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Wie gesagt, Donnerstag, Mittagszeit. Die Geschäfte im Main-Taunus-Zentrum überbieten sich mit Preissturz-Angeboten, vorzugsweise bei Schuhen für alle möglichen Sportarten sowie freizeitlicher Damen- und Herrenbekleidung.

Uns zum Shopping zu verlocken ist eine harte Nuss. Mona hasst es, Geld für Klamotten auszugeben, die spätestens nach zweimaligem Tragen zuverlässig in den hinteren Ecken des Schranks oder der Abstellkammer verschwinden. Dass Mahina etwas anderes trägt als Tennisschuhe, enge Jeans, Sweatshirts und knapp geschnittene Lederblousons, wahlweise in Schwarz oder Dunkelgrau, geschieht in zwölf Monaten vielleicht ein- oder zweimal. Ich habe meinen Stil und das entsprechende Outfit vor Jahren gefunden.

Heute ist uns nach Ausgehen. Einfach so.

Nach einigem Hin und Her. Mahina musste sich überwinden. Später gestand sie, dass sie obendrein eine ungute Vorahnung hatte. Wenn möglich meidet sie Menschenmengen, folglich auch belebte Einkaufszentren.

Von außen betrachtet dürfte das die meisten Leute verwundern. Mittelgroße, schlanke, sportliche Figur; kurze schwarze Haare; ein ausgewogen hübsches Gesicht mit zierlicher Nase und dunklen Augen; ein Stich Oliv in der Haut. Ein Aussehen, das an eine Schönheit aus Spanien oder Mexiko denken lässt. Mag sein, dass Mahina der nötige Funke Glamour fehlt, um sofort die Blicke auf sich zu ziehen. Dabei sieht sie einnehmend gut aus – ganz sicher bei näherem Hinschauen. Natürlich ist sie kerngesund, selbstbewusst und selbständig.

Sie braucht sich also nicht zu verstecken.

Nur – sie ist in hohem Maß hellsichtig und hellhörig, beinahe als Dauerzustand. Nur wenige Menschen verfügen über entsprechende Fähigkeiten. Wer sich mit dieser Form gesteigerter Sinneswahrnehmung nicht auskennt, mag sie bewundern; Mahina gar beneiden. Vergiss es. Um eine Behinderung handelt es sich nicht, bringt jedoch – je nach Situation – hinderliche Eigenheiten mit sich.

In abgeschwächter Form lebe ich ebenfalls mit dieser Geistesleistung; wie gesagt, Gleich und Gleich finden sich. Ich weiß folglich, wie anstrengend, sogar belastend der Umgang damit sein kann. Mit der richtigen mentalen Einstimmung kann ich meine Gabe aktivieren und wieder „runterfahren“ in den weitgehend unbewussten Bereich. Im Unterschied dazu hört Mahina häufig ungewollt und nahezu mühelos die Gedanken von Menschen in ihrer Umgebung. Wenn sie Vorbeigehende aufmerksam anschaut, erkennt sie deren Befindlichkeit – stimmungs-, aber auch gesundheitsbezogen – in ihrer Aura; dem Energiefeld, das jeden Menschen umgibt. Quälend wird es, wenn sie gedanklich unachtsam, hungrig oder müde ist. Die wenigen Stichwörter mögen reichen, um eine Ahnung zu vermitteln, wie schwierig unser Alltag gelegentlich sein kann. Dennoch, die Gabe stärkt unseren Zusammenhalt wesentlich.

*

Einer der letzten Tage Herbstferien in der Schule.

Das Wetter glänzt mit Sonne und milden Temperaturen, die zum draußen Sitzen einladen. Nicht selbst kochen, dafür gemeinsam und in Ruhe Chinesisch essen lautet die Beschlusslage. Ausgehen mit Menschen, die sie mag und denen sie vertraut, erlebt Mahina jedes Mal als kostbares Geschenk.

Selbstverständlich gehören unsere beiden Freizeittöchter dazu.

Janina, vierzehn Jahre alt, schlank, hellwach im Kopf und gut zu leiden, trotz der ersten äußeren Zeichen von Pubertät. Seit einiger Zeit befindet sie sich für jeweils zwanzig Stunden pro Woche amtlich in unserer Erziehungsobhut. Diese Lösung hat unser Rechtsanwalt dem Jugendgericht abgetrotzt. Um das Mädchen vor einem vielleicht kürzeren, aber ziemlich sicher schädlicheren Aufenthalt in einem Jugendstrafheim zu bewahren.

Aus eigenem Erleben hegt Mahina eine Schwäche für gequälte Jungmädchenseelen. Janinas Wohlergehen liegt ihr besonders am Herz. Mit großem Geschick weiß sie das Mädchen zu nehmen, bringt ausgerechnet sie dazu, ihr regelmäßig deutschen Sprachunterricht zu geben. Das hilft unerwartet gut, Janinas Lese- und Schreibschwäche zu vermindern. Nebenbei verbessert es ihre englische Sprachfähigkeit sowie die Schulnoten für die beiden Fächer deutlich.

