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Ω Erbe Ω

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Die Fenster waren mit dunklen Stoffen verhängt. Eine einzelne Kerze flackerte auf dem Tisch vor ihm. Tom setzte sich zu Bo und schob ihm ein Bier unter die Nase.

»Trink.«

Bo war kurz davor, das Glas vom Tisch zu schleudern. Aber Tom hob sein eigenes und prostete ihm zu: »Auf deinen Vadder, Bosse.«

Bo nahm einen Schluck. Er schmeckte nichts von dem Bier. Nur Galle, die bitter nach oben kam, sobald er an seinen Vater dachte. Also ständig.

»Wir müssen was tun«, sagte er zum etwa 700. Mal heute. »Irgendwie müssen wir ihn da rausholen.« Und zum etwa 500. Mal ergänzte er: »Ich könnte mich stellen. Ich könnte sagen, dass er nichts mit dem Tod von diesem fetten Bird zu tun hatte. Dass ich den Mann totgeschlagen hab.«

Tom wischte sich den Bierschaum vom Mund. In seinen goldenen Ohrringen schimmerte das Kerzenlicht. Die um seinen Hals tätowierte Schlange schien die Augen zu verdrehen, als er sich zu Bo beugte.

»Joris würd’ nicht wollen, dass du ihm wie ein Schaf nachrennst.«

Bo presste die Fäuste auf die Augäpfel. Mit Heulen war niemandem geholfen. »Aber irgendwas müssen wir doch tun!«

»Und das werden wir. Wann ist die Hinrichtung?«

»Freitag um drei, auf dem Rathausmarkt.« Bo probierte einen weiteren Schluck Bier. Immer noch kein Geschmack. »Die Birds machen ein Volksfest daraus.«

»Gut.«

Ungläubig sah Bo seinen väterlichen Freund an.

»Gut? Was soll daran gut sein, wenn alle meinem Vater beim Sterben zugucken? Oder glaubst du, du kannst ihn dort befreien?«

Tom strich sich über seinen kahlen Schädel.

»Nee. Das schaffen wir nicht und Joris würd’ das auch nicht wollen.«

»Woher willst du das wissen?«

Tom stand auf. Auch in seinen Augen glitzerte es verdächtig. Er ging hinter den Tresen und wischte mit einem Lappen über das glänzende Holz.

»Ist gerade mal ’n paar Tage her, dass wir drüber gesprochen haben, Joris und ich.«

»Dass er hingerichtet werden soll?«

»Nein. Das nicht.« Tom legte den Lappen zur Seite, nahm ein Glas, hielt es ins Licht, entdeckte Flecken, die außer ihm niemand sah, griff sich ein Geschirrhandtuch und polierte die Oberfläche. »Wir haben über die alten Zeiten geredet und was die Birds uns damals alles Tolles versprochen haben und dass sich heutzutage kaum noch einer daran erinnert. Alle glauben, das war immer so, dass die Birds alles haben und wir nix.«

»Ja, und?« Bo wollte Pläne. Er wollte seinen Vater befreien. Er wollte ihn nicht länger Foth und seinen Folterknechten überlassen. Bei der Vorstellung, was sie Joris alles antun würden, um herauszufinden, wer der zweite Mann auf dem Überwachungsfilm war, kam ihm das Bier wieder hoch.

Tom hauchte an dem Glas und putzte weiter, ohne Bo anzusehen.

