Читать книгу Nordland. Hamburg 2059 - Freiheit - Gabriele Albers - Страница 11
Pakt
ОглавлениеDie Ohrstecker ihrer Vidja filterten einen Teil des Hubschrauberlärms heraus. Aber eben nur einen Teil. Lilliths Kopf fühlte sich an, als ob er von den Rotorblättern in Stücke geschnitten wurde. Immer und immer wieder. Duhnkreihs Emotionen gestern Abend hatten sie ausgelaugt. Wie gerne wäre sie heute auf ihrem Zimmer geblieben, um wieder zu Kräften zu kommen.
Davide hatte darauf bestanden, dass sie ihn zur Eröffnung des neuen Methangasspeichers begleitete.
Aus dem Fenster des Helikopters sah sie die grünen Rasenflächen und die goldenen Beete voller Herbstastern. Die Weitläufigkeit des Parks half gegen die Enge im Kopf, aber nicht gegen den Rotorenlärm. Sie drückte auf das Pflaster an ihrem Unterarm und erhöhte die Schmerzmitteldosis. Es war ihr ein Rätsel, warum ihr Vater die alten kerosingetriebenen Hubschrauber bevorzugte. Die viel angenehmer zu fliegenden und deutlich leiseren Elektrokopter stürzten genauso selten ab.
Das Positive an diesem Ausflug ins südliche Nordland: Sie hatte ihren Vater eine halbe Stunde lang ganz für sich. Niemand würde heute in ihre Mittagsrunde hineinplatzen. Titus, der persönliche Assistent ihres Vaters, saß vorne beim Piloten und war in die Vorbereitungen für die bevorstehende Veranstaltung vertieft. Die Leibwächter beobachteten den Luftraum um sie herum und alle anderen Störenfriede waren zu Hause geblieben.
Sie würde mit ihm über Duhnkreih reden können. Der Bürgerschaftspräsident hatte die Nacht nicht überlebt und Lillith quälte sich mit der Frage nach dem »warum«. Sie wünschte sich überzeugende Argumente von ihrem Vater, Gründe, die ihr eigenes Gewissen erleichterten. Lillith wünschte sich Absolution.
Sie tippte mit ihren Fingerkuppen auf die Armlehnen, beobachtete abwechselnd ihren in Geschäftszahlen vertieften Vater und die Welt auf der anderen Seite des Fensters. In der Ferne hingen Zeppeline in der Luft und sorgten für die problemlose Übertragung der Vidja-Daten. Unter ihr wichen die manikürten Rasenflächen einer grau-braunen Landschaft aus ärmlichen Behausungen, verlassenen Straßen und leeren Plätzen. Hier irgendwo musste gestern Nacht der Überfall passiert sein.
Davide machte weiterhin keine Anstalten, mit der Mittagsrunde zu beginnen. Gut, dann würde sie eben auch arbeiten. Sie nahm eine lippenstiftgroße Schachtel aus der Handtasche, drückte auf einen Knopf und wartete, bis sich die Nanoteilchen neu sortiert hatten. Ein leichter Druck in die Vertiefung ihres goldenen Armreifs aktivierte ihre Vidja und stellte die Verbindung zu dem 21-Zoll-Monitor her, zu dem die Schachtel sich entfaltet hatte. Lillith überprüfte die neu eingegangene Post und löschte ungelesen die zahlreichen Werbe- und Bittbriefe, die es durch die Filter des Systems geschafft hatten. Sie leitete weitere Zusagen zur heutigen Eröffnungsfeier an Titus weiter, speicherte ein aktuelles Angebot für die nächste Generation Windrad-Rotoren und warf einen Blick auf die Tagesordnung für die Bürgerschaftssitzung morgen, bei der ein neuer Bürgerschaftspräsident gewählt werden musste.
Die letzte Nachricht kam von Kuwait Petroleum, die sich für die gute Zusammenarbeit bedankten. Die Araber kündigten an, ab sofort kein Q8-Getriebeöl mehr liefern zu können. Wieder ein Produzent weniger auf dem Weltmarkt. Lillith runzelte die Stirn. Jetzt waren die Russen die einzigen, die synthetische Spezialöle für Windenergieanlagen verkauften. Die Preise würden deutlich steigen. Auch das würde sie gleich mit ihrem Vater besprechen müssen.
Der schien sie heute ignorieren zu wollen. Sie presste die Lippen zusammen. Es war immer das Gleiche. Sie hatte wichtige Dinge mit ihm zu besprechen und er hatte keine Zeit. Dabei hatte er selbst dieses Mittagsgespräch ins Leben gerufen, als er merkte, welches Potenzial dank ihrer Hochsensibilität in ihr steckte. Seit ihrem 16. Geburtstag half sie ihm bei Verhandlungen. Im Gegenzug brachte Davide ihr alles bei, was sie über das Civetta-Imperium wissen musste. In den vergangenen neun Jahren hatte sie die Grundlagen der Betriebswirtschaft, der Energiewirtschaft und des Vermögensmanagements verinnerlicht, Schwedisch, Russisch und Chinesisch gelernt und jede Menge Praxiserfahrung in Taktik und Strategie gesammelt.
Sie war die perfekte Nachfolgerin.
Leider sah das Rollenverständnis Nordlands so eine Position für Frauen nicht vor.
Stattdessen schwebte das drohende Eheschwert nun auch über ihr. Sie verdrängte den Gedanken daran. Zwei Jahre, hatte ihr Vater gestern gesagt. In zwei Jahren konnte noch viel passieren.
