Читать книгу Einfach weitergehen - Gertraud Hofbauer - Страница 15
Was brauche ICH?
ОглавлениеNach diesem Telefonat fühle ich mich etwas besser. Es tut gut, zu wissen, nicht allein zu sein. Immer noch unschlüssig, was ich jetzt tun soll, kommt mir der Gedanke einer Aufstellung in den Sinn. Vielleicht kann ich erkennen, wohin der Weg führt?
Ich lege jeweils ein T-Shirt von Rupert und mir auf den Fußboden und stelle mich zuerst auf meinen Platz. Hier sehe ich in weite Ferne und erblicke am Ende ein wunderschönes, strahlendes Licht!
Alles wird gut werden, denke ich erleichtert.
Als Stellvertreterin auf Ruperts Platz blicke ich nach schräg vorne und erkenne hier seinen Vater, der ein Jahr nach unserer Hochzeit starb. Neben ihm stehen zwei Kinder und ich weiß, dass es sich hierbei um seine beiden Brüder handelt, die jung verstorben sind. Dahinter nehme ich schemenhaft noch andere Personen wahr. Mein Blick auf Ruperts Position ist klar und es fühlt sich alles sehr ruhig und abgeschlossen an. Ich fühle jetzt aber gleichzeitig, wie meine Frau sich um meine Füße schlingt und mich festhalten will. Aber es ist bereits entschieden. Mein Weg ist klar.
Schnell räume ich die T-Shirts wieder in die Koffer.
Vielleicht habe ich mich geirrt, meine Wahrnehmung kann ja getrübt sein durch den Schock!
Nach einer erneuten Zimmerwanderung beschließe ich, ebenfalls mit Fernheilung zu arbeiten. Ich setze mich also aufs Bett und richte meine Aufmerksamkeit eine Weile auf meine Atmung, bevor ich beginne.
Es dauert nicht lange, da »höre« ich Rupert klar und in normaler Lautstärke direkt neben mir: »Hör auf, ich will das nicht!«
Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich das zu beherzigen habe und alles andere übergriffig wäre. Aber er ist mein Mann! Ich will ihn nicht verlieren! Es kann nicht sein, was nicht sein darf!
Wider besseres Wissen fahre ich fort, nur um gleich darauf erneut seine Stimme zu »hören«, diesmal lauter und energischer: »Ich hab gesagt, du sollst aufhören! Ich will das nicht!«
Auffordernd setzt er hinzu: »Kümmere dich jetzt lieber um dich!«
Ich gebe auf, sitze nun einfach nur da und starre Löcher in die Luft. Wie gerne würde ich weinen können. Gleichzeitig fühle ich, dass mich dieser Schockzustand befähigt, durchzuhalten.
Was hat er gesagt? Ich soll mich jetzt um mich kümmern?
Mit geschlossenen Augen stelle ich mir die Frage: Was brauche ICH jetzt?
Die Antwort ist so klar wie einfach: ATMEN!
Langsam und gleichmäßig fließt der Atem, wieder und wieder. Nach ein paar Minuten frage ich erneut: Was brauche ich JETZT?
Die Antwort wiederholt sich ebenfalls: ATMEN!
Ich atme noch eine Weile ruhig weiter, dann geht mir die Geduld aus. Ich wandere lieber wieder umher und starre zwischendurch das Handy an, als ob ich von diesem eine Lösung ablesen könne.
Nichts geschieht.
Aus dem angrenzenden Zimmer kann ich laut den Fernseher hören, dazwischen knallen immer wieder irgendwelche Zimmertüren. Ich beschließe, zu Bett zu gehen, in der Hoffnung, etwas schlafen zu können, obwohl ich mich nicht müde fühle.
Die Nacht verläuft wie der Abend: Wandern, Trinken, Toilette, aus dem Fenster auf die Straße blicken, Licht an, Licht aus, das Handy betrachten.
Vielleicht werde ich angerufen und Rupert ist aufgewacht und ich darf doch zu ihm? Aber wenn er aufwacht und denkt, ich hätte ihn allein gelassen? Ich darf nicht daran denken, da werde ich verrückt! Ob die Kinder schlafen können? Ich möchte so gerne bei ihnen sein!
Ein Gedanke jagt den anderen, die ganze Nacht hindurch. Immer wieder dieselben Gedanken.
Erst gegen Morgen falle ich für eine Stunde in einen unruhigen Erschöpfungsschlaf und stehe um 7 Uhr bereits wieder unter der Dusche.