Читать книгу Nordland. Hamburg 2059 - Freiheit - Gabriele Albers - Страница 19

Vergangenheit

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Lillith hatte sich den Platz an der Seite ihres Vaters zurückerobert. Sie war immer noch wacklig auf den Beinen nach den Ereignissen und den ganzen Emotionen von gestern, aber als Davide sie heute Morgen per Vidja-Nachricht gefragt hatte, ob sie nach dem gemeinsamen Mittagessen noch eine halbe Stunde Zeit für ihn habe, hatte sie sofort zugesagt. Sie musste unbedingt wissen, was er von der Willkür der Polizisten und diesen seltsamen Hilfssheriffs in ihren schwarzen Mänteln hielt. Und von den Lügen, die Erik Drach verbreitet hatte. Anscheinend hatte ihr Bericht ihm gezeigt, dass er nicht so einfach auf sie verzichten konnte. Vielleicht teilte er ihr auch mit, dass er noch ein paar Jahre mit ihrer Vermählung warten wollte. Dann hatten sich die Schmerzen und die Arbeit wenigstens gelohnt.

Sie hatte ewig mit sich gerungen, ob sie von Bo berichten sollte oder nicht. Sie hatte überlegt, Maja um Rat zu fragen, aber ihre alte Kinderfrau schien beim Thema Thorn voreingenommen zu sein. Schließlich hatte Lillith alle rationalen Pro- und Contra-Argumente zur Seite geschoben und ihren Bauch entscheiden lassen. Bo Thorn war in ihrem Bericht nicht vorgekommen – vorläufig nicht.

Dafür hatte Yaren ihr interessantes Material aus den Armenvierteln zukommen lassen. Sie war gespannt, was ihr Vater dazu sagen würde.

Der Nachtisch war gerade serviert, als Davide über die Glasplatte des Esstisches strich und ein Dokument an die Wand projizierte: Ein freundlicher Frosch lächelte auf die Zeit- und Etatplanung für das Projekt »Neue Heimat« herab. »Ich überlege, eine größere Summe in die Neue Heimat zu investieren«, eröffnete Davide ihre Mittagsrunde. »Erik will die ersten Wohnungen noch in diesem Jahr verkaufen. Er sagt, die Leute reißen ihm die Unterkünfte förmlich aus der Hand.«

Okay, nicht das Thema, mit dem sie gerechnet hatte, aber eines, zu dem sie etwas beitragen konnte.

»Reines Marketinggeschwätz«, sagte Lillith. »Darf ich?« Mit wenigen Handbewegungen warf sie aktuelle Bilder neben Drachs Planspiele, Fotos aus den Armenvierteln, die Yaren ihr am Morgen geschickt hatte. Mit weißer Kreide hatten die Bewohner im Schanzenviertel Mauersteine auf die Straßen vor ihre Häuser gemalt, einen Stein neben den anderen. Und dazwischen Parolen wie: »Dieses Grundstück steht nicht zum Verkauf«, »Tausch nur gegen Alstervilla«, »Meine Heimat ist die Schanze«. Auch das »Ω« tauchte an vielen Stellen auf.

»Ich glaube nicht, dass wir diesen Protest ernst nehmen müssen« antwortete Davide. »Wenn die Menschen die neuen Häuser sehen, werden sie ihre Meinung ändern. Die erste Mustersiedlung ist bereits in Arbeit.« Er zeigte auf das Ω. »Diese Chaoten müssen wir allerdings beseitigen. Was die gestern in der Mundsburg angestellt haben …« Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe so ein irrationales Verhalten nicht.«

Lillith zählte innerlich bis fünf, bevor sie antwortete. »Du hast meinen Bericht dazu gelesen?«

»Nur überflogen. Die aktuellen Ereignisse haben deine Arbeit … ich will nicht sagen, überflüssig gemacht, aber die Situation hat sich verändert. Erik hat berichtet, dass die Vermietung schimmeliger Zimmer ein florierender Wirtschaftszweig im Armenviertel ist. Er vermutet, dass es vor allem diese sogenannten Vermieter sind, die nun so tun, als wollte keiner dort weg. Du weißt doch, wie das funktioniert: Jemand hat ein bestimmtes Interesse und mit ein wenig Geld oder Schnaps oder Drogen holt er sich ein paar Jugendliche von der Straße, die dann für ihn Stimmung machen.« Er leerte sein Glas und griff zur Wasserkaraffe mit den synthetischen Coca-Blättern. »Möchtest du?«

Lillith schüttelte den Kopf. Soviel zum Thema Drogen.

Davide nahm einen langen Schluck. »Meine ursprüngliche Sorge, dass vom Volk eine Art Revolte ausgehen könnte, ist jedenfalls unbegründet. Mit Miethaien und den von ihnen engagierten Omega-Chaoten werden wir fertig.«

»Aber …«

Davide ließ sie nicht zu Wort kommen. »Es gibt eine weitere, erfreuliche Neuigkeit: Der zweite Mörder von Willem Duhnkreih konnte identifiziert werden. Einer der auf dem Markt Verhafteten hat die Stimme vom Überwachungsvideo erkannt. Es handelt sich um Bo Thorn, den Sohn von Joris Thorn, der angeblich nach Westfalen ausgewandert ist. Erik hat bereits eine nordlandweite Fahndung veranlasst und wird in den nächsten Tagen …«

Lillith hörte ihrem Vater nicht weiter zu. Ihr Magen schien durch einen Fleischwolf gedreht zu werden. Die Idee, Bo Thorn zu einem späteren Zeitpunkt als eine Art Joker zu ziehen, war mit dieser neuen Information hinfällig geworden.

»… und wir haben ihm ein paar weitere Vollmachten genehmigt, damit er der Lage Herr wird, bevor unsere ausländischen Gäste zu unseren Jubiläumsfeierlichkeiten kommen.«

»Wem? Was für Vollmachten?«

»Polizeichef Foth natürlich. Hörst du mir eigentlich zu?« Erneut wartete er keine Antwort ab. »Mit dieser Sondervollmacht kann Foth ohne konkreten Anfangsverdacht jeden Omega-Spinner verhaften. Er hat darüber hinaus bei der Rekrutierung und Qualifizierung von neuem Personal mehr Freiheiten bekommen. Außerdem haben wir uns auf eine Ausgangssperre von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang für die Bewohner in den Armenvierteln geeinigt … das Übliche eben. Ach ja, und Erik hat sich tatsächlich mit einer Etaterhöhung durchgesetzt. Zehn Prozent bekommt er ab sofort dazu. Ich hab mich am Ende überreden lassen – nachdem er mir zugesichert hat, dass er einen Teil des Geldes nutzen wird, um endlich diese Chaoten zu fassen, die uns im Elbtunnel überfallen haben.«

»Ich fürchte, Senator Drach hat dir nicht die Wahrheit gesagt, was den Vorfall in der Mundsburg betrifft«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Es waren nicht die Leute von Omega, die alles kurz und klein geschlagen haben. Es waren Foths eigene Leute.«

Davides Löffel mit der Crème Brûlée verharrte auf halbem Weg zum Mund. »Woher weißt du das?«

»Ich war dabei.« Lillith fasste ihren Bericht in drei Minuten zusammen. Sie erzählte von ihrem Besuch auf dem Markt, der völlig normal und unspektakulär verlaufen war – bis die Polizei einmarschierte.

