder sicher werden.«

Der Applaus der Abgeordneten war deutlich.

»Eine gute Nachricht vorab: Der Mörder unseres allseits geschätzten Bürgerschaftspräsidenten Duhnkreih wird kein weiteres Mal morden.« Drach machte eine Pause und ließ seinen Blick über die Männer vor ihm schweifen. Selten hatte ein Redner so viel Aufmerksamkeit.

»Joseph Foth und seine Leute haben Duhnkreihs Mörder dank unserer hervorragenden Überwachungssysteme kurz nach der Tat festgenommen.« Erik blickte hoch zum Geheimdienstchef, der das Lob ungerührt entgegennahm. »Der Angeklagte ist geständig, ihm wurde gestern der Prozess gemacht. Der ehrenwerte Richter Professor Doktor Georg Dauve hat ihn der Gesetzeslage entsprechend zum Tode verurteilt. Der Verteidiger hat auf weitere Rechtsmittel verzichtet. Freitag, fünfzehnhundert, findet die Hinrichtung auf dem Rathausmarkt statt.«

Die Männer unten im Saal raunten, steckten die Köpfe zusammen, kommentierten den schnellen Fahndungserfolg und den noch viel schnelleren Prozess. Die allgemeine Verwunderung war nicht nur für Lillith deutlich zu greifen.

»Blufft Drach?«, fragte ihr Vater per Vidja. Er schien am schnellen Fahndungserfolg zu zweifeln. Oder er gönnte ihm nicht diesen sensationell guten ersten Auftritt. Lillith ließ Eriks Emotionen auf sich wirken: Der neue Senator für Heimatschutz legte eine kalte Selbstzufriedenheit an den Tag. Er schaute von seinem Rednerpult aus auf den Tumult, den er ausgelöst hatte, und war mit sich und der Welt im Reinen. Kein Anzeichen für eine Lüge, nichts, was auf einen Bluff hindeutete. Amüsement umspielte seine Lippen, als er die Parlamentarier im Halbrund vor sich betrachtete. Er drehte sich zu den Senatoren um und Lillith fühlte seine Genugtuung, als er registrierte, dass auch die wichtigsten Männer Nordlands von seiner Nachricht überrascht worden waren.

»Sieht nicht so aus«, schrieb sie zurück.

Drach rekapitulierte die letzten Minuten im Leben von Willem Duhnkreih. Mit einer Wischbewegung aktivierte er die stationäre Vidja auf dem Rednerpult. Das Licht wurde automatisch gedimmt, gleich neben dem Pult baute sich eine virtuelle Realität auf: Am oberen Bildrand sah Lillith ein Schild: »Sternschanze«. Die Daten waren einer Nachtsichtkamera entnommen worden; an der alten S-Bahn-Station musste eine aus der neuesten Generation hängen. Das Bild war gestochen scharf, alle Beteiligten waren deutlich zu erkennen.

»Wie hat er es geschafft, die Polizei so schnell ans Arbeiten zu kriegen?«, twinkerte Lillith an Fritjof. »Normalerweise brauchen die Wochen, bis sie alle Daten ausgewertet haben.«

»Russische Schule?«

»Oder Werbung in eigener Sache? Damit auch der letzte Nordländer endlich die Sihhuri-Analysesoftware auf seine Vidja spielt?« Wäre ihr Vater an Eriks Stelle, hätte er sich diese Marketing-Gelegenheit ebenfalls nicht entgehen lassen.

Auf dem Boden lag Willem Duhnkreih, die massige Gestalt seltsam verdreht, fast nackt und übel zugerichtet. Neben ihm knieten zwei Männer, einer ganz in schwarz, die Kapuze seines Pullovers tief ins Gesicht gezogen, der andere in einem von Flicken übersäten, dunklen Mantel. Duhnkreih lebte noch. Er spuckte Blut. Ein tiefer, rasselnder Atemzug – und dann Stille. »Das war’s«, sagte der Mann in dem Mantel und säuberte in einer Pfütze seine Hände. Die Kamera zeigte ein altes Gesicht, von tiefen Linien durchzogen, keine der typischen Schläger-Visagen. Aber was bedeutete das schon?

Sein Begleiter stand bereits und half ihm auf die Beine. »Beeil dich, ja? Wir müssen abhauen, bevor die Bullen kommen.« Eine sehr tiefe und eindeutig junge Stimme. Auf Lilliths Armen bildete sich Gänsehaut. Der Alte blieb noch einen Moment stehen, bevor er dem Jüngeren ins Dunkel folgte.

»Wir haben Willem Duhnkreihs Mörder in derselben Nacht ausfindig gemacht.« Erik Drach stand selbstgefällig und ein bisschen gelangweilt am Rednerpult, als er ein Foto des älteren Mannes präsentierte: »Joris Thorn. Er ist für die Bewohner des Viertels eine Art Arzt, war aber nie in Nordland approbiert. Mit anderen Worten: ein Quacksalber, der mit selbst gemachten Tinkturen und Wundermitteln seine Nachbarn über den Tisch zieht. Er hat den Mord gestanden und alle Schuld auf sich genommen. Seinen Angaben zufolge ist der zweite Mann, dieser Kapuzenträger, erst dazu gekommen, als Willem schon tot war, was, wie Sie gerade sehen konnten, völliger Unsinn ist.« Drach rief ein Bild auf, das eher eine Karikatur als ein echtes Fahndungsbild war. »Leider hat unsere Datenbank kein Profil, das mit diesem übereinstimmt. Wir haben sein Stimmprofil bereits an alle sozialen Einrichtungen, Polizeistellen und Überwachungsorgane weitergegeben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir zu der Stimme ein Gesicht haben – und damit den Mann.«

Davide meldete sich zu Wort: »Meinen Glückwunsch, lieber Erik, für diesen sagenhaft schnellen Fahndungserfolg. Nur der Vollständigkeit halber: Gibt es Bilder, die den Mord zeigen? Auf denen man sieht, wie Willem totgeschlagen wurde?«

Lillith spürte Davides Nervosität. Aber auch Drach fühlte sich unwohl. Sie gab ihren Eindruck an Davide weiter.

