Читать книгу Der falsche Tote - Günter Billy Hollenbach - Страница 6
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ОглавлениеUnverzeihlicher Fehler.
Wie sie es macht, bleibt in solchen Augenblicken nebensächlich.
Um so besser erinnere ich, was sie macht.
Keine Zehntelsekunde nach dem Messerklicken.
Mahina fliegt, beide Beine voraus, fast waagerecht durch die Luft, rammt dem mittelgroßen Schwarzhaarigen ihre linke Schuhsohle gegen den Brustkorb, ihren rechten Tennisschuh gegen die Innenseite des Unterarms mit der Messerhand, dreht sich um ihre Längslinie, fängt sich katzenähnlich geduckt, springt vom Betonboden auf, wirft sich dem zurücktorkelnden Mann mit Wucht gegen die Brust, die beiden angezogenen Knie voraus. Federt zurück, richtet sich auf und atmet durch.
Ihre Art, solche Fehler zu beheben.
Zeitbedarf, geschätzt: drei Sekunden.
Mit einem hohlen „Plonk“ prallt der stämmige Kerl fast zwei Meter weiter seitwärts gegen einen geparkten Kombiwagen, rutscht haltsuchend am Kotflügel entlang abwärts. Beim Abstützen des Falls ist das Brechen des rechten Oberarmknochens zu hören. Der Rocker jault gepresst in sich hinein, schnappt hoch in eine halb sitzende Haltung, sinkt röchelnd in sich zusammen. Glotzt mit verständnislosem Blick in großen Augen auf die Gestalt in schwarzen Jeans und grauem Sweatshirt, die sich beinahe gleichzeitig über ihn beugt und mit knackigem Handkantenschlag auf das linke Schlüsselbein seinen Abstieg besiegelt.
Als müsste sie um Verständnis werben, erklärt Mahina mit kurzem Blick über die Schulter:
„Das Schwein wollte eines unserer Mädchen schnappen.“
Zwei Sekunden später und einen schnellen Sprung weiter verpasst sie dem schockstarren Rocker mit den rötlichen Stoppelhaaren einen satten Handflächenstoß gegen die Stirn. Es wirkt wie eine beiläufige Geste. Aber sicher ist sicher.
„Extra thank you, Mister Rattenmaul, für hinter uns schnüffeln,“ gibt sie ihm mit. Der Kerl verdreht die Augen, als ob er Sterne sieht, greift sich mit zitternden Armen an den Kopf, geht stöhnend in die Knie.
Ein wenig außer Atmen klingt Mahina jetzt schon.
*
Mona hat den Vor-Rocker mit der blonden Mähne ruckzuck umgehauen; und vor den Kumpels mächtig gedemütigt. Allerdings; das eigene Anliegen hinterfragen und treffende Gegenargumente anerkennen, sprich nachgeben? Ausgeschlossen für einen echten Rocker. Wallis Grimasse verrät flammende Wut. Beachtlich schnell kommt er wieder hoch, das Kinn nach vorn gereckt, den Blick starr auf Mona gerichtet. Er knickt zwar kurz im rechten Bein ein. Doch seine linke Faust hält einen schwarzen Schlagring mit spitzen Zacken.
Noch bevor Walli Luft holen und zum Rundschlag ansetzen kann, trifft der angewinkelte Arm meiner Lederjacke seine Faust. Schnelligkeit ist keine Sache des Alters sondern der Aufmerksamkeit, des Willens und des Trainings. Ich spüre einen leichten Druckschmerz, rucke Wallis Arm abwärts. Fast gleichzeitig dresche ich meine rechte Handkante auf den Mundwinkel des Rockers. Sein Unterkiefer schiebt sich gehörig zur Seite, ich spüre etwas darin nachgeben.
Der Typ bekommt Augen groß wie Boskop-Äpfel, versucht eine Kaubewegung. Die geht in einem Hustenanfall unter. Dabei spuckt er erst Blut in seine zum Mund gesprungene Handfläche; dann folgen zwei mittelgroße Zähne. Damit endlich Ruhe ist, schicke ich den Blonden mit einem schnellen Tritt in die linke Kniekehle erneut zu Boden.
Richte mich auf, hole kräftig Luft, nehme den Schlagring an mich.
Ich – wütend auf den Kerl? Nicht die Spur. Der Anblick seines Schlagrings hat lediglich in mir einen kreativen Schub ausgelöst.
Erst drehe ich mich nach den „Töchtern“ um; Janina und Samira verfolgen das Geschehen aneinandergedrückt mit ängstlichen Augen. Dann schaue ich nach meinen Frauen. Mahina zupft die Ärmel ihres Lederblousons zurecht, den am Arm ramponierten Rocker beständig im Blick.
