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19. Jänner 1918

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Der Oberinspector genoss mit Bedacht sein Gabelfrühstücksbier, als das Telefon läutete.

»Himmelherrgott!«

Er wischte sich den Bierschaum aus dem mächtigen, aufgezwirbelten Schnurrbart, hob den Hörer ab und brummte:

»Ja?«

»Nechyba, guten Morgen! Schober spricht.«

»Guten Morgen, Herr Doktor.«

»Ich bräuchte Sie dringend bei mir in der Polizeidirektion. Könnten Sie herüberkommen?«

»Wann, Herr Doktor?«

»Sofort. Wenn es sich bei Ihnen einrichten lässt …«

»In zehn Minuten? Ist das in Ordnung?«

»Wunderbar. Bis gleich.«

Nechyba legte den Hörer auf und starrte das Telefon feindselig an. Wenn er irgendwas in dieser Welt ändern könnte, dann würde er zuallererst das Telefon abschaffen. Diese Telefonie war wie eine Krankheit, die sich immer mehr ausbreitete. Monat um Monat gab es mehr Apparate und damit mehr Möglichkeiten zu telefonieren. Diese neumodische Art zu kommunizieren wuchs sich zu einer Manie aus. Krethi und Plethi griffen zum Telefon und tratschten miteinander. Unablässig klingelte der Apparat. Niemals gab er Ruhe. »Abschaffen!«, brummte Nechyba. »Dieser Blödsinn gehört abgeschafft!« Mit zwei langen Zügen trank er das Bier aus und rülpste lautstark. Sofort wurde die Bureautür geöffnet und sein Assistent Pospischil trat ein.

»Darf ich abservieren?«

»Ich muss rüber in die Polizeidirektion. Wahrscheinlich komm ich erst wieder nach Mittag zurück.«

»Jawohl, Herr Oberinspector.«

Nechyba schlüpfte in den schwarzen Überzieher, setzte die Melone auf und verließ seine Arbeitsstätte, während Pospischil hinter ihm leise die Bureautür schloss. Nechybas Magen grummelte. Er hatte das Bier zu schnell getrunken. Noch dazu ohne Gabelfrühstück. Heute hatte die Landerl, die Greislerin, bei der er seit Jahren einkaufte, nicht einmal ein Stückerl Brot oder einen Zipfel Wurst für ihn gehabt. Keinen Käse, keine Russen21, einfach gar nichts. Das hatte er auch noch nie erlebt. Sein Magen knurrte, und Nechyba war grantig. Erstmals seit Jahrzehnten kein Gabelfrühstück. Selbst als junger Sicherheitswachmann hatte er immer ein Gabelfrühstück zu sich genommen. So viel Zeit musste sein. Allerdings: Zeit war ja nicht das Problem. Zeit hatte er im Dienst mehr als genug. Wie das aber mit der Lebensmittelversorgung weitergehen würde, stand in den Sternen. Ganz Wien hungerte. Es war ein Jammer. Mit grimmiger Miene betrat er die Polizeidirektion. Die zwei Uniformierten, die hier Wache hielten und normalerweise alle Eintretenden streng kontrollierten, zuckten zusammen. Einer der beiden zog es vor, schnell in die Gegenrichtung zu schauen und so zu tun, als ob er Nechyba nicht bemerkt hätte. Der andere schlug die Hacken zusammen und salutierte:

»Habe die Ehre, Herr Oberinspector!«

Nechyba nickte brummelnd und ging, ohne eine Erklärung abzugeben, schnurstracks zu der Stiege, die zu Schobers Bureau führte. Keiner der beiden Wachleute hatte sich zu fragen getraut, wohin er wolle. Wenn der Oberinspector diesen Gesichtsausdruck hatte, war es ratsam, auszuweichen oder am besten gar nicht da zu sein. Schließlich hatte er im Polizeikorps den Ruf, ein veritabler Grantscherm22 zu sein. Schnaufend marschierte Nechyba zu den Räumlichkeiten des Polizeipräsidenten. Wer immer ihm auf seinem Weg begegnete, wich ihm aus und war froh, dass er mit dem Oberinspector aus dem benachbarten Polizeiagenteninstitut nichts zu tun hatte. Nechyba trat, ohne anzuklopfen, in das Vorzimmer des Polizeipräsidenten ein. Er grüßte den Adjutanten des Präsidenten mit einem Kopfnicken und brummte:

»Der Herr Dr. Schober hat mich gerufen. Es pressiert.«

Der Adjutant nickte, sprang auf, eilte zur Tür von Schobers Bureau, öffnete diese und sagte:

»Oberinspector Nechyba ist da.«

»Er soll bitte reinkommen!«

Der Adjutant nickte und Nechyba betrat Schobers Bureau. Zu seiner Überraschung war er nicht alleine. Hofrat Dr. Roderich Schmerda war ebenfalls anwesend. Was zum Teufel machte Aurelias Dienstgeber hier?

»Darf ich die Herren einander vorstellen? Hofrat Dr. Schmerda vom Innenministerium. Oberinspector Nechyba vom Polizeiagenteninstitut.«

Schmerda war aufgestanden, winkte ab und raunzte:

»Mein lieber Schober, lassen Sie’s gut sein. Wir kennen einander bereits. Herr Oberinspector, ich begrüße Sie.«

»Meine Hochachtung, Herr Hofrat.«

»Nechyba, nehmen S’ bitte Platz. Ich hab’ Sie hergerufen, weil es um eine äußerst heikle Angelegenheit geht …«

»Heikel ist eine Untertreibung!«, unterbrach Schmerda den Leiter der Wiener Polizei. »Faktum ist, dass es um Wohl und Wehe unserer Armee, der Monarchie und auch unseres geliebten Kaiserhauses geht!«

»Um Gottes willen! Was ist passiert?«

Schmerda lehnte sich in seinem Sessel zurück, schlug die Beine übereinander, holte tief Luft und begann zu dozieren:

»Am Montag dieser Woche hat in Wiener Neustadt um halb acht in der Früh die Belegschaft der Daimler-Motorenwerke die Arbeit niedergelegt und ist geschlossen zum Wiener Neustädter Rathaus marschiert. Diesem Marsch haben sich die Arbeiter der Lokomotivfabrik, der Radiatorenwerke, der Flugzeugfabrik und der Munitionswerke Rath angeschlossen. Bis zum Nachmittag hatten sich 10.000 Demonstranten am Rathausplatz versammelt. Am Dienstag hat sich dieser lokale Streik zu einer politischen Massenbewegung gewandelt. An diesem Morgen legte in Ternitz die Belegschaft der Schoeller-Werke die Arbeit nieder und marschierte ins benachbarte Wimpassing, wo sich ihr die Beschäftigten der Gummifabrik und aller anderen dort ansässigen Unternehmen anschlossen. Der Marsch führte weiter nach Neunkirchen, wo sich ebenfalls sämtliche Betriebe an dem Ausstand beteiligten. Weiters schlossen sich alle Arbeiter in Enzesfeld-Hirtenberg, in Leobersdorf, in Wöllersdorf sowie im ziemlich weit weg liegenden Sankt Pölten dem Streik an. Am Mittwochmorgen erreichte die Streikbewegung Wien. Im Arsenal legten 15.000 Arbeiter die Arbeit nieder, in den Fiat-Werken in Floridsdorf waren es 2.000. Im Laufe des Tages wuchs dann die Zahl der Streikenden auf über 80.000 an. Bemerkenswert war, dass es den Streikenden nun in erster Linie nicht mehr nur um eine bessere Lebensmittelversorgung ging, sondern um ein politisches Ziel …«

Schober nickte und warf ein:

»Nun ging es den Streikkomitees um die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk23

Schmerda fügte hinzu:

»In der Brigittenau forderten Kundgebungsteilnehmer, dass die Regierung einer Arbeiterdelegation Zutritt zu den Friedensverhandlungen gewähren sollte.«