»Dein Vadder meinte, dass sich die Stimmung im Land gerade dreht. Also jedenfalls bei seinen Patienten. Die würden immer wütender. Stimmt, sag ich zu ihm. Wenn die Jungs abends zu mir kommen, sind die auch nur noch am Meckern. So wie jetzt über die neue Wohnsteuer. Musste zahlen, ob du Geld hast oder nicht, kannste nichts gegen machen. Und da sagt dein Vadder, stimmt nicht, wir können uns wehren. Dafür brauchen wir nur zwei Dinge. Und ich sag, na was denn: Geld und ein anderes Universum? Nee, sagt er, und ist plötzlich ganz ernst, dein Vadder.«

Tom machte sich groß und imitierte Joris’ ernsten Tonfall:

» ›Zum einen brauchen wir den berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Und dann brauchen wir jemanden, der die Wucht dieser Flut gegen die Birds lenkt.‹ Aha, mein’ ich, bei dem Tropfen, ja, das dauert nicht mehr lange, wenn die Birds hier so weitermachen. Aber bei dem Anführer … und während ich noch rede, fällt mir wieder ein, wie du mit deinen Jungs die Quartierswachen organisierst. Wie du mit zwei, drei Sätzen jeden an seinen Platz stellst. Und wie alle tun, was du sagst, ohne lange zu streiten. Und ich frag deinen Vadder: Bosse? Und der nickt. Und ich sag: Ist aber gefährlich. Und dein Vadder sagt: Leben ist gefährlich. Endet immer mit dem Tod. Aber wenn’s so weit ist, dann soll es das wenigstens wert gewesen sein, oder? Puh, wenn er so philosophisch wird, dann weiß ich, dass Zeit ist für einen richtig guten Tropfen und …«

Ein lautes Klopfen unterbrach ihn. Er ging zur Tür und Bo hörte jemanden mit gedämpfter Stimme sagen: »Foths Männer kommen. Sie durchsuchen alle Häuser nach dem zweiten Verdächtigen. Falls du was hast, was sie nicht haben sollen, bring’s in Sicherheit, Tom. Ich muss weiter, die anderen warnen.«

Seine Jungs wussten noch nicht, dass er untergetaucht war. Gestern waren sie die Patrouille ohne ihn gelaufen. Dass Joris verhaftet worden war, hatte sich schnell herumgesprochen. Wenn jetzt nach einem zweiten Verdächtigen gesucht wurde, konnten sie sich den Rest zusammenreimen. Gestern hatte er sich in Toms Keller versteckt. Wenn die Polizei jetzt ernsthaft suchte, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als zu rennen. Er sprang auf.

»Wo willst du hin?«, fragte Tom.

»Weg. Du sollst meinetwegen nicht in Schwierigkeiten kommen. Ich verschwinde.«

»Kannste. Sobald ich dir den Weg gezeigt hab.«

Bo folgte Tom zurück in den Keller, aber statt zu dem alten Lager mit Spinnweben und leeren Fässern führte Tom ihn zum Plumpsklo. Dem Geruch nach floss unterhalb dieser Kammer das gesamte Abwasser des Viertels. Joris hatte bei ihnen zu Hause das alte Wasserklosett immer wieder repariert und es mit Hilfe verschiedener Dichtungen sogar geschafft, den Gestank draußen zu halten. Tom hatte sich diese Mühe offenbar nicht machen wollen.

Oben klopfte es wieder an der Tür. »Aufmachen, Polizei!«

Tom drückte auf einen Stein in der Mauer, der wie auf Schienen nach innen glitt und den Blick auf einen Hebel freigab.

»Aufmachen!«

»Ich komme«, brüllte Tom zurück, als er den Hebel zog. Ein Stück Boden klappte weg.

Oben hörte man das Holz der Tür splittern.

»Am Rand ist die Mocke nicht ganz so tief. Ich muss hoch, sonst brauch ich ’ne neue Tür.«

Bo schob sich durch die Öffnung. Unter ihm war eine Metallleiter an der Wand befestigt. Er kletterte den schmalen Schacht hinunter, hinein in den Siel – ja hier floss das gesamte Abwasser des Viertels. Über ihm klappte der Boden zurück und Bo stand in totaler Finsternis. Er hörte Tom noch rufen: »Lasst meine Tür heile, ich bin doch gleich da, alter Mann is’ kein D-Zug«, und dann hörte er eine ganze Weile nichts mehr.

Nordland. Hamburg 2059 - Freiheit

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