»Die Überwachungskameras scheinen vor der Tat manipuliert worden zu sein«, sagte Drach. »Die Tat selbst wurde nicht gefilmt. Aber die Indizien sind eindeutig und der Mann ist geständig.«

»Gibt es von Foths Verhör einen Mitschnitt?« Worauf wollte ihr Vater hinaus? An seiner Stelle würde sie das Ganze auf sich beruhen lassen, froh darüber, dass einer die Drecksarbeit erledigt hatte.

»Nein. Ist das in Nordland so üblich? Wenn dem so ist, werde ich künftig natürlich jedes Verhör für dich aufzeichnen.«

»Nicht nötig. Ich möchte nur, dass du dir darüber im Klaren bist, dass Nordland ein Rechtsstaat ist und dass jeder Angeklagte einen fairen Prozess verdient.«

»Wir haben hier doch kein Problem mit dem Rechtsstaat«, rief Drach und drehte sich den Parlamentariern zu. »Wir haben ein Problem mit der inneren Sicherheit!«

Die Männer unten im Saal murmelten ihre Zustimmung.

Finanzsenator Liborius Oppermann schaltete sich ein. »Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, lieber Erik?«

Drach nickte huldvoll in Oppermanns Richtung. Der neue Senator für Heimatschutz wusste noch nicht, welcher Granit sich unter dem Samtmantel von Oppermanns Höflichkeit befand.

»Ich würde es begrüßen, wenn du als erstes die Kameras auf den neuesten, nicht manipulierbaren Stand bringen könntest. Wenn ich mich richtig entsinne, haben wir dafür im vergangenen Jahr ein Budget in Höhe von 32,5 Millionen Nordmark zur Verfügung gestellt«, sagte Oppermann. »Dein Vater scheint dieses Geld anderweitig verwendet zu haben.«

Drach war völlig ungerührt von Oppermanns Tadel. »Das wird eine der ersten Maßnahmen sein, Liborius. Meine Analysesoftware nützt nichts, wenn es kein Quellenmaterial gibt. Punkt eins. Punkt zwei: Angesichts der steigenden Zahl der Verbrechen brauchen wir mehr Polizei. Jeder von uns sollte überlegen, wie viel er dazu beitragen kann. Ich werde das Kontingent unseres Hauses verdoppeln.«

Erstaunlich wie schnell Drach die Gesprächsführung wieder an sich riss, obwohl er gerade einen dicken Fehler hatte zugeben müssen. Lillith war von so viel Selbstbewusstsein beeindruckt, auch wenn sie wusste, dass Drach die Verdopplung des Kontingents nie durchsetzen würde.

Liborius Oppermann meldete sich erneut zu Wort. »Mein lieber Erik«, fing er versöhnlich an, »ich weiß es zu schätzen, dass dir die Sicherheit am Herzen liegt. Aber wenn du deinen Anteil erhöhst, müssen wir anderen nachziehen, damit das Gleichgewicht unseres Paktes gewahrt bleibt. Eine Verdopplung der Zahl der Sicherheitskräfte halte ich für übertrieben.« Oppermann nahm Blickkontakt zu seinen Senatorenkollegen auf. Davide Civetta und Bürgermeister Rabe nickten zustimmend. »Jeder von uns weiß, dass er nicht ohne Leibwächter durch die ärmeren Viertel der Stadt fahren sollte. Wir sind kein Polizeistaat und ich würde es begrüßen, wenn es so bleibt.«

»Aber es geht doch hier nicht nur um deine persönliche Sicherheit, Liborius«, mischte sich Landwirtschaftssenator Meik Hawik ein. »Ich hätte nichts gegen eine Aufstockung des Etats. In der Fläche habe ich enorme Probleme, den Plünderern Einhalt zu gebieten.« Sein Doppelkinn schwappte fast über. »Angesichts der chaotischen Verhältnisse in Westfalen ist die Zahl der Flüchtlinge dramatisch gestiegen«, fuhr Hawik fort. Er beugte seinen mächtigen Oberkörper über den Tisch. »Meine Drohnen fliegen 24 Stunden am Tag, aber sie können nicht überall sein. Ich schlage deshalb vor«, Hawiks Stimme war inzwischen eine halbe Oktave nach oben gewandert, »dass wir den Etat für Sicherheit um 50 Prozent erhöhen, um unsere Grenzen endlich vernünftig zu sichern. Das Geld dafür können wir an anderer Stelle einsparen, zum Beispiel bei unserer Jubiläumsfeier.«

»Wann lernst du endlich den Unterschied zwischen einmaligen und ständigen Ausgaben, Meik?« Davide verzog spöttisch den Mund. »Aber davon abgesehen: Wenn wir an dem Fest sparen, zeigen wir unseren Gästen, dass wir Probleme haben. Und das könnte enorme wirtschaftliche Folgen haben.« Er machte eine kurze Pause und verkündete dann in seinem besten Ich-beschließe-Ton: »Das Fest zum 25-jährigen Bestehen von Nordland werden wir im großen Stil feiern. Und wenn es das Letzte ist, was wir tun.«

Erik setzte zum Protest an, aber Davide unterbrach ihn gleich wieder. »Das soll nicht heißen, dass ich deinen Finanzbedarf nicht sehe, Erik.« Er wandte sich an den Mann ganz am Ende des Podiums. »Senator Benz, könnten wir nicht ein paar Positionen aus dem Bereich Bildung in den Bereich Sicherheit umschichten?«

»Ging es nicht eben noch um den Tod von Willem Duhnkreih?«, twinkerte Lillith an Fritjof. »Die sind aber schnell wieder beim Etat gelandet.«

Fritjof schickte das Bild eines großen Geldsacks zurück und titelte: »Dinge, die im Leben wirklich zählen.«

»Herr Vorsitzender«, Ehrenreich Benz setzte zum Protest an, wurde aber von Hawik übertönt. »Eine ausgezeichnete Idee, Davide, ausnahmsweise mal eine ganz hervorragende Idee.« Benz sackte auf seinem Senatorenstuhl in sich zusammen, ein kleines Männchen inmitten einer Horde von Alphatieren.