»Senator Drach hat am Mittwoch die Pläne für die Umsiedlung vorgestellt«, rechnete Lillith vor. »Am Samstagmittag konnten die meisten Händler die neueste Meldebestätigung noch gar nicht haben – nicht mal, wenn unsere Beamten 24-Stunden-Schichten gemacht hätten. Und trotzdem hat er den Marktleuten ihre Verkaufserlaubnis genommen. Warum?«

Zwischen Davides Brauen hatte sich eine steile, tiefe Falte gebildet. »Du bist dir sicher, dass die Unruhen auf dem Markt von der Polizei ausgingen? War es nicht vielmehr so, dass die Polizei angegriffen wurde?«

Lillith lachte bitter. Was für eine Vorstellung. Die alte Dame, die die Frösche nicht ins Haus lassen wollte, konnte vielleicht ihrem Mann an die Gurgel gehen, aber nicht den Männern mit ihren Schlagstöcken.

»Niemals. Das waren unsere eigenen Leute, die die Situation eskaliert haben. Und wenn die sich ihre Finger nicht schmutzig machen wollten, haben es Foths neue Hilfskräfte getan.«

Davide legte die Fingerspitzen zusammen und tippte mit den Zeigefingern an seine Lippen.

»Hast du Beweise? Bilder? Videos?«

Lillith schüttelte den Kopf. Sie war zu beschäftigt damit gewesen, aus dem Chaos herauszukommen und nicht vor den Gefühlen der anderen in die Knie zu gehen. An Beweismaterial hatte sie da nicht gedacht.

»Glaubst du mir nicht? Victor, Yaren und Maja können es bestätigen.«

»Die zählen nicht.«

Er schob den Teller zur Seite. Lillith spürte seinen Widerwillen. Etwas ging ihm ganz gewaltig gegen den Strich. Auf seinem Gesicht war ein Lächeln zu sehen. Sein Geschäftslächeln.

»Ich kümmere mich darum, Lillith.« Er zupfte seine Manschetten unter dem Jackett zurecht. »Was für eine Woche! Angesichts der aktuellen Lage ist es wirklich an der Zeit, dich unter die Haube zu bringen.«

»Das ist das nächste Thema, über das ich gerne mit dir reden möchte.«

Davide reagierte nicht auf ihren Einwand. Er tippte auf die Glasfläche des Tisches und öffnete eine Übersicht über die aktuelle Entwicklung seines Beteiligungsportfolios. »Möchtest du nach Mailand fliegen?«, fragte er mechanisch. »Oder lieber in Hongkong deine Hochzeitsgarderobe kaufen? Frag doch Cissy, ob sie mitkommt.«

Trotz der Etaterhöhung für Drach und den neuen Vollmachten für Polizeichef Foth nahm die Zahl der Überfälle auf die Fahrzeuge der Reichen weiter zu. Selbst das Personal traute sich nur noch in gesicherten Konvois durch die Armenviertel, und die Nachfrage nach Dienstwohnungen auf dem Grundstück der Civettas überstieg bei Weitem das Angebot.

Der erfolgreiche Angriff auf Willem Duhnkreih hatte anscheinend jeden einzelnen vom Glück nicht so Begünstigten dazu motiviert, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, und mit Gewalt den Reichtum Nordlands umzuverteilen. Die Ratten hatten sich unkontrolliert vermehrt. Oder waren es die Omegas? Gab es überhaupt einen Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen? Überall in der Stadt tauchten Flugblätter auf, in denen der sogenannte Widerstand zum zivilen Ungehorsam aufrief und dazu, sich endlich gegen das herrschende System zu wehren. In den Armenvierteln waren ganze Wände damit plakatiert, sämtliche Litfaßsäulen zugeklebt. Manchmal wehte der Wind die Flugblätter über die Straße, manchmal fand man sie in gestohlenen Autos, denen die Energie ausgegangen war, vereinzelt steckten sie sogar in den Jackettaschen der Entführungsopfer, die gegen viel Lösegeld freigekommen waren.

Zum Glück hatte es bei den Überfällen bisher keine weiteren Toten gegeben; allerdings wurden einige Entführte noch vermisst, allesamt Angehörige der zweiten Gesellschaftsebene Nordlands: höhere Beamte, leitende Angestellte, Richter, sogar ein Offizier; Männer, die reich genug waren, um mit teuren Autos durch die Stadt zu fahren, aber nicht genug Geld hatten, um sich einen üppigen Sicherheitsapparat zuzulegen.

Davide war dazu übergegangen, seine Termine per Konferenzschaltung zu erledigen. Nur zu den Sitzungen der Senatoren montags und den Bürgerschaftssitzungen mittwochs fuhr er noch mit dem Auto – die einzigen Tage, an denen auch Lillith das Haus verließ. Der Civetta-Konvoi bestand aus sechs schweren Geländewagen und vier Motorrädern, die Davides gepanzerte Limousine in die Mitte nahmen, um sie sicher durch das Schanzenviertel zum Rathaus zu geleiten. Vielleicht war der Umsiedlungsplan von Erik Drach doch keine so schlechte Idee?

Im Vergleich zu dem Aufwand, den Hawik, Drach, Kropp und Petersen betrieben, war ihr Konvoi eine Minimal-Maßnahme. Die drei Senatoren und der neue Bürgerschaftspräsident bewegten sich nur noch mit Hubschraubern von einem Ort zum nächsten und erzählten jedem, der es wissen wollte, dass sie ihre persönlichen Portfolios umschichteten, um gegen das drohende Chaos gewappnet zu sein. Alle hatten Angst um ihre Person, um ihre Familie, um ihre Anwesen und nicht zuletzt um ihr Geld und meinten, mit deutlich mehr und besser ausgerüsteten Sicherheitskräften der herrschenden Bedrohung entgegentreten zu können. Jay Kropp machte mit den Einfuhrzöllen auf modernste Waffen gerade das Geschäft seines Lebens, genau wie Erik Drach, dessen Sicherheits- und Überwachungstechnik mit dem anachronistischen Namen »Der Hüter« den Reichen der Stadt das Gefühl gab, alles unter Kontrolle zu haben. Immer und überall.