Unter ihnen glitzerte die Elbe im Sonnenlicht. Die Reste der Köhlbrandbrücke ragten schwarz in den Himmel. Zu Füßen der Ruine steuerte ein Zollboot langsam durch das flache Gewässer. Bei Ebbe kam der Verkehr in diesem Teil des Hafens fast vollständig zum Erliegen. Nur Schiffe mit wenig Tiefgang hatten noch genug Wasser unter dem Kiel.
Hatte Lillith bislang gedacht.
Als der Hubschrauber leicht den Kurs änderte, sah sie ein Segelschiff, das trotz Wind nicht von der Stelle kam. Es musste auf eine der Sandbänke aufgelaufen sein, die in letzter Zeit an unerwarteten Stellen in diesem Teil der Elbe auftauchten. Sie blinzelte ein paar Mal und aktivierte die Vergrößerungsfunktion ihrer Vidja, aber den Mann, der an Deck stand und das Ufer beobachtete, hatte sie noch nie gesehen. Drei Wimpernschläge später hatte die Datenbank dem auffällig kantigen Gesicht einen Namen und einen Kontakt zugeordnet: Erik Drach, Sohn des vor Kurzem verstorbenen Senators Alexander Drach. »Brauchen Sie Hilfe?«, twinkerte Lillith ihm zu. Drach kniff die Augen zusammen und suchte nach dem Absender der Nachricht. Lillith lächelte freundlich und hob grüßend die Hand zum Fenster, ließ sie aber sofort sinken, als sie ein schlichtes »Nein« empfing.
»Dann warte halt, bis die Flut kommt«, murmelte sie und speicherte aus einem Impuls heraus diesen kurzen Dialog. Damit er ihr später nicht vorwerfen konnte, sie hätte ihm ihre Hilfe verwehrt.
Endlich aktivierte ihr Vater den abhörsicheren Kommunikationskanal seiner Vidja. »Also Lillith, was beschäftigt uns heute?«, fragte er. Der Lärm des Hubschraubers bildete nach wie vor die schrappende Hintergrundkulisse, trotzdem hörte sie die Stimme ihres Vaters dank Knochenschall klar und deutlich in ihrem Kopf.
Sie zupfte an ihren mit Goldfäden durchzogenen Röcken. »Willem Duhnkreih ist gestern Nacht im Armenviertel überfallen und totgeschlagen worden.«
»Ja, ich weiß. Gibt es bereits Details?«
Lillith spürte nach. Ihr Vater hatte nicht den Hauch eines schlechten Gewissens. Unglaublich. Sie fasste die Nachrichten zusammen: »Laut Heimatschutzbehörde ist Duhnkreihs Auto im Schanzenviertel liegengeblieben. Man vermutet technisches Versagen. Er wurde zusammengeschlagen und ist noch auf der Straße an seinen inneren Verletzungen gestorben. Sein Auto wurde gestohlen, ebenso seine Kleidung und seine – Vidja.«
Lillith versagte die Stimme. Sie sah wieder das Bild vor sich, das von der Heimatschutzbehörde am Vormittag veröffentlicht worden waren: der nackte, massige Körper, die leeren Augenhöhlen mit dem angetrockneten Blut. Das hatte sie nicht gewollt.
Sie räusperte sich. »Was sagen wir, wenn uns jemand nach ihm fragt?«
Davide hatte ihre kurze Pause anscheinend nicht bemerkt.
»Willem hat mich besucht, wir haben Geschäftliches besprochen, dann ist er gefahren.«
»Was ist, wenn ich mich getäuscht habe? Wenn er gar nicht vorhatte, dich …?« Sie brauchte den Satz nicht zu beenden.
Die dunklen Augen ihres Vaters bohrten sich in ihre. »Warum solltest du dich getäuscht haben?«
»Ich weiß nicht. Hast du den Tee analysieren lassen?« Sie hoffte, dass Fakten ihre Gefühle bestätigten. Empathie war eine ungenaue Wissenschaft.
»Dafür war gestern Abend keine Zeit.«
»Und heute?«
Davide antwortete nicht. Was Antwort genug war.
Willem Duhnkreih war von ihrem Vater mit einer fehlerhaften Energieanzeige nach Hause geschickt und im Armenviertel zu Tode geprügelt worden, weil sie seinen unbändigen Hass gefühlt hatte. Weil sie geglaubt hatte, dass dieser Hass in einem Mordanschlag gipfeln würde. Sie hätte ihn genauso gut selbst umbringen können.
»Gab es keine Alternative?« Sie versuchte, ihre Stimme sachlich kontrolliert zu halten, ihr Schuldgefühl nicht zu zeigen. Ihrem Vater war diese ganze Gefühlsduselei zuwider. »Er war einer deiner ältesten Freunde. Ihr seid zusammen zur Schule gegangen.«
Davide fuhr sich durch sein weißes Haar. Für einen Moment kam Lillith der Gedanke, dass die Schuldgefühle nicht nur ihre eigenen waren.