Lillith verzog verächtlich den Mund. »Behaupte noch einmal, dass das Vererben von Ämtern eine sinnvolle Sache ist, Fritjof.«

»Benz kann nichts dafür, dass sein Etat neben dem von Drach der einzige Gemeinschaftsposten ist. Logisch, dass sich alle auf ihn stürzen, wenn Drach mehr Geld will. Sein Alter hätte sich genauso wenig wehren können.«

»Schwachsinnssystem.«

»Funktioniert seit 25 Jahren. Und ganz ehrlich: Unsere Angestellten müssen lesen können, schreiben, ein bisschen rechnen. Für diese Minimal-Anforderungen hat Benz eine Menge Geld zur Verfügung. Wenn ihm das nicht reicht, muss er eben privat ein paar Millionen dazu tun. Mit dem Vidja-Netz verdient er schließlich mehr als genug.«

»Dann steht also folgende Maßnahme zur Abstimmung«, beendete Petersen die Debatte ums Geld. »Aus dem Bereich Bildung werden einmalig 15 Millionen Nordmark in den Bereich Heimatschutz umgeschichtet. Sollte sich weiterer Finanzbedarf ergeben, wird Senator Drach für unsere Haushaltssitzung im November einen entsprechenden Antrag stellen, in dem er die einzelnen Positionen genauer erläutert. Wer diesem Vorgehen zustimmt, hebe bitte die Hand.«

Alle Abgeordneten stimmten zu. Ehrenreich Benz hatte – anders als die anderen Senatoren – keine Hausmacht im Parlament.

»Herr Vorsitzender, wenn ich …« Ehrenreich Benz versuchte mit knödeliger Stimme den Bürgerschaftspräsidenten auf sich aufmerksam zu machen. »Ich, ähm, hätte noch eine Frage zu dem Mord an Willem Duhnkreih, wenn ich diese vielleicht, wenn es noch passt, also eben schnell noch stellen dürfte?«

Petersen nickte.

»Auch mich hat Willems Tod tief, ähm, getroffen«, fuhr Benz leise fort. »Aber irgendwie finde ich Todesstrafen, wie soll ich sagen, nun, irgendwie sind die ganz schön barbarisch. Vielleicht könnte man das Urteil ja noch in eine lebenslange Haftstrafe umwandeln, oder so? Gerade so kurz vor unserem großen Fest?«

Erik Drach beantwortete Benz’ Frage mit der gleichen Souveränität, mit der er zuvor alle anderen Anmerkungen aus der Welt gewischt hatte. »Mord an einem von uns wird immer mit der Todesstrafe geahndet. Keine Ausnahme.«

»Aber …?«

»Der Mann hat gestanden, was wollen Sie noch, Senator Benz?« Drach wurde ungeduldig.

Ehrenreich Benz öffnete den Mund, besann sich dann anders und senkte den Kopf. Das letzte bisschen Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.

Lillith konnte Benz’ tiefe Trauer spüren, zum ersten Mal heute, dass überhaupt jemand trauerte. Sie twinkerte diese Beobachtung an ihren Vater. Willem Duhnkreih musste ein enger Freund von Benz gewesen sein. Das komplexe Beziehungsgeflecht der Männer Nordlands überraschte sie immer wieder. Es war ein undurchschaubares und lebendiges Netz aus Verbindungen und Verbindlichkeiten, Gefallen und Gefälligkeiten. Sie bezweifelte, dass außer Joseph Foth, der alten Spinne, irgendeiner alle Details dieses Netzes kannte. Aber bisher hatte sie immer gedacht, dass Benz außen vor stand. Niemand, so ihr Informationsstand, wollte gerne mit dem alten Kauz zusammen gesehen werden.

Drach stand immer noch am Rednerpult. »Vielen Dank, Senator Benz, vielen Dank, werte Abgeordnete. Ich weiß Ihre Unterstützung zu schätzen.« Immerhin wusste er, was sich gehörte. »Um die Ausgaben trotz der steigenden Gewalt im Griff zu behalten, habe ich einen Plan entwickelt, den ich Ihnen gerne vorstellen möchte.«

Petersens Ungeduld zeigte sich nicht auf seinem Gesicht, aber Lillith konnte sie deutlich fühlen. Auch der neue Bürgerschaftspräsident hatte offensichtlich wichtigere Dinge zu tun, als lange Sitzungen zu leiten.

»Bitte, Senator Drach«, erteilte er ihm ein weiteres Mal das Wort, »aber Sie wissen, dass die Redezeit für Themen der aktuellen Stunde auf fünf Minuten begrenzt ist?«

»Ich werde Ihre Zeit nicht mehr lange in Anspruch nehmen.« Drach projizierte eine Karte von Hamburg an die weiße Wand hinter den Senatoren. Grün waren die Viertel, in denen die reichen Familien der Stadt ihre Anwesen hatten, hellgrün die Gemeinschaftsanlagen der kleinen Mittelschicht Nordlands. Ungleichmäßig in dem Grün verteilt waren zahlreiche rote Flecken, die sich vor allem in den ehemaligen Innenstadtvierteln

St. Pauli, Altona, Eimsbüttel, St. Georg, Hamm und Barmbek zu größeren roten Flächen vereinten.

