Читать книгу Schönbrunner Finale - Gerhard Loibelsberger - Страница 15
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ОглавлениеAm 9. August 1918 war der Morgen strahlend schön. Stanislaus Gotthelf hatte wie immer lange geschlafen. Er streckte und reckte sich. Dann gähnte er herzhaft. Schließlich tapste er zum Waschtisch, goss etwas Wasser in das Lavoir und wusch sich Gesicht, Hals und Oberkörper. Dann applizierte er Rasierseife auf Wangen, Oberlippe und Hals und begann mit der morgendlichen Rasur. Nachdem er die restliche Seife von den glatten Wangen mit kaltem Wasser abgespült hatte, fühlte er sich erfrischt und für den Tag bestens gerüstet. Er zog sich Hemd und Sakko an, riss den Vorhang zur Seite, hinter dem die beiden Bettgeher auf einem Matratzenlager schnarchten. Er stieß mehrmals mit dem Fuß gegen die Matratzen und weckte Zach und Husak mit folgenden Worten:
»Aufwachen, ihr Faulpelze!«
Husak streckte sich, rammte dabei Zach den Ellbogen in den Bauch, sodass dieser laut fluchte. Gotthelf kommandierte:
»Schaut’s, dass rauskommt’s! Als Bettgeher habt’s ihr tagsüber hier nix verloren.«
Langsam standen die beiden auf und streckten sich. Zach funkelte Gotthelf böse an:
»Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, hochwohlmögender Herr von Gotthelf!«
»Wennst mich papierln40 willst, kannst heut Nacht auf der Straße schlafen.«
»Is schon gut … is’ ja schon gut. Gehen schon. Alles in Ordnung«, beschwichtigte Husak und zog Zach aus der Gotthelf’schen Hütte, die sich im zweiten Hinterhof eines Hauses befand.
Plötzlich erklang hoch oben in den Lüften ein mächtiges Brummen. Es war der Lärm von Motoren. Husak sah erstaunt empor, Zach lehnte sich vollkommen verschlafen und desinteressiert an die Außenwand der Hütte und zischte:
»Gotthelf, du Oasch!«
Gotthelf riss es. Er überlegte, ob er Zach antworten sollte, doch seine Neugier war größer. Was ging dort oben am Himmel vor? Was war da draußen los? Mit eiligen Schritten durchmaß er die beiden Innenhöfe und trat hinaus auf die Wienzeile. Und – oh Wunder – es schneite! Mitten im Sommer. Tausende bedruckte Zettel segelten im sanften Sommerwind auf den Erdboden nieder. Gotthelf stand mit dem Kopf im Nacken da, schirmte die Augen mit der Handfläche ab und versuchte, die Ursache dieses Wunders zu ergründen. War es ein Mirakel? Nein, es waren Flugzeuge, die da oben am Himmel flogen. Eins, zwei, drei, vier, fünf Flugzeuge. Und dort, dort war noch ein sechstes! Was waren das für Zettel, die sie da abwarfen? Mit nervösem Blick beobachtete Gotthelf die unzähligen Blätter, die, von der sanften Sommerbrise beflügelt, durch die Lüfte und über die Straße und die Gehsteige tanzten. Er eilte ihnen nach − und da! Da hatte er sich endlich einen geschnappt. Aber halt! Dort flog ja ein bunter, der die Farben der italienischen Trikolore trug. Auch den schnappte er sich. Mit dem Fangen der Flugblätter aus der Luft beziehungsweise mit dem Aufheben derselben waren mittlerweile alle auf der Straße befindlichen Leute beschäftigt. Besonders die Straßenjungen machten sich einen Sport daraus, möglichst viele der Zettel zu ergattern. Plötzlich hörte Gotthelf die Trillerpfeife eines Sicherheitswachmanns. Zwei bloßfüßigen Lausbuben riss der Uniformierte die Zettel aus der Hand, und auch von anderen Passanten verlangte er, die aufgesammelten Flugblätter herauszurücken. Gotthelf faltete seine zusammen und steckte sie in die Tasche des Sakkos. Dann spazierte er laut pfeifend durch die zwei Innenhöfe zurück zu seinem Schuppen.