»Er wusste, dass er einen so massiven Verstoß gegen unseren Pakt mit dem Leben bezahlen würde.«
Lillith schwieg. Der Pakt. Die Grundlage Nordlands. Ihr Vater war bei der Neuordnung damals federführend gewesen. Er und seine Freunde, alles Unternehmer, hatten schnell begriffen, dass ihr kleines Land im Norden der ehemaligen Bundesrepublik auf Dauer nur bestehen konnte, wenn die Elite sich nicht in sinnlosen Führungskämpfen selbst auslöschte. Also hatten sich die Männer Nordlands auf ihre Stärken konzentriert, Landwirtschaft und Windenergie, und gemeinsam ein rechtsstaatliches Wirtschaftssystem aufgebaut, das schnell zu einem echten Wettbewerbsvorteil geworden war. So viele Länder gab es nicht mehr, die friedlich waren und funktionierten. Um diesen Zustand auf Dauer zu erhalten, hatten sich die führenden Familien Nordlands auf den Pakt verständigt, der unter anderem besagte, dass sie sich gegenseitig niemals schaden würden. Jeder von ihnen hatte die Mittel, die anderen aus dem Weg zu räumen. Aber allen war bewusst, dass – sobald sie zu diesen Mitteln griffen – die Kämpfe um ihr persönliches Überleben im Bürgerkrieg enden würden.
Fast 25 Jahre war dieser Pakt nun alt. Seit 25 Jahren hatte die Führungsriege das Geld in die Entwicklung ihrer Unternehmen statt in Waffen gesteckt, sie hatte prosperiert und ein kleines, feines Land geschaffen, das vielleicht nicht perfekt, aber im Vergleich zu den Nachbarländern schon ziemlich gut war. Für Lillith war der Pakt immer etwas Selbstverständliches gewesen. Etwas, das nicht in Frage gestellt wurde. Etwas, an das sich alle hielten, weil alle den Sinn dahinter verstanden. Willems Anschlag war völlig überraschend gekommen.
»Gab es früher eigentlich Verstöße gegen den Pakt?«, fragte sie.
»Ganz zu Beginn gab es ein paar Probleme mit weniger bedeutenden Familien, aber die haben wir lösen können. Willems Versuch ist der erste aus dem alten Gründerkreis.« Davide strich sich durchs Gesicht und Lillith fühlte sein Bedauern.
»Seine finanzielle Situation muss prekärer gewesen sein, als ich gedacht habe.« Davide griff zu seinem Manschettenknopf. Er schien das Gespräch beenden und sich wieder an seine Arbeit machen zu wollen. Lillith legte ihre Hand auf seine. Sie war noch nicht fertig.
»Aber warum musste er sterben? Hätte man ihn nicht anders bestrafen können, ins Gefängnis stecken oder ins Exil schicken?«
»Nein. Wenn jemals öffentlich wird, dass Willem mich umbringen wollte, wird es das Ende von Nordland sein. Wenn nur ein einziger offen den Pakt missachtet, dann wird sich kein anderer mehr daran halten. Das wäre das Ende unseres friedlichen Zusammenlebens.« Davide umfasste Lilliths Hände mit seinen. »Deshalb darfst du niemals über diesen Vorfall reden.« Er drückte ihre Hände fest zusammen. »Glaub mir, diese Entscheidung war eine der härtesten meines Lebens. Aber manchmal ist das Opfer eines einzelnen der einzige Weg, um das Leben aller anderen zu schützen.«
Lillith entzog sich ihm. »Es gibt immer mehr als einen Weg. Man muss nur intensiv genug darüber nachdenken.«
Unter ihnen erstreckten sich riesige Maisfelder. Ein grünes Dickicht aus Stangen und Blättern, kurz vor der Ernte. Manchmal entdeckte Lillith eine kleine Siedlung um einen Gutshof herum. Ansonsten war das Land menschenleer, bewirtschaftet von Maschinen, die keine Fahrer benötigten, bewacht von Drohnen, die jeden unbefugten Eindringling sofort betäubten, bevor sie die Sicherheit verständigten.
Davide hatte mit Lillith über das Ende von Q8 diskutiert, aber ihre Sorgen über das russische Monopol auf die speziellen Windkraft-Getriebeöle nicht geteilt. Dann hatte er sich wieder in seinen eigenen Bildschirm versenkt und an seiner Rede gefeilt.
»Hast du gesehen, dass Heinrich Schedalke kommen wird?«, fragte Lillith, als die aluminium-glänzenden Rohre und Türme der Methangasspeicheranlage unter ihnen auftauchten.
»Mhm.« Davide machte keine Anstalten sich vom Bildschirm zu trennen.
»Beunruhigt dich das nicht? Immerhin hat er gedroht, dir den Speicher notfalls mit Gewalt zu nehmen.«
Davide seufzte und reduzierte seinen eigenen Vidja-Bildschirm auf Streichholzkistenformat.
»Ich habe den größten unterirdischen Gasspeicher Westeuropas instand setzen lassen. Natürlich hätten die Westfalen ihn auch gerne, jetzt, wo er wieder funktioniert. Aber Rehden gehört zu Nordland. Mit allem was auf und unter der Erde ist. Schedalke hat nicht die Mittel, daran etwas zu ändern, weder als Geschäftsmann noch als Mitglied der westfälischen Regierung. Diese Drohung ist ein ziemlich durchsichtiges Manöver, um vom Bürgerkrieg im eigenen Land abzulenken.«
»Und du meinst, eine Einladung reicht, um ihn zu befrieden?«
»Nein. Vermutlich nicht. Ich habe ihn deshalb auf die Liste deiner potentiellen Heiratskandidaten setzen lassen.«
»Du hast was?«
Davide sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Lillith mühte sich, die Kontrolle über ihre Emotionen zurückzubekommen. »Aber er ist nicht wirklich einer der Kandidaten, oder?«
»Natürlich nicht.«
»Und du hast keine Sorge, dass er sich rächt, wenn ihm klar wird, dass er nur Füllmasse war?«
»Er wird in einem fairen Verhandlungswettkampf ausscheiden und nicht bemerken, dass er nie zur Debatte stand.«
»Hoffentlich behältst du recht.«
»Selbst wenn nicht: Heute wird er sich jedenfalls zurückhalten.«
Der Hubschrauber landete mitten auf dem Firmengelände, nur wenige Schritte vom Festplatz entfernt. Am Arm ihres Vaters ging Lillith zum Hauptzelt. Aus dem Augenwinkel sah sie eine Reihe armseliger Behausungen, ganz schief und grau. Aus den Fenstern schauten blasse Gestalten auf die Veranstaltung vor ihrer Haustür. Lillith zog ihr Schultertuch enger. Sie fröstelte.