»Wie Sie auf dieser Karte sehen, ist Hamburg ein Flickenteppich. Wer von der Alster an die Elbe möchte, muss durch ein Armenviertel. Wer von Poppenbüttel aus die Autobahn nutzen möchte, muss durch ein Armenviertel. Sogar die wöchentlichen Sitzungen hier im Rathaus sind für die meisten Abgeordneten nicht erreichbar, ohne dass sie durch ein Armenviertel fahren müssen.«

»Das war schon immer so, Erik«, rief Davide dazwischen. »Wir kommen damit klar.«

Erik kniff die Augen leicht zusammen, Lillith spürte seinen Ärger über die Unterbrechung. »Ich möchte aus diesem Flickenteppich, den ihr euch in der Umbruchzeit zusammengeschustert habt, eine schöne und vor allem sichere Stadt machen, in der sich alle gesetzestreuen Bürger ohne Angst bewegen können. Eine Stadt, in der wir ohne Leibwächter unterwegs sein können.«

»Wie soll das gehen?« Davide war ebenfalls verärgert. Neue Pläne stellte man nicht einfach so der Bürgerschaft vor, die besprach man vorher mit den Senatoren. Der junge Drach würde noch eine Menge lernen müssen, wenn er in Nordland etwas durchsetzen wollte. »Das Gebiet umfasst die halbe Stadt. Dort wohnen überall Menschen. Die kannst du nicht einfach vertreiben.«

»Wie habt ihr das denn vor 25 Jahren gemacht?«

Davide presste die Lippen zusammen.

»Das waren andere Zeiten, Erik«, mischte sich Liborius Oppermann ein. »Heute sind wir darauf angewiesen, dass uns das Ausland, und hier meine ich vor allem die Skandinavische Union, als demokratisch legitimierten, Völker- und Menschenrechte achtenden Handelspartner anerkennt.«

»Dessen bin ich mir bewusst.« Erik drehte sich wieder zu den Abgeordneten. »Ich beabsichtige, die Menschen davon zu überzeugen, ihre Häuser und Grundstücke freiwillig zu verlassen.« Eriks Lippen kräuselten sich. »So freiwillig, wie das eben geht.« Er warf die nächste Karte an die Wand. Der gesamte innere Bereich Hamburgs war grün eingefärbt. Dafür gab es am östlichen Rand einen großen roten Fleck.

»Dieser Bereich hier am Rande der Vierlande ist, wie mir Senator Hawik versichert hat, unbewohnte Brachfläche. Hier könnten wir ein Neubauviertel schaffen, das wir an Wasser, Strom, Gas, Datenübertragung und Sicherheit anschließen. Alles Dinge, die die Menschen in den Armenvierteln derzeit nicht haben. Ich bin sicher, dieser Komfort wird auch den letzten Einwohner

St. Paulis davon überzeugen, uns seine Abbruchbude zu überlassen. Meine Modellrechnungen zeigen, dass sich das alles ohne Probleme finanzieren lässt.«

»Diese Rechnungen würde ich gerne sehen.« Davide beugte sich vor und nahm Blickkontakt zu seinen Senatorenkollegen links und rechts von ihm auf. »Für mich sieht es eher danach aus, dass wir alle viel Geld in die Hand nehmen müssen, um dir deine Arbeit zu erleichtern. Da beschäftige ich lieber einige Leibwächter mehr.«

Erik drehte sich ebenfalls zu den Senatoren. »Kurzfristig werden wir alle etwas Geld in die Hand nehmen müssen, um die Quartiere zu bauen, das ist korrekt.« Er schob sein Kinn vor. »Die langfristige Rendite wird gewaltig sein. Allein die Wertsteigerung der Grundstücke zwischen Alster und Elbe könnte das Projekt finanzieren. Außerdem beabsichtige ich, die umzusiedelnden Menschen an den Investitionen zu beteiligen. Die Menschen werden Kredite aufnehmen, sie werden sich bezahlte Arbeit suchen, um sich dieses neue Viertel leisten zu können. Sie werden nicht länger auf unseren Straßen herumlungern. Das ganze Land wird davon profitieren.«

Petersen läutete mit der Glocke. »Danke für die Vorstellung deiner Pläne, Erik. Gibt es weitere Wortmeldungen zum Tagesordnungspunkt ›Aktuelles‹?«

»Wir müssen noch über den zerstörten Elbtunnel sprechen«, sagte Bürgermeister Rabe und klang dabei, als würde er etwas ablesen. »Und darüber, ob wir künftig wieder die zentralen Elbbrücken nutzen dürfen.«

Alle sahen zu Ehrenreich Benz. Ihm gehörte der gesamte ehemalige Innenstadtbereich und damit auch die Elbbrücken. Bislang hatte er sich geweigert, die Überfahrt über sein Gelände für den allgemeinen Verkehr freizugeben.

»Nein.«

Die anderen Senatoren tuschelten, die Verärgerung über Benz’ Sturheit war deutlich zu spüren. Aber sie konnten nichts tun.

Kein Senator ist dem anderen übergeordnet.

Petersen rief den nächsten Tagesordnungspunkt auf. Handelssenator Kropp ging ans Rednerpult, schob seine große, schwarzgerahmte Brille den Nasenrücken hoch und begann mit der aktuellen Leistungsbilanz – ein Thema, das niemanden interessierte. Nicht mal ihn selbst. Senatoren und Parlamentarier beschäftigten sich unterdessen mit ihren Geschäften. Ein ungeübter Beobachter könnte glauben, sie würden Kropp zuhören. Tatsächlich schauten sie über ihn hinweg auf die weißen Wände zwischen den Fenstern. Ihre Augen bewegten sich in unregelmäßigem Rhythmus von links nach rechts, von oben nach unten und wieder nach oben. Alle waren in ihre Vidjas vertieft, die kleinen indischen Alleskönner. Die Weisheit der Welt war dank der neuesten Modelle nur einen Wimpernschlag entfernt.

Auch Lillith bekam eine neue Nachricht auf ihre Kontaktlinse geschickt.

»Wie praktisch, dass die Kameras ausgefallen sind, bevor Duhnkreih etwas über seine wahren Mörder sagen konnte.«

Natürlich! Deshalb hatte Davide wissen wollen, ob es Aufzeichnungen vom Mord selbst gab.

Und dann erstarrte sie. Wer konnte wissen, dass sie etwas damit zu tun hatte? Die Nachricht hatte keinen Absender.

Lilliths erster Blick ging zu Polizeichef Joseph Foth in der Loge gegenüber. Aber der beachtete sie nicht. Die Senatoren? Die Gefühlslandschaft, die sich vor ihr ausbreitete, war geprägt von Langeweile, Müdigkeit, Desinteresse. Niemand schaute zu ihr hoch. Die Parlamentarier? Das gleiche Bild.