Bereits vor der Tür hatte er einen Zettel auseinandergefaltet. Verwundert blieb er stehen und starrte die italienische Trikolore an, auf die das Wiener Stadtwappen sowie folgender Text gedruckt waren:
Wiener!
Lernt die Italiener kennen!
Wenn wir wollten, wir könnten ganze Tonnen von Bomben auf euere Stadt hinabwerfen, aber wir senden euch nur einen Gruss der Trikolore, der Trikolore der Freiheit.
Wir Italiener führen den Krieg nicht mit Bürgern, Kindern, Greisen und Frauen. Wir führen den Krieg mit euerer Regierung, dem Feinde der nationalen Freiheit, mit euerer blinden, starrköpfigen und grausamen Regierung, die euch weder Brot noch Frieden zu geben vermag und euch nur mit Hass und trügerischen Hoffnungen füttert.
Wiener!
Man sagt von euch, dass ihr intelligent seid, jedoch seitdem ihr die preussische Uniform angezogen habt ihr seid auf das Niveau eines Berliner-Grobians herabgesunken, und die ganze Welt hat sich gegen euch gewandt.
Wollt ihr den Krieg fortführen? Tut es, wenn ihr Selbstmord begehen wollt! Was hofft ihr? Den Entscheidungssieg, den euch die preussischen Generale versprochen haben?
Ihr Entscheidungssieg ist wie das Brot aus der Ukraina: Man erwartet es und stirbt bevor es ankommt.
Bürger Wiens! Bedenkt, was euch erwartet und erwacht!
HOCH LEBE DIE FREIHEIT!
HOCH LEBE ITALIEN!
HOCH LEBE DIE ENTENTE!
Gotthelf betrat seine Bude und runzelte die Stirn. Da er nie ordentlich lesen und schreiben gelernt hatte, war dieser Text äußerst rätselhaft für ihn. Er setzte sich und starrte konzentriert auf das Flugblatt. Da war irgendwas nicht koscher. Gotthelf witterte das! Etwas, das ihn wütend machte. Landesverrat! Alleine schon die italienische Trikolore, die Farben der welschen Verräter, die Österreich-Ungarn und Deutschland in den Rücken gefallen waren, ließen seine Zornadern anschwellen. Und stand da unten nicht »Italien«? Hoo…oo…c…h… le…eb…be I…tal…ien? Hoch lebe Italien. So eine Sauerei!
»Was hast denn da? Was ist das für ein Zettel?«
»Der ist draußen vom Himmel oweg’flogen41 …«
»Was steht drauf? Zeig’ her!«
»Italien, glaub’ ich, steht da g’schrieben …«
»Wart, lass mich lesen!«
»Und was steht da?«
»Ha! Die Wahrheit, nix als die Wahrheit!«
»Was für a Wahrheit?«
»Na, dass unsere Regierung einen vollkommen sinnlosen und grausamen Krieg führt. Und dass der Entscheidungssieg nicht kommen wird. Genauso wenig wie das versprochene Brot und alles, was uns die Großkopferten seit Jahren versprechen, während wir den Kitt aus den Fenstern fressen. Ich scheiß auf den Krieg und auf den Kaiser!«
»Du, pass auf! Du! Sag nix gegen unsern Kaiser! Und nix gegen unsre Regierung und unsre siegreiche Armee! Du Weh42, du!«
»Was? Was hast g’sagt?«
»Dass d’ a Weh bist!«
»I bin ka Weh!«
»A Weh! A Wappler43! A gsöchter44 Aff’ …«
Faustschlag. Mitten ins Gesicht. Stechender Schmerz. Gotthelf wischt mit der Hand über die Nase. Blut. Versucht aufzustehen. Ein Sessel kracht auf seinen Schädel. Trifft ihn am Buckel. Gotthelf stürzt. Alles verschwimmt. Donnernde Schläge auf seinen Schädel. Blut im Mund. Keine Luft! Schläge, Schläge, Schläge.
»Hilfe! Auf … aufhören … bitte … bitte … bitte … Hilfe …«
40 verarschen
41 heruntergeflogen
42 Jammerlappen
43 unfähiger Depp
44 dünner