„Was habe ich gesagt? Organspender!“
Mona schüttelt die Schultern aus, streicht ihr dünnes Jackett glatt, blickt in die Runde und bricht in enttäuschtes Grinsen aus.
„Schade, kaum komme ich in Schwung, geht das Training zu Ende.“
Beginnend mit Wallis Pöbelei dürfte der ganze Vorfall gerade mal gut zwei Minuten gedauert haben.
Der militärische Fachausdruck lautet Blitzkrieg.
Beim Anblick der Gasse zwischen den Autos verflüchtigt sich die gewohnte Vorstellung von Parkhaus. Vier schwere Motorräder stehen wie eilig verlassen rum; ein Stück davor, halb liegend und stöhnend, hocken drei der Kerle am Boden, haben Mühe sich zu bewegen, fragen sich bestimmt, wo ihre Kopf- und Gliederschmerzen herrühren.
Das denkwürdigste Bild gibt der rotgesichtige Schwarzhaarige mit dem gebrochenen Arm ab. Fassungslos erstaunt starrt er mit schmerzverzerrter Miene auf den Griff seines Springmessers. Dessen Klinge steckt mehrere Zentimeter tief in seinem rechten Oberschenkel. Um die Einstichstelle herum beginnt seine verwaschene Jeans, sich dunkelrot zu färben.
An der Zufahrtseite rollt langsam ein hellgrauer Mercedes vorbei; am Steuer eine wohlfrisierte ältere Dame. Auf der Suche nach einer Parklücke stoppt sie kurz, erblickt statt dessen eine Szene wie nach einem Grananteneinschlag, reißt ungläubig die Augen auf und gibt Gas. Ihr verstörter Blick bringt mich zurück auf Normalbetrieb.
*
Wir waren vorgewarnt. Auch wenn Eins und Eins erst zusammenkamen, als der Donnerlärm im Parkhaus heranrollte.
Wenn Menschen etwas bewusst anschauen, strahlen sie Aufmerksamkeitsenergie aus; wie lebende Sendemasten. Folglich auch, wenn sie andere Menschen beobachten. Hegen sie dabei missgünstige Absichten, senden sie stärkere Energie aus als bei freundlichen Gedanken. Das liegt in der menschlichen Natur.
Meist bemerke ich, ob mich jemand von hinten anstarrt. Mit einem Kribbeln im Nacken oder im Dritten Auge hinter der Stirn. Wenn ich nicht gerade mit den beiden Mädchen und Essstäbchen rumalbere.
Mahinas Wahrnehmungsschwelle für höhere Schwingungsenergie ist, wie gesagt, niedriger als meine. Wenn sie darauf einstellt ist, fängt sie fremde Gedankensignale mühelos ein.
Zum Essen hatten wir einen Tisch unter einem beigefarbigen Sonnenschirm gefunden; wie ein riesiger Pilz mit einem dicken Metallpfosten in der Mitte. Auf einem halbrunden Platz, umgeben von Boutiquen und weiteren Restaurants. Und breiten Wegen, auf denen die Besucher des Ladenzentrums um die Tische im Freien herumschlendern.
Diesmal zahlte sich Mahinas Scheu vor belebten Plätzen voll aus.
Mit gewohnt ruhiger Miene hat sie sich zwischen ein paar Bissen Lachs in meine Richtung über den Tisch gebeugt, die Augen seitwärts gerollt und geflüstert:
„Bear, pay attention für den Mann an dem Eingang von das Jeans-Geschäft. Mit schwarze Lederjacke ohne Ärmel und großer Adlerkopf auf dem Rücken.“
Ich habe nur lächelnd genickt. Eine Weile später wie zufällig zur Seite geschaut. Vor dem Laden stand ein mittelgroßer, stämmiger Rocker mit rotbraunen Haarstoppeln. Der spätere Mister Rattenmaul.
„Okay, habe ihn gesehen. Was ist mit ihm?“
„Ist schon zweimal hin- und zurückgegangen, schaut immer zu uns, hat telefoniert, wie bei ein Report.“
„O...kay? Was sollen wir tun?“
„Warten. Erst wollen wir das schöne Essen genießen. But something is wrong; der Adler-Mann. Er ist nicht allein.“
„Danke, geliebte Mond-Königin, wir sind auch zusammen.“
„Sure, my man.”
„Hey, ihr zwei,” unterbrach Mona, ganz strahlende Heiterkeit, uns von der Vorseite des Tischs her. „Wir sind auch noch da. Turteln könnt ihr heute Abend.“