Ihr Vater berichtete von seinem jüngsten Coup, der Einigung mit Neu-Preußen über den Export von Windgas. Gesundheitssenator Quirin Krawinkel stellte seine Pläne für ein neues Schönheitszentrum vor und fing mit Landwirtschaftssenator Hawik wegen irgendwelcher Wasserprobleme zu streiten an. Anscheinend waren die Leitungen so verrostet, dass die weißen Handtücher in Krawinkels Gesundheitsfarmen nach der Wäsche eher rot als weiß waren. Lillith folgte dem Streit nicht. Sie war damit beschäftigt herauszufinden, von wem die Nachricht stammte. Aber weder in der Männerlandschaft unter ihr noch in den Logen ihr gegenüber entdeckte sie jemanden, der auf eine Reaktion von ihr wartete.

Nur Titus, der Assistent ihres Vaters, sah zu ihr hinüber und blickte dabei unanständig lange auf ihr Dekolleté.

Davide saß bereits zu Tisch, als Lillith am nächsten Tag den Kleinen Speisesaal im ersten Stock betrat. Bei schönem Wetter konnte man von hier aus die Alster und die alten Kirchtürme sehen. Im Moment prasselte der Regen an die bogenförmigen Fenster.

»Hast du herausgefunden, von wem die Nachricht auf meiner Vidja kam?«, fragte sie.

Davide schüttelte nur den Kopf. Er war in einen Bericht vertieft, den seine Vidja auf die Glasoberfläche des Esstisches projiziert hatte.

»Beunruhigt dich das nicht?«

»Doch, durchaus. Aber um mehr herauszufinden, müsste ich Erik um Unterstützung bitten – was ich gerne vermeiden möchte.« Mit einem entschiedenen Fingertippen schloss ihr Vater den Bericht. »Wir müssen abwarten, ob noch mehr kommt. Vielleicht war es ja auch nur ein Schuss ins Blaue.«

»Was ist mit Titus?«

Davide schaute zur Zimmerdecke hoch. »Ich weiß, dass du ihn nicht magst. Aber er war überhaupt nicht im Haus. Ich war komplett allein im Überwachungsraum. Außerdem: Was hätte er davon?«

Darauf hatte Lillith keine Antwort. Ihr Vater hatte ja recht: Warum sollte Titus die Hand beißen, die ihn fütterte? Für jemanden wie ihn, der aus ärmlichen Verhältnissen kam, weder Besitz noch Verbindungen hatte und sich mit viel Fleiß in seine jetzige Position gearbeitet hatte, war die Anstellung bei den Civettas das Beste, was ihm in seinem Leben passieren konnte. Mehr ging nicht.

Es klopfte und ein hübsches, schwarzhaariges Mädchen kam mit dem Mittagessen hinein. »Desiolerate ancora qualcosa?«, fragte das Hausmädchen in akzentfreiem Italienisch.

»No, grazie«, sagte Davide, tippte auf den Tisch und projizierte eine Liste mit Namen an die Wand. Lillith beachtete sie nicht weiter. Über Geschäftliches würden sie nach dem Essen sprechen.

Sobald das Mädchen aus der Tür war, fragte Lillith: »Padanische Verwandtschaft?«

Davide lächelte schmallippig. »Federica ist die Tochter eines entfernten Cousins.«

»Was ist passiert?«

Davide legte die Fingerspitzen zusammen. »Er ist vor Kurzem gestorben. Federica war sein einziges Kind, unverheiratet. Sein Vermögen war fort, bevor er unter der Erde war.«

Lillith schüttelte den Kopf. »Ich begreife nicht, dass sie sich das gefallen lässt.«

Ihr Vater sah sie mit einer Mischung aus Ungeduld und Unverständnis an. »Was hätte sie tun sollen? Vertreter der ’Ndrangheta haben dem Mädchen Verträge unter die Nase gehalten und behauptet, ihr Vater habe ihnen kurz vor seinem Tod alles überschrieben. Sie wird in ganz Padanien keinen Anwalt finden, der ihr hilft, diese Schriftstücke anzufechten.«

Er nahm die Cloches von den Essensschüsseln. Heißer Dampf entwich. Die Küche hatte Steaks von japanischem Koberind vorbereitet. Dazu Süßkartoffeln und Paprika-Zucchini-Gemüse, frisch aus den Gewächshäusern am Rande der Stadt.

»Damit dir nicht etwas Ähnliches passiert, beschleunigen wir unsere Verhandlungen.« Davide zeigte auf die Liste an der Wand. »Spätestens im Mai werden wir deine Hochzeit feiern.«

»Was?«

Lillith legte Messer und Gabel zurück auf den Tisch. Der Appetit war ihr schlagartig vergangen.

Sie sah sich die Liste an. Drei Dutzend Namen standen dort, von ihrem Vater offenbar nach Präferenz sortiert. Der Westfale Schedalke stand ganz unten.

»Bei unseren Jubiläumsfeierlichkeiten im nächsten Monat kannst du die Kandidaten persönlich treffen und dir den für uns passenden Ehemann aussuchen.« Davide schnitt ein Stück von seinem halb rohen Steak ab. Das Blut färbte die Kartoffeln daneben rosa.

Lilliths Fingernägel drückten kleine Halbmonde in ihre Handflächen. Jetzt nicht die Kontrolle verlieren. In ihrer Nase kribbelte es. Wie sie das hasste, wenn ihr vor hilfloser Wut die Tränen kamen.

»Warum so bald?« Die Worte kamen gepresst.