Die Technik verhinderte allerdings kein einziges Graffito. Schmierereien an den Wänden informierten darüber, dass Omega nicht vorhatte, klein beizugeben. »Die Stadt gehört uns allen«, »Gerechtigkeit statt Willkür«, »Foth: Wo sind unsere Mädchen?« und immer wieder das lateinische »Iniqua numquam regna perpetuo manent«, das Lillith zum ersten Mal bei Thorns Hinrichtung gesehen hatte. Auf eine Hauswand hatte jemand mit dunkelroter Farbe das Hamburger Wappen gemalt; auf dem Tor saßen dicke Männer und rauchten Zigarren. Als Lillith genauer hinsah, entdeckte sie, dass das Hamburger Tor aus hunderten, dürren Menschen bestand, die von den Männern zusammengedrückt wurden. Augen quollen hervor, Münder waren weit aufgerissen.

Heimatschutzsenator Erik Drach musste sich in jeder Sitzung aufs Neue dafür rechtfertigen, dass ihm die Situation derart entglitt. Obwohl seine Kameras automatisiert jeden Überfall meldeten, waren weder die regulären noch die zahlreichen neu rekrutierten Hilfskräfte schnell genug vor Ort, um die Täter zu verhaften. Nicht einmal die Kreidekritzler bekam er zu fassen und die Fahndungsplakate, mit denen er nach Bosse Thorn suchen ließ, wurden heruntergerissen, sobald die Plakatekleber den Litfaßsäulen den Rücken zudrehten. Sogar die elektronischen Werbetafeln waren verschmiert oder mit alternativen Plakaten beklebt worden, nachdem die Fahndungsaufrufe mit »Hohe Belohnung für die Ergreifung von Bosse Thorn« darüber gelaufen waren.

Drachs geradezu reflexhafte Forderung nach immer mehr Geld lief ins Leere. Davide hatte die Vorfälle in der Mundsburg nicht im großen Kreis thematisiert. Aber seit dem Gespräch mit Lillith weigerte er sich, Drach weitere Mittel zu genehmigen und wurde dabei von Senator Oppermann und dem leicht zu manipulierenden Jay Kropp unterstützt. Davide nutzte die Tatsache, dass alle Entscheidungen im Senat entweder einstimmig oder, falls das nach zwei Verhandlungsrunden nicht erreicht worden war, wenigstens mit einer Dreiviertelmehrheit abgesegnet werden musste. Was im Umkehrschluss bedeutete, dass drei sich in der Sache einige Senatoren ein Vetorecht hatten und jedes unliebsame Vorhaben blockieren konnten.

Dem Heimatschutzsenator blieb nichts anderes übrig, als mit dem vorhandenen Geld auszukommen und das Thema zu wechseln. Er pries die enormen Fortschritte der neuen Siedlungsanlage, zeigte Bilder der Baustelle, wo Bagger die Baugrube aushuben, Grafiken, in denen er die Nachfrage seitens der Bevölkerung mit einer steil ansteigenden Kurve illustrierte, für die die vorhandenen Plätze (eine Parallele zur X-Achse) bei weitem nicht ausreichten. Nach kurzer Debatte einigten sich die Senatoren darauf, das Siedlungsgebiet auszuweiten, noch mehr Häuser zu bauen und Drach den dafür nötigen Etat zur Verfügung zu stellen.

Nur Lillith fiel auf, dass er keine Zahlen an die Achsen geschrieben hatte.

Mitte Oktober zog ein neuer Parlamentarier für seinen Vater ins Parlament ein: Fritjof. Der Gesundheitszustand Jakob von Eschenburgs hatte sich in den vergangenen Monaten verschlechtert, so dass er seinem Sohn die Geschäfte und seine politische Position als Abgeordneter der Nordländischen Bürgerschaft übergeben hatte – und Lillith endlich mal wieder einen Grund, ihr Haus zu verlassen.

Während sie über die Querverbindung auf dem Anwesen ihres Nachbarn Jay Kropp fuhr, leuchtete auf ihrer Kontaktlinse eine Gesprächsanfrage auf: »Lady Rook bittet um Audienz.« Cissy! Und offenbar gutgelaunt.

»Meine liebe Cissy! Wie schön, dich zu sehen.«

Die Bildübertragung zeigte eine entspannte Cissy, die es sich auf einem Sessel bequem gemacht hatte, neben sich eine dampfende Tasse Tee.

»Lillith! Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Du weißt ja, Henry mag es nicht, wenn ich seine Vidja benutze. Aber heute ist er nicht da und was er nicht weiß …« Sie kicherte und Lillith verzichtete darauf, ihr zu erklären, dass jedes Gespräch gespeichert und später wieder abgerufen werden konnte. Sie wollte ihrer Freundin nicht die Laune verderben.

»Hast du nicht Lust, spontan vorbeizukommen?«, fragte Cissy. »Ich würde so gerne mit dir plaudern!«

»Ich auch! Aber gerade geht es nicht. Ich bin unterwegs und muss etwas für meinen Vater erledigen. Wie wäre es mit heute Abend?«

Cissys Mundwinkel sanken nach unten. »Heute Abend ist Henry wieder im Haus, da passt es nicht so gut«, sagte sie so leise, dass Lillith sie nur mit Mühe verstand. Im nächsten Moment plauderte Cissy munter weiter. »Du Vielbeschäftigte, wohin geht die Reise?«

»Nur zu Fritjof. Aber wo du gerade von Reisen sprichst: Mein Vater möchte, dass ich demnächst eine ausgiebige Einkaufstour unternehme und er hat mir angeboten, eine Freundin mitzunehmen. Hast du Lust?«

»Lust auf jeden Fall. Aber ich fürchte …«

Jaja, dein blöder Ehemann wird es dir nicht erlauben.

Ein Lächeln breitete sich über Cissys Gesicht aus und für einen Moment war sie die wunderschöne, lebenslustige, fröhliche Cissy von früher.

»… mir wird solch eine Reise bald zu anstrengend.«

Lillith brauchte einen Moment, um das Gehörte mit Cissys Strahlen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen.

