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Gegen den Jugendwahn
ОглавлениеImmer mehr Winzer und Gastronomen bringen ihren Gästen gereifte Jahrgänge nah. Ein Plus für die deutsche Genusskultur! Vom neuen Trend zu alten Weinen.
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Für Stephanie Hehn begann ihre Arbeit als Chef-Sommelière des im vergangenen Jahr eröffneten Hamburger Luxushotels The Fontenay vor einem weißen Blatt Papier. Kein Keller mit reifen Weinen, auf den die junge Sommeliere zurückgreifen konnte, niemand, der schon vor Jahren begonnen hatte, Weine zur Seite zu legen, um sie zum optimalen Trinkzeitpunkt in den hoteleigenen Restaurants Lakeside oder Parkview auszuschenken. Aber auch keine Verpflichtungen, Vorhandenes an den Gast zu bringen. Hehn hatte alle Freiheiten, ihre ganz eigene Karte zusammenzustellen – und sie hatte einen klaren Schwerpunkt: Reif sollten die Weine sein. „Ich habe eine Liste gemacht, welche Weingüter ich unbedingt auf der Karte haben wollte. Dann habe ich mich ans Telefon gehängt“, erzählt die 33-Jährige. Weingut für Weingut telefonierte sie ab, auf der Suche nach älteren Jahrgängen. Detektivarbeit vom Feinsten. „Leider haben viele Weingüter keine relevanten Mengen älterer Jahrgänge eingelagert. Aber oft konnten sie Hinweise geben, wohin sie größere Mengen verkauft haben“, so Hehn. Heute hat sie insgesamt 400 Positionen auf der Karte, 200 davon kommen aus Deutschland, darunter gereifte Klassiker aus Toplagen wie Schäfer-Fröhlichs Felseneck aus 2013, Wittmanns Morstein aus 2009 und Christmanns Idig aus dem Jahr 2007.
Schon länger betonen vor allem deutsche Spitzenweingüter die Reifefähigkeit ihrer trockenen Weine, allen voran des Rieslings. Eine Vorreiterrolle in der Vermarktung gereifter Weine waren unter anderem die Weingüter Georg Breuer und J. B. Becker im Rheingau – Letzterer bietet seine reifen Weine sogar per Online-Shop an – und Markus Molitor an der Mosel. Auch die VDP-Prädikatsweingüter führen immer wieder bewusst Verkostungen mit gereifteren Jahrgängen durch. Eine wachsende Zahl der VDP-Mitglieder bringt zudem seine trockenen Spitzenweine aus Großen Lagen immer später auf den Markt. Bei der exklusiven Preview der Großen Gewächse für Fachpublikum stammten in diesem Jahr bereits 20 Prozent der Weißweine nicht aus dem aktuellen Jahrgang 2018, sondern aus 2017, 2016 und sogar 2013. „Wir sehen eine klare Bewegung bei den Winzern, ihren Topgewächsen mehr Zeit in der Flasche zu geben, damit sie bereits mit einer Grundreife beim Kunden ankommen. Selbstverständlich können sich die Weine dann aber noch viele Jahre weiter entwickeln“, sagt Hilke Nagel, Geschäftsführerin des VDP.
Eine steigende Zahl an Weingütern legt nun aber auch Weine der niedrigeren Klassifikationsstufen Guts- und Ortswein zur Seite, um sie später zu verkaufen. So haben die zusammengehörenden Weingüter Kühling-Gillot und Battenfeld-Spanier in diesem Jahr zu diesem Zweck einen reinen Reifekeller gebaut, um künftig ihre Weine in idealen Verhältnissen lagern zu können. „Beim Bau und der Wahl des Materials haben wir die Eigenschaften eines Naturkellers nachempfunden“, sagt Carolin Spanier-Gillot. Ziel sei es, künftig ähnlich wie manche Champagnerhäuser zusätzlich zu den aktuellen Weinen gereifte Counterparts in streng limitierter Anzahl zu verkaufen – Arbeitstitel: Museum Release. „Wenn die Weine den Keller verlassen, bekommen sie einen Datumsstempel als Garantie für perfekte Lagerung“, so Winzer Hans Oliver Spanier.
Beratung ist das A und O: Von alleine, so berichten Sommeliers, bestellt kaum ein Gast einen gereiften Wein – vor allem, wenn dieser weiß ist.
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Das Weingut Bürklin-Wolf, das in diesem Jahr das 25ste Jubiläum der Grand-Cru-Lage Reiterpfad mit verschiedenen Raritätentastings aus dem eigenen, gut ausgestatteten, Reifekeller feiert, hat gerade den Ortswein Wachenheimer Riesling aus dem Jahr 2013 in einer zweiten Tranche als Second Release herausgebracht. „Wenn Kunden in unserer Vinothek den gereiften Wein im Vergleich zum aktuellen Jahrgang probieren, entscheiden sie sich oft für den gereiften“, sagt Geschäftsführer Steffen Brahner. Obwohl die Flasche fünf Euro mehr koste.
Eine Beobachtung, die auch Emrah Isitmen, Geschäftsführer der Aurum Weinbar & Speisegalerie in Karlsruhe immer wieder macht. Der ausgebildete Sommelier führt auf seiner Weinkarte eine bemerkenswerte Auswahl an gereiften Weinen aus Deutschland, gut gemischt mit aktuellen Jahrgängen. „Wir verfolgen damit eine langfristige Strategie“, sagt Isitmen. „Indem wir systematisch Flaschen einlagern, können wir dem Gast Weine anbieten, die auf den Punkt gereift sind.“ Die meisten Menschen bestellten reflexartig junge Weine, berichtet er. „Vor allem beim Weißwein sind es nicht gewöhnt, auch mal etwas Älteres zu probieren.“ Deshalb stelle er manchmal einfach eine Flasche des gereiften Exemplars daneben. Dabei geht es Isitmen gar nicht so sehr ums Verkaufen. „Es geht um Weinkultur. Zu zeigen, wie unterschiedlich die verschiedenen Jahrgänge des gleichen Weines schmecken, oder wie fantastisch gereifte Weine zum Essen passen, kurz: Menschen ohne viel Gerede die Schönheit und Vielfalt des Themas Wein nahezubringen – das ist die Aufgabe des Sommeliers.“
Es kann auch vorkommen, dass man vom eigenen Erfolg überrollt wird. Bei der Eröffnung des Hotels The Fontenay hatte Stephanie Hehn, ihrem Konzept folgend, den 2014er Grauburgunder vom Weingut Franz Keller im offenen Ausschank. 60 Flaschen hatte sie vorrätig. „Die waren nach drei Tagen aus“, sagt sie. Ein Lerneffekt: Im offenen Ausschank gibt es im The Fontenay nun doch wieder jüngere Weine, von denen man genügend Mengen bekommt.
Katja Apelt
Auch der VDP macht sich für trinkreife Weine stark.
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