»Was sind das für Leute?«
Davide blickte in die Richtung, in die Lillith zeigte.
»Ehemalige Landarbeiter.«
»Warum sind die hier?« Lillith spürte Gram und Resignation.
»Es gab ein paar Familien, die unser Angebot für neuen Wohnraum nicht annehmen wollten, nachdem ihre Häuser bei den Vorbereitungsarbeiten abgesackt sind. Sie wollten lieber hier bleiben und ich habe anderes zu tun, als die Leute zu ihrem Glück zu zwingen.«
Unter den ganzen Kummer mischte sich Wut. Offenbar hatten einige der Anwohner Davide erkannt. Lillith drehte sich weg von den Menschen. Nicht schon wieder so intensive Gefühle. Ihre Kopfschmerzen hatten gerade erst nachgelassen.
Sobald sie das Zelt betraten, brandete Applaus auf. Davide nahm seinen Borsalino ab und ging, freundlich nach links und rechts grüßend, zum Rednerpult. Nach einer Stunde voller Ansprachen, Grußworten und Dankesreden schritt Davide zum Gashahn und drehte an dem großen, extra für diese Gelegenheit am Ventil angebrachten Metallrad. Windgas, das Elixier der modernen Gesellschaft, floss aus den großen Umwandlungsanlagen an den Küsten in den unterirdischen Speicher. Unsichtbar, geruchlos, sauber. Mit diesem Speicher war die Energieversorgung Nordlands für Monate gesichert.
Lang anhaltender Applaus beendete den offiziellen Teil. Auch der westfälische Handelsminister und Geschäftsfeind Heinrich Schedalke applaudierte. Langsam. Kraftsparend. Lauernd.
Der Wind bauschte Lilliths Röcke, als sie eine Stunde später wieder in den Hubschrauber stieg. Lillith spürte die Nervosität des Piloten und überprüfte die Wettervorhersage. Ein Sturmtief näherte sich von Nordosten, aber sie sollten zurück in Hamburg sein, bevor es in ihre Nähe kam.
Sie schafften es nicht einmal bis zur Elbe.
»Wir müssen landen. Sofort!« Der Pilot hatte panische Angst, Lillith krallte sich an den Armlehnen fest, ihr Atem ging flach und schnell, in ihren Ohren dröhnte es. Der Helikopter sackte ein Stück nach unten.
Davide sah stirnrunzelnd von seinem Bildschirm auf und nach draußen. Der Wind peitschte Regentropfen an die kleinen Fenster. Mehr war in dem schwarz-grauen Wolkenmeer um sie herum nicht zu sehen. Ein Windstoß schob den Heckausleger zur Seite, der Pilot steuerte sofort dagegen, Lillith biss sich auf die Lippen, um den Schrei nicht herauszulassen. Als ob die eigene Angst nicht schlimm genug war.
»Ich kann den Heli nicht mehr lange in Position halten, Senator Civetta.«
»Sie werden fürs Fliegen bezahlt, nicht fürs Jammern«, mischte sich Titus ein.
»Wo sind wir?«, fragte Davide.
»Etwa 20 Kilometer südlich der Elbe.«
»Stellen Sie sich nicht so an.« Titus wieder. »Es ist doch nur noch ein Katzensprung bis zum Anwesen der …«
»Wir landen«, unterbrach Davide seinen Assistenten. »Versuchen Sie, so nahe wie möglich an die Autobahn zu kommen.«
»Sie haben gehört, was der Chef gesagt hat. Landen, sofort.«
Die Panik des Piloten ließ nach, er wusste, was er zu tun hatte und steuerte den Hubschrauber langsam Richtung Boden. Die Windstöße schienen nachzulassen.
Lillith löste ihre Hände von den Armlehnen und schaltete den Bordfunk aus. »Kannst du bitte Titus entlassen?«, schickte sie als stumme Nachricht auf die Kontaktlinse ihres Vaters.
»Warum? Er ist klug, ehrgeizig und loyal«, bekam sie zur Antwort.
»Ein Opportunist ohne eigene Meinung.«
»Für Diskussionen habe ich ja dich. Organisiere uns bitte Limousine und Geleitschutz.«
Lillith öffnete den Kommunikationskanal. Die Windstöße wurden erneut heftiger. Sie twinkerte dem Fuhrpark die Anweisungen und war froh, sich dabei wieder an den Armlehnen festkrallen zu können. Ihre Vidja sendete die aktuelle Position. »20 Minuten bis zum Rendezvous«, meldete das System und mit einem letzten, viel zu heftigen Ruck setzte der Hubschrauber auf. Nur um sofort wieder den Kontakt zum Boden zu verlieren. Die Kabine überschlug sich, dann ein Ruck, ein weiterer Aufprall, noch ein Ruck. Lillith wurde in die Gurte gedrückt, um die eigene Achse geschleudert, sie schrie, sie hörte und fühlte die Todesangst der anderen, die Sekunden dehnten sich, während die Rotorblätter des Hubschraubers mit einem lauten Knall zerbarsten und zusammen mit der von ihnen aufgewühlten Grasnarbe davonflogen.