Nechybas Magen grummelte laut und vernehmbar. Um diese Geräusche zu übertönen, fragte er:

»Und was sagt Unsere Allerhöchste Majestät dazu?«

Schmerda zog ein Stück Papier aus der Innentasche seines Sakkos und antwortete flüsternd:

»Er ist in höchstem Ausmaß besorgt. Ich zitiere aus einem Telegramm, das Seine Majestät gestern an unseren Außenminister, den Grafen Czernin, in Brest-Litowsk gesandt hat:

Ich muß nochmals eindringlichst versichern, daß das ganze Schicksal der Monarchie und der Dynastie von dem möglichst baldigen Friedensschluß in Brest-Litowsk abhängt …

und ich zitiere weiter:

Kommt der Friede nicht zustande, so ist hier die Revolution, wenn auch noch so viel zu essen ist. Dies ist eine ernste Warnung in ernster Zeit …

Meine Herren, diese Information ist streng vertraulich und bleibt unter uns, gell?«

Nechyba und Schober nickten. Der Hofrat räusperte sich und fuhr mit dem Lagebericht fort:

»Im Laufe des Mittwochs konnte der Parteivorstand der Sozialdemokraten mit Müh und Not einen Streik der Eisenbahner verhindern. Trotzdem befanden sich in Wien und Niederösterreich am Ende des Tages gut und gerne 150.000 Arbeiter im Streik. Es gab unzählige Versammlungen in Arbeiterheimen und Gastwirtschaften, und es kam zu Demonstrationen auf den Straßen. Aus Favoriten sind einige Tausend Arbeiter in Richtung Stadtmitte marschiert und haben den Verkehr zum Stillstand gebracht. Diese Demonstration wurde von berittener Polizei aufgelöst.«

Nechyba bemühte sich, durch eine andere Sitzposition seinen unruhigen Magen zur Ruhe zu bringen. Gleichzeitig bemerkte er:

»Davon hab’ ich gehört. Mir ist auch zugetragen worden, dass sich in den Betrieben Arbeiterräte gebildet haben.«

Schmerda nickte und fuhr fort:

»Zum Glück haben die Funktionäre der Sozialdemokratischen Partei rasch reagiert und waren im Laufe des Donnerstags zu Hunderten von Versammlungen gegangen und haben dort die Situation so weit unter Kontrolle bekommen, dass Bezirksarbeiterräte gewählt wurden. In diesen Räten saßen als kooptierte Mitglieder wiederum gestandene Funktionäre der Sozialdemokraten. Damit wurde versucht, die linksradikale umstürzlerische Grundtendenz der Rätebewegung in den Griff zu bekommen. Am Donnerstagmorgen ist außerdem in der ›Arbeiter-Zeitung‹ eine Erklärung des Parteivorstandes veröffentlicht worden …«

Schober schaltete sich ein:

»… in der vier Forderungen formuliert wurden. Und zwar: Friede, Verbesserung der Ernährungssituation, Demokratisierung des Gemeindewahlrechts sowie Aufhebung der Militarisierung der Betriebe. Darüber will die Parteiführung der Sozialdemokraten mit der kaiserlichen Regierung verhandeln.«

Schmerda nickte und fuhr fort:

»Allerdings weitete sich am Donnerstag die Bewegung neuerlich aus, erstmals wurde auch in einem Kronland, nämlich in Krakau, gestreikt. Donnerstagabend befanden sich in Wien, Niederösterreich und der Steiermark über 200.000 Arbeiter im Ausstand. Gestern hat dann der österreichische Außenminister aus Brest-Litowsk eine Erklärung verlautbaren lassen …«

Schmerda kramte neuerlich in seinen Taschen und zog einen weiteren Zettel heraus, von dem er vorlas:

»Ich hafte und bürge … äh … dafür, daß der Friede unsererseits nicht an Eroberungsabsichten scheitern wird …

und weiter:

… Wir wollen von Rußland weder Gebietsabtretungen noch Kriegsentschädigungen. Wir wollen nur ein freundnachbarliches, auf sicherer Grundlage beruhendes Verhältnis, das von Dauer ist und auf gegenseitigem Vertrauen ruht.«

Nach einer kurzen Pause fuhr Schmerda fort:

»Trotzdem hat sich die Bewegung im Laufe des gestrigen Tages weiter ausgebreitet. Das betraf sowohl Betriebe im Mur- und Mürztal, in Linz und Steyr als auch in Brünn, Mährisch Ostrau, Triest und Budapest.«

Schober runzelte die Stirn und blätterte in den Unterlagen.