»Zwei Anschläge auf mich innerhalb von zwei Tagen – Lillith, das war kein Zufall. Jemand will mich aus dem Weg räumen.«

»Das glaub ich nicht.« Ihre Stimme wurde fester, lauter. Wenn das der Grund für die überstürzte Hochzeit war – dagegen konnte sie argumentieren. »Gestern im Elbtunnel, das waren Kleinkriminelle, die den offenen Eingang gesehen und die Gelegenheit genutzt haben. Reiner Zufall, dass die uns erwischt haben.«

»Dafür waren die aber gut ausgestattet. Mit einer Pistole schießt du den Elbtunnel nicht kaputt.«

»Dann hat die Kugel eben zufällig eine Ecke getroffen, die schon angeschlagen war. Du hast doch selbst gesagt, dass du der Statik nicht mehr traust.«

»Und Willem hatte auch nur zufällig Gift in seiner Tasche.«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß doch nicht mal sicher, ob er dich wirklich umbringen wollte. Dieses Gefühle-Lesen ist keine Wissenschaft, das hat nichts mit Formeln und Fakten zu tun. Wie oft soll ich dir das noch erklären.« Ihr schlechtes Gewissen ließ den letzten Satz schnippischer klingen als ihr lieb war.

»Gar nicht mehr, vielen Dank.« Davide schnitt erneut ins Fleisch. »Falls du recht hast und alles nur ein dummer Zufall war, habe ich nichts zu befürchten. Außer jemand kommt dahinter, dass ich Willems Auto manipuliert und damit selbst massiv gegen den Pakt verstoßen habe. Was – wenn ich an diese ominöse Nachricht auf deiner Vidja denke – eine durchaus reale Gefahr zu sein scheint. Bevor ich also einen weiteren Fehler in dieser Größenordnung mache, werde ich auf deine Anwesenheit bei meinen Geschäften und dein Eintwinkern verzichten. Deine Ausbildung ist abgeschlossen. Es gibt keinen Grund, noch länger mit der Vermählung zu warten.«

Lillith sprang auf. Das meinte er nicht ernst. Er hatte doch sonst immer darüber gescherzt, dass er sie nie würde gehen lassen. Dass ihr Zukünftiger sich gerne bei ihnen in Nordland niederlassen dürfte, aber dass er auf seine Tochter nicht verzichten würde. Sie sollte doch seine Arbeit fortführen, als Frau im Hintergrund, als Ratgeberin. So wie Bibi Kropp, von der alle wussten, dass sie die Geschäfte für ihren Mann Jay führte. Dabei war Bibi nicht einmal empathisch.

Sie versuchte, einen Bluff zu spüren. Vielleicht war das hier nur eine Lektion in Selbstbeherrschung? Die sie gerade komplett vermasselte. Wuttränen liefen ihr über die Wangen. Sie ließ sie zu. Denn ihr Vater bluffte nicht. Er hatte keinen schlechten Witz gemacht. Er war im Begriff, sie zu verheiraten.

»Ich bin doch keine Zuchtstute, die du einfach so verkaufen kannst«, schrie sie. »Ich bin deine Tochter!«

Davide sah sie an, als ob sie sich übergeben hätte. Ihre Emotionalität war ihm geradezu körperlich zuwider. Er wandte den Blick ab und kaute in Ruhe zu Ende. Dann schloss er die Liste mit den Kandidaten und öffnete das nächste Dokument. In klein, auf der Glasfläche neben seinem Teller. Ihr Gespräch war beendet.

Lillith drehte sich um, riss die Tür auf und lief die Treppe hinunter. Raus aus dem Haus, hinüber zum Fuhrpark, wo sie mit einem kurzen Twinkern einen der Sportwagen freischaltete. Ungeduldig stopfte sie mehrere Lagen Rock um den Sitz herum, drückte erst den Startknopf und dann das Gaspedal und überfuhr dabei fast einen Sicherheitsmann, der an ihrer Grundstücksgrenze patrouillierte.

Sie musste mit jemandem reden. Dringend.

»Cissy? Bist du zu Hause?«

Ihre Freundin hatte nur die Audio-Übertragung ihrer Vidja aktiviert.

»Willst du mich in meiner Wellingsbütteler Tristesse besuchen kommen, liebe Lillith?« Cissys Stimme war üppig und ein klein wenig rauchig. »Ich bin da. Ich weiß allerdings nicht, wann mein Mann zurückkommt.«

»Ich will ja auch dich sehen und nicht Lord Rook.«

»Dann beeil dich lieber.«

»Bin auf dem Weg.« Lillith beendete die Übertragung, nickte dem Sicherheitspersonal am Tor zu und bog ab auf die Straße, die über das Grundstück ihres Nachbarn, Handelssenator Jay Kropp, führte. Von ihrem Anwesen an der Alster bis zu Cissys Haus im Norden Hamburgs waren es nur 20 Minuten Fahrt. Die meiste Zeit ging es dabei über die gesicherten Grundstücke ihrer Nachbarn Kropp und Hawik. Nur zwischen Hawiks Anwesen und der Siedlung, in der seine Tochter Cissy nun wohnte, lag ein kurzes Stück Armenviertel. Lillith wusste, dass es leichtsinnig war, hier komplett ohne Leibwächter zu fahren.

Aber es war ihr egal.

Sie erreichte die Siedlung im Norden der Stadt ohne Probleme. Die Bewohner – sie gehörten zur kleinen Mittelschicht Nordlands – hatten sich zusammengetan und ihre hübschen Viertel mit gemeinschaftlichen Sicherheitsanlagen versehen. Eine kleine Stadt innerhalb der Stadt.

»Wer sind Sie? Zu wem wollen Sie?«, fragte ein schlechtgelaunter Pförtner, dem der Regen in den Kragen tropfte, als er sich am Eingangstor zu ihr hinunterbeugte.

Lillith runzelte die Stirn. Der Mann hatte offenbar kein automatisches Erkennungssystem.

»Ich bin Lillith Athena Civetta und ich möchte zu meiner Freundin Lady Cecilia Rook.«

»Haben Sie eine Einladung?«

»Seit wann …«, fing sie an sich aufzuregen, fühlte aber sofort eine Mauer aus Abneigung, Abwehr und Frust. Hier würde sie den Kürzeren ziehen.

