Читать книгу Der falsche Tote - Günter Billy Hollenbach - Страница 7
6
ОглавлениеEine in Jahrtausenden gefestigte Erfahrung menschlichen Daseins besagt: Das Gesetz der Stärke herrscht bevorzugt da, wo eher wenige Gehirnregungen dazwischenfunken.
Auf die Gegenwart bezogen gilt: Je weniger, desto Rocker. Für diese gesellschaftlichen Kreise eine hinreichend zuverlässige Faustregel. Was noch? Ganz einfach: Gesetze wurden gemacht, um sie nach Belieben zu brechen. Und um die dummen Anderen im Zaum zu halten. Wir leben nach eigenen Regeln. Die Weich-Eier von Ordnungshütern sind allenfalls lästig; scheiß drauf. Auf einer Harley gehört dir die Welt. Greif zu und bedien dich. Wem das nicht passt, der wird uns kennen lernen.
Live free, die hard.
Das heutige Ergebnis entsprach folglich nur bedingt den Erwartungen.
Aus Rocker-Sicht.
Wir dagegen?
Was blieb uns anderes übrig?! Wir haben es versucht, mit verbindlichem Dialog. Andererseits, kleinlich zu sein widerstrebt uns, wenn Angebot und Nachfrage von Gewalt derart ungleich verteilt sind. Aus unserer Sicht – die Harley-Kerle protzen mit mächtigem Motorengedonner. Das hätte ihnen reichen sollen.
Zu blöd, wenn man nur die eigene Faustregel draufhat. Dass die vier frohgemut in ein Inferno rollen könnten, das gewöhnliche Zentrumsbesucher ihnen bereiten, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft.
Wir sind eine friedliebende Familie, wirklich und wahrhaftig.
Weil wir wissen, wovon wir reden.
Nicht nur aufgrund eigener Erfahrungen mit krimineller Gewalt.
Und dank Monas Mutter Hauptkommissarin.
Wir sind bekennende Anhänger der wehrhaften Demokratie.
*
„Fa Jin“ ist die anspruchsvollste und gefährlichste Form des „Ba-Gua Quang“. Beides betreibt Mahina seit über fünfzehn Jahren mit Inbrunst. Es hilft ihr vortrefflich, Aufmerksamkeitsenergie zu bündeln und den Eigenwillen ihres Hochleistungskopfs zu zügeln.
Im Westen ist diese traditionelle chinesische Kampfkunst, hergeleitet aus dem Tao-Element des Wassers, wenig bekannt. Auch in China hat sie eine eher kleine Anhängerschaft. Gepflegt wird sie hauptsächlich – als Königsweg zur Selbstbeherrschung – in einzelnen Mönchsklöstern. Und – weniger spirituell – bei Elite-Einheiten staatlicher Sicherheitsdienste.
„Fa Jin“ treibt die Tao-Grundidee auf die Spitze: Energie ist alles und Atem das wertvollste Lebensmittel des Menschen.
Es braucht jahrelanges, geduldiges Training, bevor du die ungeheueren Kräfte meisterst, die dabei aufgebaut werden. Und den festen Glauben an einen Vorgang, der anfangs schwer zu begreifen ist.
Vergiss massiges Hantelstämmen für üppigen Muskelaufbau.
Geist und Wille liefern deine Waffen.
Durch bewusstes Atmen füllst du eine orangefarbige Energiekugel hinter dem Bauchnabel. Wenn der Druck darin groß genug ist, entlädst du ihn schlagartig mit gezielter Willenskraft sowie kleinen Hand- und Fußbewegungen. Nicht harte Fäuste und dicke Muskeln erledigen den Angreifer, sondern die durch Handkanten und -ballen oder Fußbogen gelenkte Energie; scharf gebündelt wie ein Stecheisen oder die heiße Flamme eines Schweißbrenners. Unterstützt von Bewegungen, die unerwartet und so schnell ausgeführt werden, dass sie leicht zu übersehen sind.
Mag reichlich seltsam klingen.
Dachte ich auch. Bis voriges Jahr in San Francisco Mahinas Lehrmeister vor mich trat. Ein fast kahler, schmächtiger Chinese, der wie eine greisenhafte Kung-Fu-Karikatur aussah. Wenige Augenblicke später flog ich gut einen Meter rückwärts gegen eine Matte. Ich könnte schwören, der Mann stand weitgehend reglos knapp zwei Meter entfernt und hat mich nicht berührt, weder mit Händen noch mit Füßen. Selten veränderte sich eine meiner Überzeugungen dermaßen schnell und gründlich wie bei der Gelegenheit.
Ob die Rocker, wenn sie zur Besinnung kommen, einen ähnlichen Lerngewinn verbuchen?
War das ungehörig, was wir getan haben? Ungerechtfertigt voreilig?
Wenn es nicht die eigenen, möglichst superblonden Busenköniginnen sind, werden Frauen von Rockern liebend gern mit zotigen Sprüchen und schweinischen Gesten beleidigt, aber eher selten körperlich angegriffen. Einen Herrn Unscheinbar jenseits der Fünfzig fegen diese hochnäsigen Typen üblicherweise mit wenigen seitlichen Armbewegungen aus dem Weg. Selbst schuld, wenn man sie blöd anlabert.