Und dann war alles ruhig.
Draußen verschwand die Welt in einer Matschwolke.
Schmerzen, Verwirrung, Angst. Lillith hing kopfüber in ihrem Sitz, gehalten von dem Gurt, gepolstert von den Luftkissen, die sich um sie herum aufgeblasen hatten. Sie stützte sich an der Decke ab, die nun der Boden war, löste die Gurtschnalle und machte eine wenig elegante halbe Rolle. Neben ihr kam Davide auf die Füße, der Pilot drückte bereits zusammen mit den Leibwächtern gegen die Tür, niemand schien ernsthaft verletzt worden zu sein. Mit einem Knall riss der Wind die halb geöffnete Tür aus der Verankerung und heftiger Regen prasselte auf sie ein.
»Dahinten sind Hütten, vielleicht bieten die uns ein bisschen Schutz«, rief der Pilot. Er schob sich nach draußen und reichte Davide die Hand.
»Was für ein Wetter«, murmelte der und kletterte behände aus dem Helikopter. Er drückte den Borsalino fest auf seinen Kopf, bevor er Lillith heraushalf.
Sie waren auf einer kahlen Anhöhe gelandet, an deren Rand halb verfallene, barackenartige Häuser standen. Der nächste Windstoß riss Davides Hut davon und blähte Lilliths Rock wie das Hauptsegel eines Dreimasters. Die Absätze ihrer Pumps versanken im Matsch, Lillith ließ sie zurück. Davide griff nach ihrer Hand und lief los, aber mit ihrem eng geschnürten Korsett konnte sie sein Tempo nicht mitgehen. Sie blieb stehen und versuchte, den Knoten zu lösen. Keine Chance. Maja hatte sie heute Morgen gründlich verpackt. Dafür schien der Sturm nur auf so eine Gelegenheit gewartet zu haben: Er verfing sich in ihren Röcken, gleich würde sie abheben. »Hilfe«, twinkerte sie an ihren Vater. Kurz fürchtete sie, mit wehenden Röcken von einer Sturmbö davongetragen zu werden, da fassten die beiden Leibwächter sie an den Armen und erdeten sie.
Ein Rudel wilder Hunde kam ihnen mit aufgerissenen Mäulern entgegen. Der Sturm war lauter als ihr Kläffen. Und lauter als die Schüsse, die einer der Leibwächter auf sie abfeuerte und mit denen er drei, vier, fünf von ihnen erschoss. Die überlebenden Hunde rannten zurück zu den flachen Ruinen. Lillith bemerkte erst jetzt, dass in einer der Türöffnungen jemand stand. Hinter ihm flackerte ein Licht. Auch der Leibwächter, der gerade die Hunde erschossen hatte, bemerkte ihn und hob die Pistole.
»Nicht!«, brüllte Lillith gegen den Sturm an. Sie spürte die knochentiefe Angst des Unbekannten. Im nächsten Moment schlug er die Tür zu und das gesamte Haus versank im Dunkelgrau des Unwetters.
»Seit wann leben hier Menschen?«, twinkerte sie an Davide. »Ich dachte, der alte Drach hat seinen Besitz komplett räumen lassen.«
»Wir sind nicht in Wilhelmsburg«, las sie auf ihrer Kontaktlinse. »Das hier muss Neugraben sein.«
Neugraben! Neugraben war Niemandsland. Es gehörte zu den Vierteln, für die sich bei der Neuaufteilung Nordlands niemand interessiert und die man deshalb den Armen der Stadt und dann sich selbst überlassen hatte. Eine der Gegenden, in die man sich besser nicht verirrte. Oder notlandete.
Sie überprüfte die Karte ihrer Vidja. Drei helle Punkte bewegten sich langsam in Richtung Süden. Die Fahrzeuge hatten noch nicht einmal die Grundstücksgrenze des Civetta-Anwesens erreicht. Noch 18 Minuten bis die Verstärkung hier war. Ihren Vater schien das nicht zu kümmern. Er hämmerte an die Tür, die sich gerade eben erst geschlossen hatte.
»Ich glaube nicht, dass der Mann gut auf uns zu sprechen ist«, twinkerte Lillith.
»Warum rennen seine Hunde auch frei herum?«, bekam sie zur Antwort. »Das Problem lösen wir mit ein paar Nordmark.«
Die Tür öffnete sich, erst nur einen Spalt, dann weiter, und Davide winkte ihr und den beiden Leibwächtern ungeduldig zu. Titus hatte bereits ein Bündel durchnässter Geldscheine aus seiner Jacke gezogen und hielt es jemandem vor die Nase. Der Mann hatte das Feingefühl eines Betonsenkkastens.
Je näher Lillith kam, desto stärker wurden die Gefühle von Angst, Unsicherheit und von Trauer. Um die Hunde? Aber die Menschen, die in diesem Haus wohnten, schienen keine Rachegelüste zu hegen, unter all der Angst und Unsicherheit war Resignation das vorherrschende Gefühl. Gut. Wenigstens mussten sie sich keine Sorgen um ihre Sicherheit machen. Sie löste sich von den beiden Leibwächtern und trat über die Schwelle.