»Bist du etwa …?«

»Ja! Ich bin schwanger!«

»Das ist großartig. Herzlichen Glückwunsch! Erzähl – wann ist es so weit?«

»Anfang Juni, wenn alles gut geht.« Cissy nahm einen Schluck Tee. Sie malte sich aus, wie sie zusammen mit Lillith kinderwagenschiebend an der Alster entlang spazierte. Sie beschrieb in den buntesten und schillerndsten Farben, wie das Kinderzimmer aussehen sollte. »Ich glaube, ich spüre sogar schon seine Bewegungen, ja, ja, ich weiß, er kann höchstens sechs Wochen alt sein, trotzdem.« Bisher war sie noch nicht beim Arzt gewesen, aber sie war fest davon überzeugt, schwanger zu sein. Cissys Augen strahlten, ihre Wangen glänzten, ihre ganze Erscheinung versprühte gute Hoffnung. Lillith hätte sie am liebsten in den Arm genommen, aber dafür war Cissys Hologramm nicht substanziell genug.

»Ich bringe dir auf jeden Fall die neueste Babymode mit, wenn ich das nächste Mal in ein zivilisiertes Land mit echten Einkaufszentren komme, versprochen. Ich muss Schluss machen, bin gleich bei Fritjof. Schwere Arbeit.«

Ein nervöses Lachen. »Das kann ich mir denken. Grüß ihn von mir.«

»Mach ich. Ist dein Mann demnächst noch mal fort?«

»Bestimmt. Er hat was von einer Dienstreise gesagt, nächste Woche oder so.«

»Prima! Ich melde mich und wir machen was aus. Pass gut auf dich auf, Süße.«

»Mach ich. Und du auf dich, Lillith.«

In Schlangenlinien fuhr Victor um die Pfützen auf der Straße herum, um nicht versehentlich in einem der Schlaglöcher aufzusetzen. Am Straßenrand wucherte das Unkraut kniehoch. Mehrfach hatte Lillith ihren Freund schon darauf angesprochen, dass der erste Eindruck, den man von seinem Anwesen bekam, kein besonders guter war. Aber er hatte ihre Kritik einfach weggelächelt. Erst kurz vor dem sechsstöckigen Haupthaus waren Kiesweg und Bankette wieder in einem angemessenen Zustand.

Fritjof kam ihr mit offenen Armen entgegen.

»Was für eine schöne Überraschung.«

»Freu dich nicht zu früh. Ich hab einen Anschlag auf dich vor, Abgeordneter Fritjof von Eschenburg.«

»Einen Anschlag? Hast du deinen Vater überredet, es mit mir als Schwiegersohn zu versuchen? Und ich muss bis morgen die Due Diligence vorbereiten?«

»Fritjof!« Sie boxte ihn. »Nicht das Thema schon wieder. Ich bin gerade dabei, sämtliche Vorbereitungen meines Vaters diesbezüglich zu ignorieren und wo immer es geht zu sabotieren. Nein, tatsächlich hat mich mein Vater zu dir geschickt, um dich um etwas zu bitten, das er nicht an die große Glocke hängen möchte.«

»Also doch die Drachentöter-Aufgabe für den Märchenprinzen! Du weißt, ich tue alles, um meine Chancen bei dir zu verbessern.« Er lächelte und öffnete das üppige Eingangsportal.

Die große Eingangshalle erinnerte Lillith immer an einen griechischen Tempel mit all den Säulen und Statuen, dem Stuck und dem kalten Marmorboden. Fritjofs Vater hatte das Haus in den 20er Jahren als Mischung aus repräsentativem Firmensitz und prunkvollem Adelspalast bauen lassen.

»Und? Wie gefällt dir deine Arbeit als Abgeordneter?«, fragte Lillith, während sie zum Fahrstuhl gingen.

»Geht so. Ich hätte nicht gedacht, dass ich für diese Sitzungen so viel Zeugs lesen muss.«

»Ja, mein Lieber, so funktioniert das System. Auch ihr Abgeordneten sollt an den Entscheidungen beteiligt sein – ihr zahlt schließlich ebenso in die allgemeinen Töpfe ein wie die Senatoren. Dafür müsst ihr natürlich das Material lesen, auf dessen Grundlage die Entscheidungen getroffen werden.«

Die Fahrstuhltür öffnete sich, Fritjof ließ Lillith vorgehen und drückte dann auf den obersten Knopf.

»Um dann gut informiert alles abzunicken, was die Herren Senatoren uns vorschlagen.« Fritjof lachte laut, ein Geräusch, das als leicht verzerrtes Echo von den chromatierten Wänden zurückkam. »Ich glaube, das ist das Erste, was ich mir bei diesen Sitzungen spare: das Lesen. Und als Zweites werde ich mit unserem Finanzsenator über die Höhe meines Mitgliedsbeitrags verhandeln. Dass mein Vater das jeden Monat klaglos bezahlt hat … da wird man ja arm!«

»Wer viel von den Gemeinschaftseinrichtungen profitiert, muss auch viel zahlen.«

»Da wüsste ich aber einige, die deutlich mehr profitieren als wir!«

Der Fahrstuhl hielt, Fritjof machte einen kleinen Diener. »Links den Flur hinunter bitte!«

»In die heiligen Hallen deines Vaters?«

Fritjof grinste. »Falsch. In meine heiligen Hallen, vulgo: Büro. Ich führe die Geschäfte, ich darf auf alles zugreifen, was dazu gehört.«

»Stört es deinen Vater nicht, wenn wir einfach hereinplatzen?«

»No. Er ist im Medizinischen Zentrum.« Er bot ihr seinen Arm, den Lillith ohne nachzudenken akzeptierte. Fritjofs neues Eckbüro lag am Ende eines langen Ganges. Dicke Teppiche, antike Prunktische und dazu passende, mit gelber Seide bezogene Rokoko-Sitzmöbel (breit genug für ausladende Röcke), mit rotem Damast bespannte Wände, kostbare Gobelins und die Ahnengalerie der von Eschenburgs zeigten jedem Besucher, dass er sich in einem Gebäude befand, das auf ganz altem Geld gründete.

»Wie geht es deinem Vater? Entschuldige, dass ich nicht gleich gefragt habe.«

»Im Prinzip unverändert. Seine Depressionen kommen und gehen.«

»Aber wenn er dich jetzt ans Ruder lässt …«

»… dann könnte es bedeuten, dass es schlimmer wird und er sein Ende herbeisehnt oder sogar schon die Vorbereitungen dafür trifft. Ja, möglich ist das.«

»Und du bist darüber nicht traurig?«

»Doch, klar, aber ich kann es nicht ändern, oder?«

Lillith war verunsichert. Trauer hatte sie nicht bei Fritjof gespürt. Er war so ausgeglichen und entspannt wie immer.