Und dann das.
Zugegeben, Mona hat als Erste getreten.
Aber Walli hat zuerst reingehauen; mit Worten, die mehr verletzen können als ein gehöriger Tritt in die Knie. Damit erübrigen sich Spitzfindigkeiten wie die Frage, wer angefangen hat. Bei diesen Kerlen tut man ohnehin gut, nicht abzuwarten, wann oder ob sie halt machen.
Ganz nebenbei: Es fühlte sich einfach gut an. Bei passender Gelegenheit. Betätigung im Freien bringt bekanntlich mehr als Üben daheim auf der Matte. Und ein zufriedenstellendes Ergebnis lohnt manche Mühe.
Ich arbeite nun mal als Verhaltens-Coach.
Mich dabei vielseitig fortzubilden, ist Teil meiner Berufsauffassung. Die Saukerle nehmen sich das Recht, einem den ganzen Nachmittag zu verderben. Danke, meine Herren. Seit dem eher ungeschickten Zweikampf mit einem jungen Chinesen, der mir in San Francisco die kleine Janey entreißen wollte, hat sich meine Schlagfertigkeit beachtlich erhöht. Zumal alltagspraktische Lebensberatung mein Fachgebiet ist. Auch wenn meine sonstige Kundschaft etwas kultivierter auftritt und sich eher selten derart ungestüm aufdrängt.
Wie gesagt, San Francisco und die weitreichenden Folgen.
Kurz nachdem sich Mahina bei uns heimisch fühlte, brachte sie Mona und mir umsichtig, aber mit Nachdruck die Grundlagen und wirksame Techniken des „Ba-Gua“ bei. Allen voran das satte Atmen in den Bauch und das Bündeln von Willensenergie. Das haben wir nun davon. Mehrmals pro Woche gehören gut zwanzig Minuten Kraftgymnastik und „Ba Gua“ zum Tagesablauf; wie die regelmäßigen Mahlzeiten.
Die Fans von Kung-Fu-Filmen berauschen sich an Szenen voll bedrohlicher Gebärden und Kampfgebrüll sowie Schlägen, Tritten und Ballett-Verrenkungen der Darsteller; je länger desto lieber.
Derartige Flausen trieb Mahina uns schnell aus dem Kopf.
Allem voran steht die Einsicht: Der kluge Kämpfer vermeidet den Kampf. Wird der jedoch unvermeidlich, gilt: Deine oberste Pflicht ist, das eigene Leben zu schützen. Allein dafür kämpfst du. Kämpfe niemals, um Wut freizusetzen, Strafe auszuteilen, Ruhm zu erlangen oder etwas so Dummes wie die Ehre zu verteidigen. Wenn es sein muss, kämpfe wachsam, gezielt und unerbittlich hart.
Dem gemäß trimmte Mahina uns auf Schnelligkeit und Genauigkeit bei einer Handvoll Bewegungen, die es in sich haben. Der Rocker mit der blutenden Nase kann froh sein, dass ich ihm den Kehlkopf nur kurzzeitig verschoben habe, statt ihn zu zermatschen. Dem schwerfälligen Walli zwei Zähne ausschlagen, ohne dass meine Handkante auch nur schmerzt – eine meiner leichteren Übungen. Wir sagen es nicht gern laut, aber jede unserer Kampfbewegungen, mit etwas mehr als sportlichem Einsatz ausgeführt, kann schädigende, gar lebensgefährliche Folgen haben. Für den, der getroffen wird. Weil sie sich gegen Schwachstellen des Körpers richten und tief unter seine Oberfläche reichen können. Um so mehr lernst du Selbstbeherrschung und Verantwortung für das Leben zu schätzen.
*
Ich will einfach nur weg von hier.
Okay, Schultern kräftig ausschütteln, die unerfreulichen Teile des Erlebten fallen lassen wie welkes Laub, Bauchenergie auffrischen, den Kopf freimachen. Ich bin nicht nachtragend.
Zugegeben; die Auseinandersetzung ist etwas heftig geraten. Keiner der vier Biker würde dem widersprechen. Na und?! Kommt hin und wieder vor in ihren Kreisen. Beißt man einfach die Zähne zusammen, macht aber kein großes Aufheben darum.
Im Gegenteil; viel Feind, viel Ehr’.
Mir ist es ebenfalls recht. Schließlich haben die Typen uns eine Gelegenheit zum Üben geboten und einen wertvollen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Familie geleistet.
Ganz zu schweigen von dem Lerngewinn für alle Beteiligten. Wären die Rocker bloß vorbeigedonnert, hätten wir uns wohl kurz über den Krach ihrer Maschinen geärgert, die Kerle aber gleich darauf vergessen. Statt dessen laden sie uns zu einem anregenden Meinungsaustausch ein. Die dabei vorgetragenen Standpunkte mögen auf unterschiedliche Aufnahmebereitschaft gestoßen sei, lohnen aber, länger bedacht zu werden. Zumindest kann nun jeder Anwesende anschaulich nachvollziehen, dass man mit Höflichkeit und Zurückhaltung gesünder lebt.
Was willst du mehr?!
Am liebsten möchte ich meine vier Frauen ins Auto setzen und davonfahren. Mona, ganz angehende Kriminologin, ist dagegen.