Eine dichte, feuchte Wärme hatte sich dank eines Kanonenrohrofens in dem kleinen Raum breitgemacht. Die Löcher, die einmal Fenster gewesen waren, hatten die Bewohner mit schimmliger Pappe verklebt. Es stank nach ungewaschenen Menschen und feuchter Wolle – und nach Kohlsuppe. Der schmiedeeiserne Topf auf dem Ofen schien die aktuelle Mahlzeit zu enthalten. Um den Tisch in der Mitte des Raums hatte sich die Familie versammelt, die Hausherrin stand am Ofen und versuchte, Blickkontakt zu ihrem Mann aufzunehmen. Der Mann war riesig, bestimmt zwei Köpfe größer als Lillith. Er starrte auf Davide herab, die Arme vor der Brust verschränkt. Eine ältere Frau, seine Mutter?, zupfte an seinem Ärmel. Eine Fliege hätte mehr Eindruck hinterlassen. Ein halbes Dutzend Orgelpfeifenkinder blickte die Neuankömmlinge mit großen Augen an. Die Kerze auf dem Tisch brannte ohne das geringste Flackern.
»Wir können …«, begann Titus und wedelte wieder mit dem Geldbündel, aber Davide brachte ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen.
»Angst«, twinkerte Lillith, »Zorn und Stolz. Titus soll endlich das Geld wegstecken.«
Der Wind heulte um die Baracke.
Mit einem kurzen Nicken bot der Hausherr Davide einen Platz an.
»Sie haben Ihre Leute kontaktiert?«
»In einer Viertelstunde belästigen wir euch nicht länger.«
Jemand hämmerte an die Tür.
»Peer, ich bin es, Lasse.«
Peer öffnete die Tür einen Spalt breit.
»Was willst du?«
»Hast du den Hubschrauber gesehen? Ich hab den anderen Jungs schon Bescheid gesagt. Die Insassen können noch nicht weit gekommen sein.«
Lillith spürte eine unbändige Lust und Gier. Als ob ihr Vater seine Geschäftsfreunde zur Jagd geladen hätte.
»Kein Interesse.«
»Aber Peer, denk doch mal nach, was da für ein Lösegeld fällig wird. Das muss einer der Birds gewesen sein, der da vom Himmel gefallen ist.«
»Ich mach bei sowas nicht mit.« Peer schlug die Tür zu und drehte sich wieder zu ihnen, das Gesicht unlesbar, das Gefühlsleben chaotisch. Er blickte kurz zu seiner Frau, die ihm zunickte.
»Komm, Tonja, lass uns endlich zu Abend essen.«
Tonja nahm ein fast leeres Schraubglas vom Regal und schüttete die wenigen Kräuter in eine dickbäuchige Teekanne. »Wir müssen morgen nochmal los und Kräuter suchen«, sagte sie zu ihrer ältesten Tochter. »Begleitest du uns, Kimon?« Das war an den ältesten Sohn gerichtet, der schon fast die Statur seines Vaters hatte. »Muss das sein?«, murmelte er. »Ich wollte morgen …«
»Seit wann lassen wir unsere Frauen ohne Schutz vor die Tür, Kimon?« Peer sprach langsam und gedämpft. »Wenn du in diesem Winter Tee möchtest, begleitest du deine Mutter und deine Schwester.«
Tonja drückte Lillith einen angeschlagenen Emaillebecher in die Hand. Lillith schnupperte an dem aufsteigenden Dampf. Pfefferminze.
»Wir schicken euch Tee und Kräuter«, bot Lillith an. »Als Dank für eure Hilfe und dass ihr nicht …« Lillith zeigte mit dem Kopf zur Tür. »Tut mir wirklich leid, die Sache mit den Hunden.« Sie schaute auf ihren Tee. »Können wir es wieder gut machen?«
»Genug zu Kreuze gekrochen!«, las sie auf ihrer Kontaktlinse.
Sie ignorierte Davide. »Was braucht ihr?«
»Nichts.« Peer drehte sich zu seiner Frau. »Wir haben alles, was wir brauchen, nicht wahr?«
Tonja nickte, aber der Stolz – das einzige, was dieser Peer im Überfluss besaß – wurde von Tonjas Verzweiflung überlagert. Lillith folgte ihrem Blick. Auf dem schmalen Regal standen mehrere Schraubgläser, die meisten davon leer. In einigen glaubte Lillith, Reste von Zucker und Mehl zu erkennen. Ein paar mickrige Kohlköpfe lagen in einer Schüssel, daneben verschrumpelte Kartoffeln voller Triebe. Neben dem Ofen lagen zwei, drei Holzscheite. Der Rest war Gestrüpp, das innerhalb von Minuten verbrennen würde.
Lillith nippte an ihrem Tee. Tonja rührte in der Suppe und eines der Mädchen stellte Teller auf den Tisch. Sie scheuchte ihre Geschwister fort und bat die Civettas und ihre Angestellten, Platz zu nehmen. Tonja füllte allen dünne Kohlsuppe auf und schnitt einen kleinen Laib Brot in Scheiben.
Davide ließ seinen Teller unangetastet vor sich stehen.
Lillith zögerte, unsicher, ob sie aus Höflichkeit essen oder angesichts der schmalen Gesichter der Kinder das Essen ablehnen sollte. Sie entschied sich, das Verhalten ihres Vaters zu kopieren.
Titus aß, als ob er seit drei Tagen gehungert hätte.
Der Pilot und die beiden Leibwächter winkten ab. Sie blieben neben der Tür stehen, bereit, sofort aufzubrechen, wenn Davide das Kommando gab.
Niemand redete. Die Kinder beobachteten fassungslos, wie Titus zwei weitere Scheiben Brot aß.
»Es reicht, Titus«, twinkerte Lillith.
Aber der reagierte nicht, sondern tunkte eine weitere Scheibe Brot, die letzte, in seine Suppe.