»Cissy«, twinkerte sie lautlos an ihre Freundin. »Der Gorilla am Eingang will mich nicht durchlassen.«

In dem Pförtnerhäuschen klingelte es. Der Sicherheitsmann lief zurück und Lillith konnte ihre Freundin auf den Mann einreden hören. Sie verstand nur einzelne Satzfetzen: »Mein Mann wird vergessen haben …« – »Aber Lord Rook hat ausdrücklich …« – »Er hat damit nicht Fräulein Civetta gemeint!« – »Ich brauche den Job …«

Der schlechtgelaunte Mann kam zurück zu ihrem Wagen und musterte sie gründlich. Dann die Rückbank. Und schließlich: »Machen Sie den Kofferraum auf.«

»Machen Sie bitte den Kofferraum auf«, gab Lillith schnippisch zurück. Aber der Mann stand bereits bei den Rückleuchten. Lillith drückte einen Knopf und vor ihrer Windschutzscheibe hob sich die Fronthaube. Der Angestellte schaute erst verwirrt, dann genervt, dann ging er um den Wagen herum und besah sich den leeren Kofferraum. Endlich ging er zurück zum Häuschen und öffnete das Tor. Während Lillith hindurchfuhr, sah sie noch, wie er nach einer alten, klobigen Vidja griff.

»Was war das denn?«, fragte sie ihre Freundin, die ihr im Empfangsbereich der Villa entgegenkam. Lilliths ausladende Röcke streiften dabei einen Stuhl, der mit lautem Gepolter umfiel. Bevor sie sich bücken konnte, hatte Cissy ihn schon wieder aufgestellt. Ihr formloser – und einlagiger – Rock behinderte sie dabei ebenso wenig wie die lose fallende und viel zu große Bluse.

Cissys Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Ihre tiefe Frustration ließ auch Lilliths Mundwinkel nach unten sinken. »Mein wenig ehren- und auch sonst nichts werter Gatte hat Sorge, ich könnte ihn betrügen. Deshalb darf ich keine Gäste mehr empfangen.«

»Und daran hältst du dich?«

»Siehst du ja.« Cissys soulige Stimme täuschte ein Selbst­bewusstsein vor, das sie nicht verspürte. Sie nestelte an den Falten ihres Rocks herum. Lillith fühlte Nervosität, fast schon Furcht, aber erneut überspielte ihre Freundin es mit ihrer kräftigen Stimme.

»Komm. Ich hab uns einen Tee gemacht. So schön, dich zu sehen.«

»Finde ich auch. Gut siehst du aus!« Lillith war froh, dass keiner ihrer Freunde ihre Gabe hatte. Ansonsten hätte Cissy ihr zu Recht eine Ohrfeige für die mehr als dreiste Lüge verpasst. Alles an ihr wirkte grau. Selbst von ihren prachtvollen blonden Haaren war bei diesem strengen Knoten nichts mehr zu sehen.

Cissys Furcht wich einer kurzen Freude. »Und du erst! Kannst du in dem Korsett überhaupt atmen?«

Lillith schüttelte den Kopf. »Es ist die Hölle«, gab sie zu. »Aber es hält mich aufrecht.« Sie folgte ihrer Freundin hoch in den zweiten Stock. Dort hatte Cissy einen der Räume als Salon eingerichtet. Dünnbeinige Stühle waren um einen kleinen Tisch arrangiert, auf dem bereits zwei Tassen und eine Schale mit Gebäck standen.

»Setz dich, ich hole nur schnell den Tee. Milch? Zucker?«

»Schwarz, danke.«

Lillith sah ihr verwundert nach. Was war aus den Hausangestellten geworden? Ihr Magen knurrte und ihr fiel das verpasste Mittagessen ein. Sie griff nach einem Keks, wollte ein Stück abbeißen, aber der Keks war steinhart. Sie legte ihn auf die Untertasse.

Cissy tat, als bemerkte sie den Keks nicht. Aber Lillith konnte ihre Verlegenheit spüren, als sie den Tee einschenkte. Und dann ihren Frust. Lillith vergaß für den Moment, warum sie eigentlich hergekommen war. »Was ist los?«, fragte sie.

»Nur das Übliche.« Sie hob ihre Hand mit dem schlichten Goldreif über dem Ringfinger. »Lass dir bloß Zeit damit, Lillith. Sobald der da über deinem Finger ist, besteht dein Leben nur noch aus Pflichten. Und wehe, du erfüllst sie nicht. Wehe, es gelingt dir nicht, den vertraglich vereinbarten Erben in die Welt zu setzen.«

»Immer noch nicht?«

Der Schmerz, den sie fühlte, trieb Lillith die Tränen in die Augen. Sie blinzelte und schaute an Cissy vorbei. Seit einem knappen Jahr versuchte ihre Freundin mit allen Mitteln der modernen Medizin schwanger zu werden. Beide wussten, was es bedeutete, wenn sich nicht bald der Nachwuchs einstellte: Scheidung, gesellschaftliche Ächtung, Rückzug in eines der Stifte für verstoßene Frauen und Töchter, wo sie den Rest ihres Lebens von verbitterten alten Damen umgeben war, bis sie schließlich selbst zu einer wurde.

Wäre sie nicht eine geborene Hawik und damit qua Geburt gezwungen, ihre Familie durch ihre Heirat mächtiger oder wenigstens reicher zu machen, hätte Cissy mit ihrer Stimme Karriere als Soulsängerin machen können. Irgendwo in einer anderen, besseren Welt. Hätte, wäre, könnte – Lillith verbot sich weitere Gedanken im Konjunktiv.

»Weißt du was?«, sagte Lillith betont munter. »Die Schweden sollen angeblich nicht so steife Traditionalisten sein wie wir Nordländer. Ich heirate einfach einen von denen und du ziehst zu mir nach Stockholm. Da gibt es bestimmt viele Bars, in denen du eine Karriere als Sängerin starten kannst.«

Cissy drückte Lilliths Hand, während ihr eine Träne die Wange hinunterlief. Soviel Hoffnungslosigkeit. Lillith blinzelte die Tränen weg, die schon in ihren Augen schwammen. Niemandem war damit geholfen, wenn sie jetzt auch das Flennen anfing.