Wann immer es sich einrichten lässt, darf Samira nicht fehlen, Janinas beste Freundin. Das Mädchen ist ebenfalls ein Goldstück, schmal und schlank wie Janina. Auch bei ihr zeigen sich erste Pubertätsrundungen, zumal sie gern enge Jeans und anliegende graue oder braune Ringelpullis trägt. Darüber flattert meist eine kurzärmelige Bluse in Weiß, Rosa oder Hellblau, die sie so gut wie nie zuknöpft. Samira ist bildhübsch mit schwarzen Augen, die noch im Dunkeln leuchten. Als eines von fünf Kindern weltoffener, modern denkender libanesischer Eltern spricht sie fließend Deutsch, Englisch, Französisch und Arabisch. Zum Verdruss ihrer einst katholischen Eltern, die – wie das Mädchen – heute mit Religion nicht viel im Sinn haben, geht Samira hartnäckig nur mit eng gebundenem Kopftuch auf die Straße. Weil es ihr Spaß macht und die Jungs auf Abstand hält, gesteht sie mit unbekümmertem, hinreißendem Lachen.

Das also ist die Wirklichkeit hinter dem Auftritt: Alter Knacker mit vier ziemlich gutaussehenden Grazien.

*

Familienmitglieder mögen sich nicht immer.

Frauen, die sich sehr mögen und als Familie fühlen, halten zusammen wie Pech und Schwefel. Das erlebe ich täglich. Einen sozialpsychologisch ebenso interessanten Sachverhalt kannte ich bisher nur vom Hörensagen. In den folgenden Stunden wird daraus eine handfeste Erfahrung. Überaus lehrreich und mit unerwarteten Folgen. Dabei geht es um den Zusammenhalt in dem, was früher Männerbund genannt wurde.

*

Das chinesische Essen, natürlich mit Stäbchen, gewürzt mit Mädchentratsch und Gelächter, ist vielseitig und schmackhaft. Als Nachtisch gibt es ein paar Läden weiter für jeden ein kleines Eis auf die Hand.

Eigentlich sollten wir das öfter machen.

Wenn da nicht ...; so unbekümmert heiter zu sein wie unsere beiden Mädchen gelingt Mahina in der Öffentlichkeit selten. Sie erscheint eher zurückhaltend, beinahe schüchtern.

Auf dem Rückweg zum Wagen bedankt Samira sich artig für das Essen. Worauf Janina sie erheitert anschubst.

„Du spinnst, Du gehörst doch dazu.“

Im Parkhaus ist statt Fahrstuhl Treppensteigen angesagt.

„Logisch, wo wir doch so fett sind,“ juxt Samira mit funkelnden Augen.

Der Lärm ist wirklich unangenehm.

Als wir das Treppenhaus 3 auf der Parkebene D 10 verlassen.

Die flache, an den Seiten teilweise offene Betonkonstruktion des langgestreckten Parkhauses verstärkt ihn zu einem hallenden Donnern, das knatternd und wummernd näher kommt. Und ein wenig beängstigend wirkt. Selbst bei Menschen wie uns, mit einer grundsätzlich positivem Einstellung zum Leben. Samira jedenfalls hält noch in der Tür des Treppenhauses inne, sieht mich unsicher an.

Das ganze Parkhaus scheint zu erzittern.

Vier Motorräder der raubeinigen Sorte, drei schwarz, eines rot. Breit ausladende Geräte mit hoch aufragenden Lenkern, schwarzem Gestänge um die Motoren und verstümmelten Hinterteilen.

Die Motorräder mögen beeindrucken, ihr Gedröhn tut es gewiss.

Die Fahrer leisten ebenfalls ihren Beitrag. Vier Bilderbuchvertreter ihrer Zunft. Die im Ruf stehen, sich den Tag gern mit Krawallmachen zu vertreiben. Männer von stämmig über feist bis speckbäuchig, irgendwo zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Von Anmaßung, Fahrtwind und Suff gezeichnete Gesichter mit Bartstoppeln oder Kinnfransen. Die halbnackten Arme schimmern dunkelgrau von Tätowierungen. An speckigen, ärmellosen Lederwesten hängen stählerne Ketten und Totenkopfabzeichen. Die zerschlissenen Jeans stecken in derben Stiefeln. Ungepflegte, teilweise schulterlange Haaren ragen unter den einschlägigen Nazi-Armee-Pisspott-Helmen hervor. Fester Bestandteil ihrer Kleiderordnung. Sie verleihen jedem Gesicht eine glaubwürdig intelligenzarme Note.

„Oh, ein Rudel Organspender,“ erklärt Mahina beiläufig.

In Amerika ein gängiger Kosename für Harley-Davidson-Fahrer.

Mahina meint das leidenschaftslos. Sie tut sich schwer mit Späßen und Humor, was wohl mit ihrer überragenden Intelligenz zu tun hat. Sie betrachtet die Welt und sich selbst darin meist mit einem Tupfer Verwunderung, bringt die Dinge gern auf den Punkt, bleibt dennoch meist gelassen, lebt durchweg zufrieden.