Fritjof legte seinen Daumen auf die Markierung neben der Tür und sagte seinen Namen. Die Spracherkennung aktivierte den Iris-Scan, Fritjof hielt zwei Sekunden still und im nächsten Moment öffnete sich die Tür. Lillith blieb überrascht stehen. Sie kannte das Arbeitszimmer ihres Vaters und das seines Freundes Liborius Oppermann, sie kannte die Konferenzräume seiner Geschäftspartner und die Büros ihrer Angestellten – aber nichts davon hatte auch nur entfernt Ähnlichkeit mit dem düsteren Raum hier.

Papier. Das ganze Zimmer war voller Papier. In den Regalen stapelten sich Bücher, alte Zeitungen, einzelne Blätter, Aktenhüllen, Kartons, Ordner. Auf einem Schreibpult lagen vergilbte Briefumschläge. Sogar auf der Fensterbank türmten sich Stapel von Papier und wankten bedrohlich, als die schwere Stahltür hinter ihnen ins Schloss fiel. Lillith bemühte sich, neben die zahlreichen Unterlagen zu treten, die auf dem Fußboden verteilt waren. Unmöglich.

Fritjof legte den Papierstapel, der auf einem der Clubsessel lag, zu den Stapeln auf dem Fußboden. »Setz dich. Möchtest du einen Drink?« Unter dem Schreibtisch seines Vaters, einem dunklen Monstrum aus massivem Holz, war ein kleiner Schrank. Fritjof holte eine Flasche Whiskey und eine Flasche Wodka hervor. »Hier gibt’s leider nichts Antialkoholisches.«

Lillith schüttelte den Kopf, während Fritjof sich ein Glas Wodka einschenkte. Sie ging auf Zehenspitzen durch das Zimmer und musterte die unzähligen Stapel.

»Was ist das hier?«

»Mein neues Arbeitszimmer, sagte ich das nicht?«

»Das mein ich nicht. Wieso liegt so viel Papier herum?«

»Mein Vater ist zu faul zum Aufräumen und Putzfrauen lässt er nicht in sein Allerheiligstes. Was du hier siehst sind Unterlagen aus mehr als 60 Jahren Geschäftstätigkeit. Du weißt doch, dass er es nicht so hat mit der modernen Technik.« Fritjof grinste. »Er lässt sich seine komplette Korrespondenz ausdrucken. Behauptet, er könne auf einem Bildschirm nicht so gut lesen. Kontaktlinse und Ohrstecker der Vidja sind seiner Meinung nach Teufelszeug.«

»Wie findet er seine Unterlagen?«

»Gar nicht. Oder indem er stundenlang einen Papierberg nach dem anderen durchsucht. Aber meistens weiß er schon nach wenigen Minuten nicht mehr, was er gesucht hat und versinkt in den Dingen, die ihm zufällig in die Hände fallen.«

Lillith drehte sich um die eigene Achse. Niemand arbeitete mit Papier. Alles wurde elektronisch gespeichert, verarbeitet, verschickt. Sämtliche Informationen, alle Bücher, alle Daten waren digitalisiert. Das Wissen dieser Welt existierte in Nullen und Einsen und jeder konnte es jederzeit auf seine Vidja holen – wenn er für den entsprechenden Zugang bezahlt hatte.

»Davide hat keine einzige Papierunterlage aus der Vergangenheit aufbewahrt, kein einziges Buch, nichts.« Sie ging an einem der Regale entlang und berührte vorsichtig die Buchrücken. »Er hat alles auf seiner Vidja gespeichert und die wichtigen Sachen verschlüsselt. Ich glaube nicht, dass er mir jemals unzensierten Zugang dazu gibt.«

»Das hier ist doch besser als jede Zensur. Wenn du etwas wirklich Wichtiges verstecken willst, solltest du es genauso machen, wie mein Vater es getan hat: unter Bergen von Unwichtigem.« Er setzte sich auf die Kante des mächtigen Schreibtisches und machte eine ausladende Handbewegung. »Glaubst du im Ernst, ich fange an, diese Masse an Information zu sortieren?« Sein jungenhaftes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus und reichte fast von einem Ohr zum anderen.

»Ich könnte Tage hier verbringen.« Lillith setzte sich in den freigeräumten Clubsessel und griff nach dem erstbesten Stück Papier. Eine Zeitschrift aus dem Jahr 2013 mit einer Anzug tragenden Frau auf einer Säule, im Hintergrund Sumpf und Morast, in dem der Londoner Big Ben, die griechische Akropolis und der schiefe Turm von Pisa versanken; eine schlaff herunterhängende Eiffelturmspitze komplettierte das Bild.

»Die Mode damals war jedenfalls ziemlich geschmacklos«, sagte Fritjof, der einen Blick darauf geworfen hatte. »Und das Schönheitsideal – na ja.«

»Ich glaube nicht, dass diese Frau ein Model ist«, sagte Lillith und las die Titelzeile: » ›One woman to rule them all‹. Mein Englisch ist etwas eingerostet, aber du warst doch auf einem englischen Internat, übersetz mal.« Sie warf ihm die Zeitschrift zu.

»Der Economist.« Fritjof klang überrascht. »Ich wusste gar nicht, dass es den in Papierform gegeben hat. Gehörte mal zu den führenden Wirtschaftsinfodiensten der Welt, und diese Frau, die hier alle beherrschen soll, ist …«, er blätterte durch das Heft, »hier, Angela Merkel, chancellor of Germany, und wenn ich das richtig übersetze, ist das so etwas wie die oberste Chefin.«

»Was?« Lillith sprang auf und riss ihm die Zeitschrift wieder aus der Hand. »Wo steht das?«

Fritjof zeigte ihr den Text.

»Angela Merkel scheint damals die mächtigste Person in Deutschland gewesen zu sein. Zumindest auf der politischen Ebene. Und in Europa hat sie auch kräftig mitgemischt.«

»Wann soll das gewesen sein? 2013? Vidja, nenne mir das deutsche Staatsoberhaupt im Jahr 2013.«

»Joachim Gauck.«

Auch Fritjof war verblüfft. »Frag deine Maschine nach dem Kanzler. Ich meine mich zu erinnern, dass es da verschiedene Positionen gab, und der Kanzler war nicht das offizielle Staatsoberhaupt.«

»Okay – nenne mir den deutschen Kanzler im Jahr 2013.«

»Im Jahr 2013 war A. Merkel Kanzler in Deutschland.«

Lillith wurde misstrauisch.