Jemand trommelte an die Tür. Davides Augen bewegten sich hin und her, er schien Kommandos zu twinkern. Noch bevor Peer aufgestanden war, hatten die neu angekommenen Sicherheitskräfte der Civettas die Tür bereits eingetreten. Lillith schaute entschuldigend zu Tonja, die mit offenem Mund die Männer und ihre Waffen anstarrte. Die beiden kleinsten Kinder fingen an zu weinen und versteckten sich hinter ihrer Mutter.
»Musste das sein?«, herrschte Lillith die Männer an. »Es gab wirklich keinen Grund für so ein …«
»Gut, dass ihr so schnell gekommen seid«, unterbrach Davide sie und ging ohne ein weiteres Wort des Dankes an Peer vorbei. »Komm, Lillith!«
»Es tut mir leid«, flüsterte sie und hoffte, dass Tonja ihr glaubte.
Peer beugte sich zu seiner Frau: »Vom Schlächter der Blutnacht war nichts anderes zu erwarten.« Tonjas Antwort wurde von einem weiteren »Komm jetzt, Lillith« übertönt.
Lillith stolperte über eine der herausgerissenen Türangeln. Die scharfe Kante schnitt in ihre nur von Nylon bedeckten Zehen. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte sie nach draußen. In ihrer Vidja-Navigation markierte sie das Haus ihrer Gastgeber und twinkerte eine Nachricht an sich selbst: »Nahrung und Energie schicken (Maja).«
Lillith setzte sich Davide gegenüber und untersuchte den verletzten Fuß: Ein glatter Schnitt, aber nicht allzu tief. Blut tropfte auf das helle Leder. Davide reichte ihr mit angewidertem Ausdruck ein Taschentuch, das sie auf die Wunde drückte. Sie spürte Ärger und Zorn und wollte sich gerade bei ihrem Vater für die Blutflecke entschuldigen, als sie bemerkte, dass der Ärger nicht von ihm ausging. Vor den Baracken standen Männer, die mit gierigen Blicken ihre Kolonne verfolgten. Angesichts der bis unter das Dach munitionierten Geländewagen wagten sie nicht, näher zu kommen. Lillith konnte durch die Panzerglasscheibe die Behausung erkennen, in der sie 20 Minuten lang sicher gewesen waren. Peer hatte die Reste der zersplitterten Tür wieder in die Öffnung gestellt, aber das letzte bisschen Wärme würde in wenigen Minuten aus ihrer kleinen Hütte verschwunden sein. Das Kerzenlicht flackerte und erlosch. In dem roten Licht ihrer Rückleuchten bewegten sich die Männer langsam durch den Sturm auf Peers Hütte zu. Voller Zorn. Voller Wut.
Wenige Minuten später erreichten sie die Mauer, die den Hamburger Hafen vor dem Mob schützte. Die Einfahrt zum Hafengebiet war mit einer automatischen Kontrolle gesichert. Lillith hob die Hand ans Fenster und drehte den Kopf, damit die Kameras ihre biometrischen Daten abgleichen konnten. Aber das Eingangstor stand bereits offen. Lillith spürte Davides Nervosität und durchsuchte die Vidja nach Neuigkeiten. Weder die aktuellen Berichte der Heimatschutzbehörde noch die Protokolle der Hafenaufsicht zeigten ungewöhnliche Aktivitäten, die das geöffnete Tor erklärten.
»Vermutlich ein technischer Defekt aufgrund des Sturms«, sagte Davide. »Wir sollten trotzdem Erik Drach informieren. Titus!« Davide verschwand hinter seinem Vidja-Monitor, Lillith lehnte sich zurück und versuchte, das ungute Gefühl zu ignorieren, dass sich in der Limousine breit machte. Sie war jetzt in Sicherheit. Trotzdem blieben ihre Handflächen feucht.
Vor ihnen lag der Elbtunnel. Sie traute diesem Bauwerk nicht. Lieber querte sie die Elbe mit dem Hubschrauber oder, wenn das nicht ging, über die Brücke bei Moorfleet.
Davide hasste Umwege.
In einer langgezogenen Linkskurve näherte sich ihre kleine Kolonne der letzten verbliebenen Elbröhre. Drei Röhren hatte sich die Elbe im vergangenen Jahr mit tatkräftiger Unterstützung eines tief liegenden Containerschiffes zurückerobert. Dessen Kiel hatte die ersten beiden Elbtunnel-Röhren aufgeschlitzt. Erst die dritte Röhre bremste das chinesische Schiff so weit ab, dass es kurz vor der vierten zum Halten kam.
Die Entschädigungszahlungen waren lachhaft gewesen. Aber was war Nordland im Vergleich zu China? Bürgermeister Rabe – reich geworden mit dem Bau von Straßen und immer noch verantwortlich für das gesamte Straßennetz Nordlands – hatte mit dem Geld nicht viel reparieren können. Er hatte die Straße neu asphaltiert, die Kacheln komplettiert und mit strahlender Lichttechnik dem Tunnel das Düstere genommen. Die Fahrstreifenbegrenzung leuchtete in frischem Weiß und Verkehrsschilder wiesen darauf hin, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung bei
80 km/h lag. Sogar die Höhenkontrolle funktionierte. Behauptete Rabe. Lillith wusste es besser: Die Fassade war hübsch anzusehen, dahinter verrottete die Substanz.
»Hat Rabe schon neue Pläne für die Sanierung bekanntgegeben?«, fragte Lillith.
