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»Es ist besser, Sie sehen den Leichnam nicht« Der Mord an Emmerich Kálmáns Tochter
ОглавлениеEr besang die heile Welt wie kaum ein anderer. Emmerich Kálmán schuf Die Csárdásfürstin, Gräfin Mariza, Die Zirkusprinzessin und andere überaus erfolgreiche Operetten. Doch seine Familiengeschichte ist alles andere als operettenhaft, stellt doch die Ermordung seiner Tochter ein tragisches Stück Kriminalgeschichte dar.
Emmerich »Imre« Kálmán war bereits seit zwanzig Jahren tot, als die Tragödie ihren Lauf nahm. »Elisabeth Kálmán in ihrer Pariser Wohnung enthauptet aufgefunden«, lautete eine der vielen Schlagzeilen, die im Mai 1973 um die Welt gingen. Die 42-jährige Tochter des Operettenkönigs wurde von ihrem Lebenspartner regelrecht hingerichtet. Wie die Polizei mitteilte, war die Leiche der Frau durch mehrere Messerstiche verstümmelt worden. Der Kopf sei, von Blumen umgeben, in einer Vase entdeckt worden, ein im Zimmer aufgefundener Brief habe zur Identifizierung des mutmaßlichen Täters geführt. Dieser war auf einer Straße nicht weit von der Wohnung Elisabeth Kálmáns, offenbar nach Einnahme einer Überdosis von Schlafmitteln, zusammengebrochen.
Wie war es zu der schrecklichen Tat gekommen? Elisabeth »Lily« Kálmán war alkohol- und drogensüchtig und hatte in einer Entzugsanstalt in Genf einen um zwanzig Jahre jüngeren Mann kennengelernt, in den sie sich Hals über Kopf verliebte. Als Vera Kálmán vom Aufenthalt ihrer Tochter in der Entzugsanstalt erfuhr, flog sie sofort von Wien nach Genf, wo man ihr mitteilte, ihre Tochter hätte aufgehört zu trinken, sie verliere aber an Gewicht und würde ständig kraftloser. Vera riet ihr daraufhin, sich von ihrem Mann Alain scheiden zu lassen – den neuen Mann an der Seite ihrer Tochter wollte sie aber nicht kennenlernen.
Über New York, wo sie über eine Neubearbeitung der Csárdásfürstin verhandelte, flog Vera nach Paris. Dort erwartete sie ein Telegramm, dem zufolge Elisabeth einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte und in einer Klinik unweit von Zürich lag. »Es ging ihr schlecht. Ich konnte mir nichts mehr vormachen. Sie war krank, sie war gemütskrank. Konnte ich sie retten? Das Wichtigste war wohl, dass sie sich von ihrem Mann scheiden ließ.«
Und so beschreibt Vera Kálmán in ihren Memoiren das nächste Zusammentreffen mit ihrer Tochter: »Sie war offenbar verwirrt, sie wusste nicht recht, wie sie hergekommen war, sie wusste kaum, wo sie war.« Lily wollte ihre Ehe retten, mit ihrem Mann Alain ein neues Leben beginnen – und fand ihn mit ihrer Friseuse im Bett.
Das war wohl zu viel für die psychisch labile Frau. »Lily blieb bei mir«, schreibt Vera Kálmán weiter, »und es sah so aus, als habe sie das Trinken aufgegeben. Die Scheidung wurde eingereicht. Alain machte keine Schwierigkeiten, es ging alles sehr schnell.« Lily übersiedelte in eine eigene Wohnung nach Paris – und begann wieder zu trinken – und offensichtlich auch Drogen zu nehmen.
Mittlerweile war Vera Kálmán zur Erholung nach Montecatini Terme gefahren, wo sie in der Nacht von 15. zum 16. Mai 1973 ein Anruf aus Paris erreichte. Eine Freundin von Lily war am Apparat.
»›Hier spricht Monique. Es ist etwas geschehen. Etwas Furchtbares.‹
›Ist Lily krank?‹
Monique schluchzte. ›Lily ist tot …‹
Ich konnte es nicht glauben. Ich wollte es nicht glauben. Schließlich, nach einer Ewigkeit, fand ich meine Sprache wieder: ›Ein Autounfall?‹
›Nein, Madame Kálmán.‹
›Was ist es denn? Sagen Sie es mir doch … Hat sie sich selbst …?‹
›Lily ist umgebracht worden.‹
›Umgebracht?‹
›Ja, ermordet.‹
Der Hörer glitt mir aus der Hand. Ich sank in die Kissen zurück. Ich verlor das Bewusstsein.«
Wieder zu sich gekommen, fuhr Vera Kálmán nach Paris, wo Lily so tragisch ums Leben gekommen war. Sie suchte den ermittelnden Staatsanwalt auf: »Er sprach mir sein Beileid aus und fragte mich, ob ich den Leichnam sehen wollte.