»Wofür steht das A. in diesem Namen?«

»Für Angela.«

»Okay, man muss also nur richtig fragen, dann rückst du auch damit heraus, blöde Maschine. Fritjof, warum habe ich solche Information nicht in der Schule bekommen?«

»Dann könnte dein Vater dich überhaupt nicht mehr verheiraten.« Fritjof feixte. »Du würdest solange jeden Kandidaten vergraulen, bis Senator Civetta dir freiwillig seinen Senatorenposten und das gesamte Erbe gibt.«

»Könnte passieren.« Jetzt grinste auch Lillith, war aber im nächsten Moment sofort wieder ernst. »Das würde den Männern in unserem Land ähnlich sehen, uns solche Beispiele vorzuenthalten. Damit wir Frauen solche Ämter gar nicht erst anstreben.«

»Und wieso weiß ich dann nichts davon?«

»Weil du im Unterricht nicht aufgepasst hast?«

»Pah.« Fritjof tat beleidigt. »Überhaupt: Wer will schon freiwillig so einen Job? Nur Deppen streben nach dem obersten Amt in der Politik. Dein Vater hätte Bürgermeister werden können und hat dankend darauf verzichtet. Viel Arbeit, wenig Geld und ständig meckert jemand an dir herum. Ich glaube, diese Merkel hat einfach einen unbedeutenden Job gemacht. Deshalb wissen wir so wenig von ihr. Und es wäre auch kein Wunder: Frauen haben die kleineren Gehirne, vergiss das nicht, sie sind von Natur aus nicht in der Lage, die Führung einer Gruppe zu übernehmen.«

»Ach Fritjof, das ist doch totaler Quatsch. Ich könnte unsere Unternehmen genauso gut managen wie mein Vater.« Mehr sagte sie nicht. Nicht einmal Fritjof wusste, wie tief sie in die Unternehmensführung des Civetta-Konzerns eingearbeitet war. »Wo ist da der Unterschied zur Führung eines Landes?«

»Und warum gibt es dann so wenige weibliche Staatsoberhäupter?«

»Vidja, zeige mir alle Länder an, in denen Frauen an der Spitze stehen.«

»Diese Information ist nicht verfügbar.«

»In welchen Wirtschaftsunternehmen haben Frauen eine Führungsposition inne?«

»In Nordland gibt es keine Frauen in Führungspositionen.«

»Und in anderen Ländern?«

»Diese Information ist nicht verfügbar.«

»Gab es früher Frauen, die entscheidenden Einfluss in Unternehmen hatten?«

»Diese Information ist nicht verfügbar.«

»Mistding.« Mit einem Druck auf ihr Armband stellte sie den Recherche- und Sprachmodus wieder aus. »Da hat aber jemand gründlich die Datenbank aufgeräumt.«

Sie hasste das. Im Laufe der Jahre hatte ihr Vater ihr zwar immer mehr Zugänge freigeschaltet, aber nach wie vor blieben ganze Themenbereiche unter Verschluss. Wie zum Beispiel die Zeit rund um die Gründung von Nordland. Vom Datenvolumen her waren diese Ordner riesig – aber angezeigt wurde nur ein Bruchteil: Dossiers, Artikel, Bücher, die sie im Geschichtsunterricht schon zu sehen bekommen hatte und die höchstens ein Prozent des verbrauchten Speicherplatzes benötigten. Von Omega stand dort nichts.

»Komm, lass uns gucken, ob wir noch mehr Zeitschriften finden.« Eine neue Welt tat sich vor ihr auf. Eine andere Perspektive. Sie ging zu den Bücherregalen hinüber. Wenn es früher ganz normal gewesen war, dass Frauen gleichberechtigt neben den Männern standen, warum sollte das nicht wieder möglich sein? Menschen änderten sich. Warum sollten sich nicht auch Gesellschaften ändern können? Ihr Vater war der mächtigste Mann Nordlands. Er musste doch in der Lage sein, so eine Position für sie durchzusetzen.

Fritjof hatte Recht. Sie würde keine Ruhe geben.

»Ähm, Lillith?« Fritjof saß immer noch auf der Schreibtischkante und sah ihr amüsiert hinterher. »Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für deinen Anschlag.«

Lillith schlug sich vor die Stirn. Das hatte sie ganz vergessen. Sie sah sich in dem dunklen Büro um. Der technikfeindliche Jakob von Eschenburg schien keine Überwachung oder automatisierte Aufzeichnung installiert zu haben. Sie ging zurück zu dem Clubsessel und musterte Fritjof. Seine Manschetten waren genauso weit offen wie sein krawattenloser Kragen. Keine Uhr, keine Ohrstecker, keine Vidja. Ihr alter Freund war nicht halb so vorsichtig wie ihr Vater.

»Mein Vater wollte einen gemeinsamen Termin mit dir und Finanzsenator Oppermann vereinbaren und schickt mich vor, um zu klären, ob dir das überhaupt recht ist.«

Fritjofs typisches Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus. »Was für eine Frage! Ich versuche seit Wochen mit Liborius über die«, er räusperte sich, »über die Neuordnung meiner Finanzen zu sprechen. Was muss ich tun, damit dein Vater sich für mich einsetzt?«

Lillith schlug die Beine übereinander. »Ach, nichts, was du nicht sowieso tust. Ein bisschen mit den anderen Parlamentariern plaudern und so. Meinen Vater interessiert, wie das Parlament zu den aktuellen Unruhen auf unseren Straßen steht. Und ob ihr weitere Etaterhöhungen im Bereich Heimatschutz mittragen würdet.«

»Noch mehr Geld in dieses Drach’sche Fass ohne Boden? Niemals! Die zehn Prozent waren schon ziemlich überflüssig, wenn du mich fragst.«

Lillith nickte zustimmend. »Finde ich auch. Die Frage ist: Sehen das deine Kollegen genauso?« Lillith hielt die Luft an. Als ihr Vater sie darum gebeten hatte, Fritjof als eine Art Kundschafter einzusetzen, war sie überrascht gewesen, dass ihm die Parlamentarier plötzlich so wichtig waren. Er hatte sie ernst angeschaut und dann einen Vortrag über das politische System gehalten. Sie hatte nicht alles verstanden, nur, dass die Parlamentarier mächtiger waren, als sie wussten. Sie konnten sogar das Veto der drei Senatoren aushebeln – ein Detail, das Erik bisher entgangen war.

