Читать книгу Wenn es gegen den Satan Hitler geht ... - Georg von Witzleben - Страница 27
Der 30. Juni 1934
ОглавлениеDie SA hatte Anfang 1934 fast 3 Millionen Mitglieder.536 Ihr Stabschef Ernst Röhm, der einen Zuwachs an Macht und Einfluss erringen wollte, forderte von Hitler die »zweite Revolution«537. Die Reichswehr war um ihre Stellung als Träger der bewaffneten Macht besorgt. Sie betrachtete daher das Verhalten der SA mit großem Argwohn.538 Die Lage im Reich spitzte sich mehr und mehr zu539: In Berlin, Potsdam und Frankfurt (Oder) war sie im Juni mittlerweile so angespannt, dass Witzleben sich entschloss, eine Inspektionsreise zum Truppenübungsplatz Putlos abzubrechen und nach Berlin zurückzukehren.540 Der Stab des Wehrkreiskommandos hatte seinem Befehlshaber alarmierende Meldungen erstattet: Die SA hatte ein Haus gegenüber dem Sitz des Wehrkreiskommandos bezogen und nachts Maschinengewehre dorthin geschafft. Zudem meldete der damalige Polizeipräsident von Potsdam, Wolf-Heinrich Graf von Helldorf, dass aufgrund bestimmter Gerüchte der SA ein gezielter Gewaltakt zugetraut werden müsste. Ein Offizier des Wehrkreises, der »Wehrgaubefehlshaber« in Frankfurt (Oder), Oberst Curt Haase541, schlug vor, möglichen Angriffen der SA durch eine eigene Aktion zuvorzukommen und somit den von ihm erwarteten Staatsstreich zu verhindern. Das lehnte Witzleben jedoch ab.542
In seinem Kommando ging es zu wie in einem »Bienenstock«543 – Soldaten und Zivilisten kamen und gingen. Witzleben ließ die Wachen in seinem Dienstgebäude verstärken und gab Weisung an die Truppen der Division, sich auf den Fall überraschender Angriffe vorzubereiten. Die Lage wurde ständig scharf beobachtet. Während dieser Zeit war es überaus schwierig, gesicherte Informationen zu erlangen. Witzleben musste zwischen Gerüchten und klaren Lagemeldungen unterscheiden.544 Sein Stab empfand eine reale Bedrohung durch die SA und ging fest davon aus, dass sie jetzt handeln würde.545
Mittlerweile entschied sich Hitler für eine groß angelegte Aktion gegen die SA, in deren Folge Röhm und mehrere hohe SA-Führer ermordet wurden. Röhm war dem »Führer« gefährlich geworden. Hitler und seine engste Umgebung nutzten auch die Gelegenheit, weitere Personen, die gar nicht zur SA gehörten und mit denen sie »alte Rechnungen begleichen« wollten oder die ihnen im Weg standen, zu beseitigen. In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1934 wurden so auch der frühere Reichskanzler, General Kurt von Schleicher, sein früherer Stabschef, General Ferdinand von Bredow, sowie weitere Persönlichkeiten von der SS mit Hilfe von Gestapo und Polizei überfallen und erschossen.546
Eine Mitwirkung von Reichswehreinheiten, die bisher noch nicht in allen Details aufgeklärt worden ist, hat es in der Tat gegeben.547 Sie hat mit einigen Einheiten die Aktionen der SS nicht nur technisch und logistisch unterstützt, sondern an manchen Orten wohl auch dazu beigetragen, die SA zu entwaffnen.548 Häufig konnten die Truppe und ihre örtlichen Befehlshaber die eigentlichen Hintergründe nicht erfassen549 oder die »mörderische Art«550 der Vorgehensweise erkennen. Belege über eine aktive Unterstützung der SS von Seiten des Wehrkreises III liegen bisher nicht vor.551
Am Abend des 30. Juni 1934 saß Witzleben im Wehrkreiskommando mit den Kommandeuren seiner Verbände zusammen, als die Nachricht eintraf, dass Hitler Röhm in Bad Wiessee persönlich verhaftet habe. Auch weitere Verhaftungen wurden gemeldet. Man erfuhr, alles sei geschehen, um Gefahr abzuwenden und wieder Ordnung herzustellen. Inzwischen waren die Kommunikationsverbindungen zu einzelnen Truppenteilen im Wehrkreis abgerissen.552 Witzleben befahl deshalb seinem Ib, Oberstleutnant Herbert von Böckmann, die Lage im Wehrkreis zu erkunden und Verbindungen wiederherzustellen. Dieser suchte augenblicklich die wichtigsten Standorte auf und meldete Witzleben anschließend, dass es im Wehrkreis zu zahlreichen Ausschreitungen von Seiten der SA gekommen sei. Böckmann berichtete von anarchischen Zuständen und schlug bei der Beratung mit Witzleben vor, den militärischen Ausnahmezustand zu verhängen; ein Vorschlag, mit dem Böckmann von seinem Befehlshaber zum Chef der Heeresleitung geschickt wurde. Fritsch stimmte zu und sandte Böckmann zum Chef des Ministeramtes, Reichenau. Dieser schien zunächst nicht abgeneigt, erklärte aber, das werde der Reichswehrminister nicht billigen.553
Die Lage beruhigte sich dann wieder, wie Witzleben und sein Stab erleichtert feststellten. Durch die vorbereiteten Maßnahmen gegen die SA war aus ihrer Sicht eine Gefahr abgewendet worden.554