›Nein‹, schrie ich fast. ›Um Gottes willen, nein!‹
›Madame, ich bin verpflichtet, Ihnen diese Frage zu stellen. Es ist auch besser, Sie sehen den Leichnam nicht. Meine Beamten haben schon viel Entsetzliches sehen müssen, aber was sie in der Wohnung Ihrer Tochter vorfanden …‹«
Der Staatsanwalt erwähnte die Affäre Elisabeths mit dem Insassen der Entzugsanstalt und dass sie sich offensichtlich in ihn verliebt hätte.
»Das war der Mann, von dem Lily mit mir gesprochen hatte. Der Mann, den ich nicht hatte kennenlernen wollen. Jetzt machte ich mir die furchtbarsten Vorwürfe. Wenn ich ihn gekannt hätte, wäre dann alles anders gekommen? Hätte ich Lily vor ihm warnen können? Hätte sie auf mich gehört?«
Der Staatsanwalt: »Die beiden waren offenbar im Delirium. Überall in der Wohnung fanden wir leere Wein- und Schnapsflaschen … Man hat in der Wohnung auch Bücher gefunden, die mit allerlei mystischen Dingen zu tun haben. In einem war die Rede von einem Indianerstamm, bei dem es als Zeichen der vollkommenen Liebe galt, wenn man seinen Partner bei lebendigem Leib opferte …«
Wurde in Paris brutal ermordet: Emmerich Kálmáns Tochter Elisabeth »Lily« Kálmán
Elisabeth »Lily« Kálmáns Mörder hatte nach der Tat einen Selbstmordversuch unternommen, der jedoch misslang. Er wurde in eine psychiatrische Klinik eingeliefert.
Schließlich fragte Vera Kálmán, die die Unterredung wie in Trance wahrnahm, den Staatsanwalt, wann die Beerdigung stattfinden könnte. Die Antwort: »Nicht bevor der ganze Fall geklärt ist, Madame, ich würde sagen in sechs Monaten.«
Nach dreistündigem Verhör stand Vera Kálmán auf der Straße und dachte für sich: »Das ist also der Preis des Überlebens. Wie viele meiner Lieben hatte ich zu Grabe getragen. Imre, er war ein alter Mann gewesen. Meine Mutter, sie war eine sehr alte Frau, als sie starb. Aber meine Tochter! Lily! Wäre ich nicht eher dran gewesen als sie? Ja, das war wohl der Preis des Überlebens, dass man viele seiner Lieben zu Grabe tragen musste.«
Vera Kálmán fuhr in ihr Hotel, wo bereits ihre jüngere Tochter Yvonne und ihr Sohn Charly auf sie warteten. Sie fielen einander in die Arme und weinten. Veras einziger Trost war wohl, dass ihr Imre diese Katastrophe nicht hatte miterleben müssen …
Emmerich Kálmán, der eigentlich Imre Koppstein hieß, war 1882 im Städtchen Siófok am Plattensee in Westungarn als Sohn eines jüdischen Getreidehändlers zur Welt gekommen. Er studierte in Budapest Rechtswissenschaften und Kompositionslehre und lebte danach in Wien. Durch Evergreens wie Jaj, Mamam Bruderherz, ich kauf mir die Welt, Grüß mir die süßen, die reizenden Frauen im schönen Wien, Nimm Zigeuner deine Geige, Komm mit nach Varasdin, Höre ich Zigeunergeigen, Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht und Komm Zigan … zählte er mit Franz Lehár zu den Begründern der »Silbernen Operette« und zu den erfolgreichsten Komponisten seiner Zeit.
Nach dem »Anschluss« im Jahr 1938 flüchtete Emmerich Kálmán mit seiner Frau Vera aus Wien und gelangte über Zürich und Paris in die USA, wo er am Broadway und in Hollywood eine Reihe musikalischer Erfolge feiern konnte. Nach dem Krieg wieder in Europa, starb er 1953 in Paris.
Die 1907 in Russland geborene Vera Mendelson war zwei Mal mit Emmerich Kálmán verheiratet. Nach der ersten Hochzeit 1929 und der Geburt von drei Kindern ließ sie sich während des Krieges in den USA von dem um 25 Jahre älteren Kálmán scheiden, um einen anderen Mann zu heiraten. Als diese Ehe scheiterte, kehrte sie zu Kálmán zurück.
Ein Bild aus glücklichen Tagen: Emmerich »Imre« Kálmán 1948 umgeben von Ehefrau Vera, Sohn Charly und den Töchtern Yvonne und Lily (ganz rechts)
Nach dessen Tod sorgte ein Erbschaftsstreit Veras gegen ihre eigenen Kinder für großes Aufsehen, vor allem in den USA. Schließlich verzichtete Vera Kálmán auf Teile des Erbes zugunsten ihrer Töchter und ihres Sohnes. Danach lebte sie wieder in gutem Einvernehmen mit Yvonne, Charly und Elisabeth.
Über den tragischen Tod Elisabeths ist sie nie ganz hinweggekommen. Vera Kálmán starb 1999.