»Denke schon, dass die auch keinen Bock darauf haben, noch mehr Geld in das Gemeinwesen zu pumpen. Soll ich mal rumfragen?«

»Nur wenn es sich ergibt.« Lillith versuchte, mit einem Schlenker ihrer Hand die Bedeutung ihres Anliegens herunterzuspielen. Aber sie spürte, dass Fritjof voll konzentriert war und herauszufinden versuchte, was Davide tatsächlich bezweckte.

Das Wissen über die Macht der Parlamentarier war in den vergangenen 25 Jahren nach und nach verloren gegangen. Davide hatte sie sehr eindringlich davor gewarnt, diese Tatsache Fritjof gegenüber zu erwähnen. Keine Andeutung. Nichts. Sonst wäre Nordland in kürzester Zeit nicht mehr zu regieren. »Es ist schwierig genug, die Senatoren bei den Detailentscheidungen zu überzeugen. Auf die 100 Parlamentarier kann ich nicht auch noch Rücksicht nehmen«, hatte er zum Abschluss seines Vortrags gesagt. Zu seinem Glück war die Verfassung mit rund 350 Seiten deutlich umfassender als das normale Aufnahmevermögen eines durchschnittlichen Abgeordneten und dazu in einem so komplizierten Juristendeutsch verfasst, dass sich keiner die Mühe machte, den Text zu lesen und zu verstehen.

Und Fritjof schon gar nicht.

»Mein Vater möchte nicht, dass die Lage weiter eskaliert.« Lillith lächelte Fritjof so unschuldig an, wie sie konnte. »Du weißt schon, wegen der großen Feier und so. Senator Drach dagegen will immer mehr Polizei einsetzen und wird dabei unter anderem von Senator Hawik unterstützt. Mein Vater meint, das wäre das falsche Signal an unsere Geschäftspartner. Es wäre deshalb ein gutes Zeichen, wenn sich die Parlamentarier, wenn sie denn überhaupt anwesend sind, auf seine Seite und auf die von Senator Oppermann stellen könnten, symbolisch sozusagen. Das würde Drach den Wind aus den Segeln nehmen. Und euch allen eine Menge Geld sparen.«

Fritjof schien die Bitte nicht ungewöhnlich zu finden und erwiderte ihr Lächeln. »Geld sparen ist immer gut. Da machen die anderen garantiert mit. Und Oppermann will sich wirklich mit mir treffen? Ich hatte schon gedacht, er fände das Verleihen von Geld inzwischen unanständig. Weißt du eigentlich, wie lange ich schon versuche, einen Termin bei Liborius zu bekommen?«

Lillith atmete leise aus, froh darüber, dass Fritjof im Grunde seines Herzens genauso gestrickt war wie alle anderen Männer in ihrem Umfeld.

Zwei Tage später flog Davide nach Schweden, um mit Ingvar Sörensen, dem Hauptlieferanten für die technischen Komponenten ihrer Windparks zu reden. Dessen jüngste Lieferung hatte für die Probleme auf Ventus 3 gesorgt und Davide wollte nun persönlich mit ihm über Schadenersatz und die weitere Zusammenarbeit verhandeln. Lillith durfte nicht mit. »Ich weiß, dass er mich sabotiert«, sagte Davide, als Lillith sich darüber beschwerte. »Dafür brauche ich dich nicht. Aber die anderen Heiratskandidaten könnten deinen Besuch in Stockholm missverstehen und glauben, dass Sörensens Offerte bereits von uns akzeptiert wurde.«

Lillith zog eine Grimasse und ließ die Bemerkung über ihre baldige Hochzeit im Raum stehen. Kaum war ihr Vater fort, fuhr Lillith auf die Uhlenhorst, um die Schätze in Fritjofs Arbeitszimmer zu heben. Wenn er zurück war, wollte sie ihrem Vater ein alternatives Lebensmodell für seine einzige Tochter präsentieren und ihn überzeugen, die Sache mit der Ehe noch ein paar Jahre auf sich beruhen zu lassen. Fritjof beteiligte sich zunächst an ihrer Suche nach weiblichen Vorbildern in der jüngeren Vergangenheit, ließ sie aber nach einer halben Stunde allein in dem Arbeitszimmer zurück. Was Lillith nicht weiter störte. Dass Fritjof ihren Kampf nicht kämpfte und sie heimlich belächelte, war ihr klar und nichts, was sie ihrem alten Freund übel nahm. Sie war es gewohnt, allein zu arbeiten und statt sich über seine Ignoranz zu ärgern, freute sie sich an den zahlreichen Beispielen von Frauen, die nicht nur Länder regiert, sondern auch große Unternehmen geleitet hatten. Und die dabei offenbar sehr erfolgreich gewesen waren: Deutschland war zu Angela Merkels Zeiten ein wahnsinnig reiches Land gewesen.

Aber irgendwann war etwas furchtbar schief gegangen.

Irgendwann gab es keine Frauen mehr in Führungspositionen. Jedenfalls nicht in Nordland. Wenn über sie berichtet wurde, dann über ihre Garderobe bei den Festen und Bällen, auf denen die Mächtigen mit ihren schönen Frauen feierten: die Rabes, die Hawiks, die Civettas natürlich, sogar die von Eschenburgs hatten damals ganz selbstverständlich dazu gehört.

Lillith versuchte, den Zeitpunkt für den Rückzug der Frauen ins Private zu finden, einen Grund dafür, ein Ereignis, dass erklärte, warum die Frauen den Männern die Welt überlassen hatten. Sie fand ausgedruckte Artikel aus dem Internet, dem Vorläufer des Vidjanetzes, über die Rohstoffkriege vor rund 30 Jahren, als die ganze Welt im Chaos versank, als Russland und China gegen die NATO-Staaten um Rohstoffe in Afrika und Südamerika kämpften, als religiös motivierte Fanatiker die arabische Welt übernahmen, als die gesamte Wirtschaftskraft der entwickelten Länder in die Rüstungsindustrie floss. Frauen nahmen damals deutlich seltener am Verhandlungstisch Platz, aber noch saßen sie mit am Tisch.