»Kann übrigens schneller passieren, als mir lieb ist«, flüsterte sie.

»Was?« Cissy tupfte mit einem spitzenbesetzten Taschentuch die Tränen weg.

»Ein Ehemann in Schweden.«

Cissy sagte zunächst nichts, zerknüllte nur das Tuch in ihrer Hand. Traurigkeit, Frust, Genugtuung, Hoffnungslosigkeit, Ärger, Lillith wünschte sich nicht zum ersten Mal, diesen ganzen Gefühlscocktail einfach abschalten zu können. Als ob ihre eigenen Empfindungen nicht schon kompliziert genug waren.

»Seit wann weißt du es?«, fragte Cissy schließlich.

»Seit gerade eben.«

»Und wann soll die Hochzeit sein?«

»Wahrscheinlich im Mai. Beim Jubiläumsfest soll meine Verlobung bekannt gegeben werden.«

Cissy tunkte einen der Steinkekse in ihren Tee. »Ich dachte immer, dein Vater würde dich nie verheiraten. Warum beeilt er sich plötzlich so?«

Lillith überlegte, was sie ihrer Freundin erzählen konnte. Wenn jemals öffentlich wird, dass Willem mich umbringen wollte, wird das das Ende von Nordland sein.

»Ich weiß nicht, ich glaube, er sorgt sich generell um die Sicherheit hier.«

»Ein bisschen leichtsinnig ist es ja auch, dass du ohne Leibwächter gekommen bist.«

»Ach Quatsch. Das kurze Stück. Hast du mal rausgeguckt? Bei so ’nem Wetter steht da keiner und wartet darauf, dass ich vorbeikomme.«

»Das hat Duhnkreih bestimmt auch gedacht, bevor sie ihn erschlagen haben.«

»Das war in einem ganz anderen Viertel. Durch die Schanze fährt man nicht alleine.«

»Es sei denn, man ist ein Kerl und glaubt, dass die Welt da draußen einem nichts anhaben kann.« Cissy nagte an dem Keks. »Was wird nun wohl aus Duhnkreihs Mutter?«

»Duhnkreihs Mutter?« Lillith wusste im ersten Moment nicht, worauf ihre Freundin hinauswollte.

»Ja, Stine Duhnkreih. Die hat doch bei ihrem Sohn gewohnt, beziehungsweise er bei ihr.«

»Keine Ahnung. Sie wird wohl in eines der Stifte gehen.«

»Die alte Hexe? Soviel Geld kann Kropp gar nicht spenden, dass eines der Stifte sie aufnimmt. Vielleicht bleibt sie in Finkenwerder«, mutmaßte Cissy.

»Unwahrscheinlich. Wovon soll sie die Angestellten bezahlen? Sie hat doch nichts mehr. Willem Duhnkreihs Erbe ist komplett an seinen Schwager gegangen und der will, wie ich gehört habe, Finkenwerder verkaufen.« Duhnkreihs Schwager, Jay Kropp, hatte bereits angekündigt, dass er, sobald die Erbformalitäten geklärt seien, Willems Schulden bei Davide bezahlen würde. Er konnte von seiner Schwiegermutter verlangen, dass sie ihren Familiensitz verließ. Wohin sie dann ging, war ihr Problem.

Dieses patriarchalische Erbrecht war einer der Gründe, warum Lillith niemals selbst darüber entscheiden würde, wen sie heiratete. »Ich möchte einen würdigen Nachfolger für mein Lebenswerk. Einen, der mein Werk versteht, es erhält und erweitert und später an meinen Enkelsohn weitergibt«, sagte Davide immer. Womit auch Lilliths Rolle festgelegt war.

»Vielleicht zieht sie zu ihrer Tochter?«, überlegte Cissy.

»Niemals. Stine soll noch schlimmer sein als Bibi – und mit der ist Kropp schon gestraft genug.« Die beiden Frauen kicherten.

»Dann also ein Kloster.« Schlagartig war Cissy wieder ernst. »Die müssen jeden nehmen.«

Die Angst ihrer Freundin saß wirklich tief.

»Du wirst genauso wenig in einem Kloster enden wie ich, Liebes«, versuchte Lillith, ihre Freundin zu trösten.

Mit einem lauten Knall flog die Tür auf. Ein zu kurz geratener Mann stampfte in den Salon und baute sich vor ihnen auf. »Ich habe dir nicht erlaubt, Besuch zu empfangen, Frau.«

Cissy sackte in sich zusammen. Ihr graues Gesicht wurde noch aschener.

»Es tut mir leid. Ich dachte, du brauchst mich heute nicht und Lillith …«

»Fräulein Civetta wird uns jetzt verlassen.« Dabei würdigte er Lillith keines Blickes, sondern hielt Cissy seine offene Hand hin. »Deine Vidja bitte. Es geht ja offenbar nicht anders.« Cissy griff in die Tasche ihres Rocks und holte ein ähnliches, handflächengroßes Gerät hervor, wie es der Sicherheitsmann am Eingang benutzt hatte. Lord Rook nahm es und tippte darauf herum. Anscheinend überprüfte er Cissys letzten Gespräche.

Lillith war aufgestanden und sah mit zunehmender Fassungslosigkeit, wie Rook die Vidja einsteckte und Cissys leisen Protest mit einem scharfen »Um den Haushalt zu führen, brauchst du so ein Gerät nicht« kommentierte.

Sie wollte sich einmischen, Cissy verteidigen, aber sie schluckte die Worte hinunter. Damit würde sie alles nur noch schlimmer machen. Cissy war seine Ehefrau und er war der Herr im Haus.

»Darf Lady Rook mich hinausbegleiten?«, fragte sie mit aller Freundlichkeit, die sie in dieser Situation noch aufbringen konnte.

»Nein.«

Lillith warf Cissy einen Handkuss zu und erschrak über ihren leeren Blick.

Vielleicht war ein Kloster doch die bessere Alternative.

Nordland. Hamburg 2059 - Freiheit

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