»Wir haben leider keine konkreten Zahlen mehr, weil das Ganze nicht mehr überschaubar ist. Unserer Schätzung nach befinden sich allein in Cisleithanien24 derzeit zwischen 700.000 und einer Million Arbeiter im Ausstand.«

Schmerda schnaufte und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirnglatze:

»In Wien hat sich gestern Abend ein 14-köpfiger zentraler Arbeiterrat konstituiert, der die bereits erwähnten vier Forderungen mit der Regierung verhandeln soll. Diese Verhandlungen laufen derzeit. Hoffen wir, dass dabei was Vernünftiges herauskommt.«

Nechybas Magen revoltierte neuerlich und er versuchte, ihn mit lauter Stimme zu übertönen:

»Ich danke recht schön für diesen informativen Überblick. Aber was hat das mit uns, mit dem Polizeiagenteninstitut, zu tun? Faktum ist, dass wir bemüht sind, unsere Leute in die größeren Streikversammlungen einzuschleusen und die linksradikalen Aufwiegler zu identifizieren und vorzumerken. Mehr können wir im Moment nicht tun.«

Schmerda nickte:

»Genau um diese Kräfte geht es. Um die linksextremen Aufwiegler. Ich habe da eine Liste der besonders gefährlichen Agitatoren …«

Er holte einen weiteren Zettel hervor und begann vorzulesen:

»Also, das wären die Herren Baral, Beer, Hexmann, Hübl, Kodanich, Kohn-Eber, Koritschoner, Kulcsar, Pjatiorski, Rothziegel und Wertheim.«

Schober sah Nechyba an und sagte in sanftem Befehlston:

»Diese Herrschaften, Nechyba, werden Sie und Ihre Leute am Montag verhaften. Ausnahmslos. Das ist unser Beitrag zur Deeskalation dieser unerfreulichen Geschichte. Sehen Sie zu, dass Ihre Agenten bei diesen Einsätzen bewaffnet sind. Falls nötig, sorgen Sie für ausreichend Unterstützung durch die Sicherheitswache.«

Nechybas Magen brummte und grummelte. Abrupt stand er auf und sagte laut und deutlich:

»Jawohl, Herr Doktor. Am Montag werden wir die Subversiven aus dem Verkehr ziehen. Herr Hofrat, darf ich Sie um die Liste bitten?«

Schmerda stand ebenfalls auf und übergab den Zettel. Schober erhob sich, schüttelte beiden Männern die Hand und bedankte sich für ihr Kommen.

Auf der Stiege ergriff Hofrat Schmerda plötzlich Nechybas Arm, sodass dieser stehen bleiben musste. Schmerda beugte sich zu dem Inspector und flüsterte:

»Ich hab’ noch a Bitte an Sie: Ihre Frau Gemahlin hat erwähnt, dass Sie … dass Sie Verbindungen hätten … zum Schwarzmarkt. Ich bitt’ Sie, könnten Sie mir net a ordentliches Stück Rindfleisch verschaffen? Einen ganzen Rücken oder einen Haxen. Mit Knochen und allem. Ich hab’ solche Zähne25 auf a Rindfleisch. Ich bitt’ Sie inständig. Ich zahl jeden Preis.«

21 eingelegter, marinierter Hering

22 grantiger Mensch

23 Friedensverhandlungen zwischen der neuen Sowjetführung Russlands und Österreich-Ungarn

24 die österreichischen Kronländer (Transleithanien = die ungarischen Kronländer)

25 ich habe so ein großes Verlangen

Schönbrunner Finale

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