Lilliths Geschichtslehrer hatte regelmäßig davon geschwärmt, wie ihr Vater als Teil einer – rein männlichen – Delegation aus Wirtschaftsfachleuten dazu beigetragen hatte, die unsinnigen Kriege zu beenden. Wie diese Delegation den zögernden und zaudernden Staatenlenkern das Heft aus der Hand genommen und gehandelt, wie sie wochenlang verhandelt und schließlich alle Beteiligten zu einem Friedensvertrag bewegt hatte. Zum Glück bevor jemand auf die Idee kam, die nuklearen Waffen einzusetzen, die vor allem während des Bürgerkriegs in den USA, als niemand mehr wusste, wer darauf zugreifen konnte, eine echte Bedrohung für den Fortbestand der Menschheit gewesen waren.

»Ihr Vater hat mit seiner Überzeugung für eine friedliche Welt Maßstäbe gesetzt.« Wie oft sie diesen Satz während ihres Geschichtsunterrichts gehört hatte.

Aber nach dem, was sie in der Bibliothek an Informationen fand, waren es nicht moralisch-altruistische Gründe gewesen, die Davide damals zum Handeln bewogen hatten. Während dieses rund fünf Jahre andauernden Konflikts hatten nur einige wenige Unternehmen wirklich Geschäfte machen können. Die meisten von ihnen Waffenschmieden – und deren Anteile waren unverkäuflich. Kein Wunder, dass die anderen Wirtschaftsgrößen dem ein Ende machten. Ein Kommentar brachte es auf den Punkt: »In einer Welt voller Individuen, die sich nicht für die Gemeinschaft interessieren, in einer Welt, in der 90 Prozent der Bürger demokratische Wahlen verweigern, in so einer Welt dürfen wir uns nicht darüber beschweren, dass die Interessen der Allgemeinheit von denjenigen wahrgenommen werden, die am besten organisiert sind. In manchen Ländern sind das die politischen Parteien, in anderen sind es die Glaubensgemeinschaften, bei uns sind es die Wirtschaftslobbyisten.«

Trotz des mühsam verhandelten Friedens mussten die Jahre danach furchtbar gewesen sein. Das erste, was eingestellt wurde, war die Berichterstattung gewesen. Lillith versuchte, sich aus dem wenigen, was Jakob von Eschenburg noch ausgedruckt hatte, ein Bild über die Jahre kurz vor ihrer Geburt zu machen: Die europäischen Staaten, allen voran die Bundesrepublik Deutschland, waren pleite, niemand sonst auf der Welt fühlte sich bemüßigt, ihnen Geld zu leihen. Also druckten die Verantwortlichen, alles Männer, ihr Geld einfach selbst. Das führte innerhalb kürzester Zeit zur Hyperinflation und vernichtete die gesamten Ersparnisse. Wenn man diese nicht – wie ihr Vater und seine Freunde – rechtzeitig außer Landes gebracht oder in bleibende Vermögenswerte angelegt hatte.

Für die einfachen Menschen musste es eine schlimme Zeit gewesen sein. Es gab Demonstrationen, deutschlandweit, europaweit, aber keinen der Verantwortlichen kümmerte es, was das Volk wollte. Die Regierenden in Berlin waren damit beschäftigt, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Die Politiker in den Bundesländern hatte ohnehin nichts mehr zu sagen. Irgendwann beschlossen die Führungskräfte der Bundesländer Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern, alles Männer, sich nicht länger der Berliner Politik zu unterwerfen und erklärten sich für unabhängig. Was wiederum zu dem kurzen, aber heftigen Separationskrieg führte, der schließlich in dem Nordland mündete, das sie kannte und dessen Gründung vor fast genau 25 Jahren sie bald feiern würden. Ein Land, in dem Frauen nur noch für die Optik zuständig waren.

Als Lillith sich die Liste der aktuell reichsten Länder der Welt ansah, fiel ihr eine deutliche Zweiteilung auf. In den Ländern der Skandinavischen Union gab es zahlreiche Frauen, sowohl an der Spitze von Regierungen als auch in den Unternehmen. Genauso in Kanada. Anders in China und Russland – dort hatten die Männer kein Interesse daran, ihre Macht mit den Frauen zu teilen, sie waren seit Jahrzehnten nur schmückendes Beiwerk. Lillith stöberte weiter und entdeckte, dass die Idee zur Skandinavischen Union, in der sich Schweden, Norwegen, Finnland und Island zusammengeschlossen hatten, von einer Tyra Falk ausgearbeitet und in die Realität umgesetzt worden war. Und dass in all diesen Ländern die Zeit der Rohstoffkriege genutzt worden war, das Wirtschaftssystem so umzubauen, dass man nicht länger von Öl, Gas und seltenen Erden abhängig war. China und Russland hingegen hatten genug Rohstoffe. Sie konnten sich ihr in jeder Hinsicht konservatives Wirtschaftssystem leisten.

Nordland war mit seiner Konzentration auf Windenergie und Landwirtschaft eigentlich in die gleiche Richtung gelaufen wie die Skandinavier. Warum hatten die Frauen sich hier zurückgezogen? Wann hatten sie ihre hart erkämpfte Unabhängigkeit aufgegeben? War ihre Mutter auch nur eine von diesen hübschen Puppen gewesen, die auf roten Teppichen leer in die Kameras lächelten? Lillith starrte die reichlich mitgenommenen Zeitungsausschnitte mit den Bildern ihrer Mutter an. Hätte ihre Mutter sich verheiraten lassen? Sie hatte keine Erinnerungen an sie, kannte nur das Gemälde, das in der Ahnengalerie hing. Larissa von Stolzenburg-Civetta war in dem Jahr nach Lilliths Geburt gestorben. Ihr Vater hatte nie viel darüber erzählt, aber von Maja wusste sie, dass ihre Mutter in die Nachkriegs-Unruhen hineingeraten war, die mit der Blutnacht beendet worden waren.

Lillith fiel die Bemerkung des Mannes in Neugraben wieder ein, der Davide als »Schlächter der Blutnacht« bezeichnet hatte. Maja hatte das mit den Worten kommentiert, sie solle nicht jedem Dahergelaufenen alles glauben, die Wirtschaftsleute hatten doch genau wegen der Blutnacht die dafür verantwortlichen Politiker abgesetzt.

Ob der alte von Eschenburg Unterlagen darüber aufbewahrt hatte? Lillith blätterte weiter durch die Papierstapel. Aber egal in welchem Stapel sie suchte: Über die Blutnacht gab es kein einziges Papier. Die Nacht, die das neugegründete Nordland im ersten Jahr seines Bestehens fast zurück in Chaos und Bürgerkrieg gestürzt hätte, kam in der Bibliothek des Jakob von Eschenburg nicht vor.

Nordland. Hamburg 2059 - Freiheit

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