»Pläne hat unser Bürgermeister genug. Aber ihm fehlt das Geld, sie umzusetzen.« Davide sah aus dem Fenster. »Beim nächsten Mal sollten wir den Weg über Moorfleet nehmen. Ich traue der Statik nicht mehr.«
Lillith sah, was er meinte. An einigen Stellen liefen Rinnsale die Wand hinunter und verdarben den strahlenden, intakten Eindruck. Schwitzwasser wegen der mangelnden Belüftung? Oder Elbwasser? Sie tauchten weiter hinein in die Tiefe des Tunnels; ihr Fahrer wurde unwillkürlich langsamer – ein Phänomen, das so alt war wie der Tunnel. ›Kachelzähler‹ hatte ihr Hauslehrer die Autofahrer genannt, die das Tempo reduzierten und den ganzen Verkehr aufhielten. Zu einer Zeit, als täglich unvorstellbare 150.000 Autos unter der Elbe hindurchfuhren.
Sie entspannte sich, als sie sich dem untersten Punkt des Tunnels näherten. Ihre Leibwächter im Wagen vor ihnen hatten schon fast die andere Seite der Elbe erreicht.
Mit einem Ruck wurde sie in ihren Gurt gepresst. Reifen quietschten und Lillith rechnete damit, dass der Geländewagen hinter ihnen ihre Limousine rammte. Aber die automatischen Fahr- und Sicherheitssysteme funktionierten. Sie standen. 30 Meter unterhalb der Wasseroberfläche. Die Lampen im Tunnel erloschen, nur die Scheinwerfer ihrer Autos sorgten für Licht. Davide ließ die Scheibe herunter, die den Passagierbereich von dem des Fahrers trennte. »Bericht!«
Der Fahrer drehte sich zu ihnen um. »Die automatische Vollbremsung ist ausgelöst worden. Entweder befindet sich etwas auf der Straße, was dem Geländewagen vor uns nicht aufgefallen ist, oder …« Er drehte sich wieder nach vorne, offenbar nicht bereit, den Satz zu Ende zu bringen.
»Oder was?«, fragte Lillith.
»Oder jemand hat unsere Umfeldsensorik geknackt.«
»So ein Unsinn«, sagte Davide. »Die Systeme sind doppelt und dreifach gesichert. Ganz abgesehen davon, dass die Fahrsensorik unserer Limousine ein extrem uninteressantes Ziel ist. Wahrscheinlich hast du nur die Laserscanner nicht vernünftig gereinigt. Fahr weiter. Wir sehen ja, wenn etwas im Weg ist.«
Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Wieder registrierte Lillith dieses Gefühl von Jagdlust. Davide war genervt, der Fahrer ebenso, sie verströmten eine Menge schlechte Laune, aber keine gespannte Erwartung. Dabei fühlte sie es ganz deutlich. Als ob gleich ein großes Abenteuer losgehen sollte. Und da begriff Lillith endlich.
»Wir sind nicht allein!«, rief sie und twinkerte »Höchste Alarmstufe! Volles Licht!« an die Leibwächter. Die auf dem Dach des Geländewagens montierten Scheinwerfer tauchten den Tunnel in grelles Weiß. Schatten lösten sich von den Wänden, einer von ihnen war nur noch wenige Meter von ihrem Auto entfernt, eine Pistole auf sie gerichtet.
Von irgendwoher kam ein Schuss, ein zweiter löste sich fast zeitgleich. Zwei Wimpernschläge später hallte der Tunnel wider von Schüssen, Schreien und Befehlen. Ihr Fahrer schaltete auf »manuell«, gab Gas und überfuhr einen Schatten. Einer der Leibwächter schrie: »Raus aus dem Tunnel, raus, nach vorne raus!«
Kugeln prallten von ihrer Panzerung ab. Hinter ihnen explodierte etwas Großes, das wie eine Granate aus einem Kriegsfilm klang. Lillith drehte sich um. Der Wagen ihrer Leibwächter folgte ihnen. Sonst war nichts zu sehen. Ein großes schwarzes Etwas kam hinter ihnen her, die Rücklichter waren nicht hell genug, um mehr zu erkennen. Das Schwarz füllte den ganzen Tunnel. Die Schreie verstummten …
»Wassereinbruch. Schnell! Raus hier!«
Ihre Angst mischte sich mit dem Schrecken Davides und der Panik des Chauffeurs, der das Gaspedal durchtrat, bevor Davide überhaupt »Gib Gas!« gebrüllt hatte.
Die Elbe schlug mit voller Gewalt in den Tunnel hinein, eine Wand aus Wasser walzte auf sie zu. Sie fuhren an schwarzen Gestalten vorbei, die um ihr Leben rannten, wie Ratten auf einem untergehenden Schiff. Die Tür eines Notausgangs stand offen, ein Mann lief hindurch, er stoppte kurz, sah sich nach den anderen um – und Lillith sah in die Fratze eines Dämons: Das Gesicht war riesig und eckig, als ob sein Schöpfer eine überdimensionierte Brotform dafür genutzt hätte. Die Augen lagen nah an den Schläfen und das Kinn streckte sich so weit nach vorne, dass es fast die Nase berührte. Dann schoss ihr Auto am Notausgang vorbei, die Elbe im Nacken. Die Scheinwerfer des Geländewagens hinter ihnen wurden schwächer und verloschen ganz, als das Wasser über sie hinwegspülte.
Die Elbe war kurz davor, auch ihre Limousine zu verschlingen.
Sie flogen aus dem Tunnel heraus. Zwei Sekunden später nivellierte der Fluss den Zugang zur letzten Röhre.