Als bald danach die Morde an den Generälen von Schleicher und von Bredow bekannt wurden, erregte dies in Teilen der Reichswehr Empörung, auch im Berliner Wehrkreiskommando.555 Witzleben reagierte entsetzt mit dem Ausruf: »So geht das nicht!«556
Sein Stabschef Manstein bat seinen Kommandeur, beim Chef der Heeresleitung auf die Ahndung dieser Morde durch den höchsten militärischen Vorgesetzten, Reichswehrminister Generaloberst von Blomberg, zu drängen.557 Auch ein Bekannter Schleichers – Oskar von Dewitz – bat Witzlebens Ia, Oberst Hans Graf von Sponeck558, auf seinen Kommandeur dahingehend einzuwirken, dass dieser Fritsch über die eigentlichen Hintergründe der Taten des 30. Juni – also den gezielten Mord – aufklären möge.559
Witzleben meldete sich bei Fritsch und forderte eine Untersuchung der Morde ihrer beiden Kameraden. Ob der Berliner Wehrkreisbefehlshaber dies auch aus eigenem Antrieb getan hätte, ist nicht nachweisbar560, aber aufgrund seiner Empörung anzunehmen. Und Witzleben und Bredow kannten sich persönlich.561
Fritsch wiederum wandte sich an Blomberg. Dieser erklärte, Hitler habe zugesagt, er werde Beweise für Schleichers und Bredows angebliche konspirative Tätigkeiten mit dem Ausland vorlegen. Fritsch hatte bis dahin keinen Anlass anzunehmen, dass ihn sein Vorgesetzter anlog. Er vertraute auf Blombergs Aussage und erklärte Witzleben, dass man jetzt die Dokumente abwarten müsse.562
Kurz darauf – am 3. Juli 1934 – wurde jedoch das »Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3. Juli 1934« verkündet. Darin heißt es:
»Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens.«563
Mit diesem Gesetz waren die Taten vom 30. Juni nunmehr legalisiert. Reichspräsident von Hindenburg billigte das Gesetz nicht nur, er zeigte gegenüber Hitler und Göring ausdrücklich Dankbarkeit und Anerkennung für deren Einsatz.564
Göring, der sich damit gebrüstet hatte, er habe in Berlin »durchgegriffen«565, war zu dieser Zeit Ministerpräsident von Preußen, seit 1933 wieder aktiver Offizier und bekleidete den Rang eines Generals der Infanterie.566
Nach der Verabschiedung des Gesetzes und Hindenburgs Zustimmung wäre jetzt jedes Eingreifen der Reichswehr ein Putsch gewesen. Witzleben hätte dabei auch gegen die eigenen Vorgesetzten vorgehen müssen. Das war für ihn keine Option, jedenfalls noch nicht.567 Aber wenn Hindenburg den Notstand ausgerufen hätte, wäre der Wehrkreisbefehlshaber sofort bereit gewesen, für Recht und Ordnung aktiv zu werden. Enge Mitarbeiter des Vizekanzlers Franz von Papen bereiteten eine solche Aktion schon länger vor. Einer der Planer, Fritz Günther von Tschirschky, erklärte, Witzleben habe zu der Gruppe gehört, die zu einem Eingreifen bereit war.568
Später hat sich Witzleben auch mit dem Oberbefehlshaber des Gruppenkommandos 1, dem späteren Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, über die Vorgänge und mögliche Konsequenzen ausgetauscht.569 Auch in den folgenden Jahren hat der Berliner Befehlshaber mit seinem Vorgesetzten in »privaten Unterhaltungen seine schweren Sorgen über dieses ganze Regime ausgesprochen«.570 Tschirschky sagt dazu: »General von Witzleben war viel offener in seiner Regimefeindlichkeit [als Rundstedt; Anm. des Verf.].«571 Und Manstein ergänzt:
»Aus seinen Ansichten machte er [Witzleben; Anm. d. Verf.] allerdings nie ein Hehl. [...] Der NSDAP, namentlich ihren zweifelhaften Vertretern, mit denen wir es zumeist zu tun hatten, stand er mit unverhohlener Abneigung gegenüber.«572
Der 30. Juni 1934 wurde für Witzleben zum Schlüsselerlebnis.
Er war zunächst nicht in der Lage, die Hintergründe der Ereignisse bis ins Detail zu erfassen und hat wohl auch Hindenburg in dieser Zeit falsch eingeschätzt.573 Die ihm zugesagten Beweise für die angeblichen landesverräterischen Aktivitäten von Schleicher und Bredow wurden ihm aber nie vorgelegt. Damit war für ihn erwiesen, dass es sie nicht gegeben haben konnte. Der 30. Juni und seine Folgen brachten für ihn den Nachweis, dass verbrecherisch gehandelt worden war, und er musste zu dem Fazit kommen, dass seine Kameraden gezielt ermordet worden waren. Der skeptische, ablehnende Teil seiner Beurteilung des neuen Regimes bekam neue Nahrung. Witzleben begann nun, sich mit den Zielen der Nationalsozialisten intensiver zu beschäftigen, und fing deshalb an, Hitlers »Mein Kampf« genau zu lesen.574 Witzleben drückte das Buch Mitte der dreißiger Jahre auch seiner Tochter in die Hand und riet ihr: »Musst Du lesen, damit Du weißt, was die machen.«575
Für Witzlebens Frau – die bis dahin Hitler gegenüber weitgehend positiv eingestellt war – wurde der 30. Juni 1934 zum radikalen Wendepunkt ihrer Einstellung dem Nationalsozialismus gegenüber. Seit den Morden in diesen Tagen war sie eine scharfe Gegnerin des NS-Regimes.576