„Hey, Du fährst auch eine Harley.“

„Irrtum, Bear. Meine ist eine edle „Road King“. Das da sind verkrüppelte Kurzschwanz-Böcke. Wie die Kerle, die draufsitzen.“

Kann ich ihr nicht widersprechen.

Die Maschinen rollen langsam näher.

Ihre Fahrer geben mehrfach Gas, nicht zum Beschleunigen, sondern um mit bollerndem Krach zu beeindrucken. Der Schwarm biegt im Schritttempo zwei Reihen vor uns nach rechts ab in die Gasse parkender Autos. Nach gut fünfzehn Metern stoppen die vier, schalten die Motoren aus, klappen die seitlichen Ständer ab, steigen von den Hockern, ziehen die engen Helme vom Kopf, legen sie auf die gedrungenen Sättel. Die schlagartig einsetzende Stille klingt ähnlich unangenehm wie zuvor der Lärm.

Die vier Donnerbolzen recken ihre Schultern, überprüfen ihre Umgebung mit zusammengekniffenen Augen, suchen nach dem, weshalb sie üblicherweise losziehen. Nach der verschüchterten Ehrfurcht, mit der die Masse bürgerlicher Windelpisser sie gefälligst zur Kenntnis zu nehmen hat. Die Zahl möglicher Bewunderer liegt jedoch unter Null.

Denn hier gibt es nur in Reihen geparkte Autos.

Und uns auf dem Weg vom Treppenhaus 3.

Mein BMW X-3 steht gut zwanzig Schritte hinter dem vordersten Motorrad. Wir könnten durch eine Reihe weiter vorn gehen, im Bogen um die Biker herum, müssten uns zwischen anderen geparkten Autos durchschlängeln. Es dürfte wenig nutzen. Wie die Typen dastehen und gucken, haben sie sich absichtlich dort breit gemacht.

Mahina stellt klar, worum es geht.

„Bear, ich glaube, die wollen was von uns.“

Seit San Francisco gebraucht sie diese amerikanisierte Kurzform meines Familiennamens. Mona und die Mädchen meistens ebenfalls.

„Sehe ich auch so,“ gebe ich halblaut zurück.

„Muss wohl so sein,“ stimmt Mona links neben mir zu.

Sie greift in ihre Jacketttasche, dreht sich zur Seite und drückt Janina die kleine Einkaufstüte mit zwei Taschenbüchern und einer Video-DVD in die Hand. Wie Mahina geht Mona am liebsten ohne Handtasche aus. Man weiß ja nie ...

„Hört zu, ihr zwei,“ ermahnt sie die Mädchen, „falls es Ärger gibt, ihr bleibt ein Stück hinter uns.“

„Die gucken finster und böse,“ bestätigt Janina. „Als ob sie uns was anhaben wollen. Gegen die haben wir doch keine Chance, oder?“

„Wir sind doch nicht in Bagdad,“ meint Samira. Es klingt, als wolle sie sich selbst Mut machen.

„Stay calm, girls; we got you covered,“ sagt Mahina; ein Zeichen ihres Umschaltens auf Kampfbereitschaft. Sicherheitshalber gehen die beiden Mädchen nach rechts, halten sich hinter ihr. Aus gutem Grund.

Wenige Augenblicke später beginnt der Showdown.

*

„Pah, schau sich das einer an! Affengeil, ein Kopftuch-Lämmchen aus dem Reich der Kamel-Ficker,“ pöbelt einer der Rocker, obwohl wir noch ein gutes Stück entfernt sind.

„Müssen die nicht wie Pinguine rumwatscheln, von oben bis unten schwarz?,“ legt der Kumpel schräg neben ihm nach, erkennbar so laut, dass wir es hören sollen.

„Aber eisern,“ tönt der Vordere der vier, zieht Rotze im Hals hoch.

„Mit Titten wie Pfannkuchen darunter, sobald sie zwangsverheiratet sind und zehn Taliban in die Welt gepoppt haben.“

Ausgewiesene Fachleute für orientalische Lebensweise.

„Hört einfach nicht hin, schüttelt die Schultern und vergesst es,“ flüstert Mona unseren Goldmädchen schräg hinter mir zu. „Die Typen wissen es nicht besser.“

Der Stand ihres Wissens ist unerheblich.

Am Maß ihrer Intelligenz dagegen besteht kein Zweifel.

Häufige Voraussetzung für unvermutet harte Lernerfahrungen.

Die Rocker lästern nicht einfach abfällig, wollen nicht bloß rumpöbeln. Zwei, drei Schritte weiter und einige Blicke mehr beenden bei mir den letzten Zweifel.

Wir werden erwartet.

Von Leuten, denen man im Dunkeln besser nicht allein begegnet. Derart dicke Arme, große Hände und massige Oberkörper finden sich sonst nur bei Kerlen, die Schwerarbeit verrichten, etwa als Bauarbeiter, Schlosser oder Holzfäller. Oder stundenlang Eisen stemmen. Mit dem bloßen Körpergewicht kann jeder der vier eine Menge Schaden anrichten. Neben ihnen wirken wir schlanke Figuren wie halbe Portionen.

Shit, in der Tat.

Der falsche Tote

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