Читать книгу Hauptkommissar Theobald Weinzäpfli und die vergifteten Weggen von Meggen - Günter Struchen - Страница 12

Kapitel 8

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Auch wenn es Friedli zunächst eigenartig vorkam, mit einem Mann zu reden, dessen Luftröhre auf Höhe Nase mit einem Lumpen dicht gemacht worden war und der alle paar Schritte eine Erholungspause einlegen musste, weil er die Atmung durch den Mund und das Sprechen nicht gekonnt genug aufeinander abstimmen konnte, gewöhnte er sich an diese Eigenartigkeit und befand schliesslich, dass der Sidler Pierre durchaus ein gmögiger Typ sei. Ohne dass er ihn dazu aufgefordert hätte, erzählte ihm der Sidler, wie es zum Zwischenfall mit dem bleichen Mann gekommen war, der Johannes Wiget hiess, den man im Dorf aber Jack Wiget nannte. Friedli erfuhr, dass ein Streit um die journalistische Vorherrschaft im Bezirk Küssnacht im Gang war. Dies, seit Wiget mit dem «Waldstätter» ein liberales Kampfblatt gegründet und damit die langjährige Monopolstellung des «Freien Schweizers» in Frage gestellt hatte. Der «Waldstätter» war keine ernsthafte Konkurrenz für den «Freien Schweizer», die Schwyzer waren landesweit dafür bekannt, dass ihnen Progressivität so ungeheuer war wie einem Scharfschützen der Morgenstern. Trotzdem reichte die Provokation, um eine Fehde in Gang zu setzen. Geschichten waren halt ein seltenes Gut. Dass es Jack Wiget die Sicherungen raushaue und er eine Nacht auf dem Polizeiposten verbringen müsse, war laut Sidler keine Seltenheit. Der Jack habe nicht nur ein geschliffenes Mundwerk und eine spitze Feder, was ihn durchaus zu einem guten Journalisten mache, sondern sei darüber hinaus ein furioser Dickschädel, ledig, Protestant und stamme aus Einsiedeln. Er verachte nicht den Alkohol, verehre die Frauen und liebe die Männer. Und somit seien in ihm Eigenschaften vereint, die das Leben in dieser Region etwas kompliziert machen würden. Friedli verschwieg seine Beobachtung, dass es eigentlich der Sidler gewesen war, der den ersten Gewaltakt ausgeführt und somit die Schlägerei angezettelt hatte.

Sidler nahm Friedli mit auf einen Spaziergang durch Küssnacht. Die beiden durchquerten das Dorfzentrum, kamen an einer Beiz mit Namen «Zum Tell» vorbei, durch deren trübe Gläser dubiose Gestalten herausstierten, begingen die altehrwürdige Gotthardroute und bogen schliesslich in ein Quartier ab, das so andersartig war, und zwar in unerwartet schlagartiger Manier, dass Friedli abrupt stehenblieb. Während die Häuser und Strassen, Gassen, Gärtchen und Trockenmauern, die er bisher gesehen hatte, von einer langen Geschichte zeugten, war hier nichts dergleichen zu sehen. An diesem Ort hatten Industrialisierung und Kapitalismus in ihrem Freudentanz zu Ehren von Produktivität, Wachstum und Effizienz mit ihren viel zu grossen Schuhen alles Ursprüngliche grossflächig niedergetrampelt. Das einzige Relikt aus vorindustrieller Zeit war ein Kruzifix, das an einer Backsteinfassade hing. Keine einzige der kleinen Werk- und Heimstätten, die ansonsten das Ortsbild von Küssnacht prägten, war hier zu sehen. Stattdessen türmte sich ein mächtiges Gebäude aus massiven Stahlstrukturen über mehrere Stockwerke in die Höhe. Ein Schornstein spie Säulen aus Russ und Rauch in den Himmel. Aus dem Innern des Gebäudes hörte man es hämmern und quietschen, rumoren und brummen. Sidler erklärte, dass es sich um die über einhundert Jahre alte Glashütte handle, die «Glasi», wie man sie hier nenne. Keine andere Fabrik habe den Bezirk im vergangenen Jahrhundert stärker geprägt. In ihr seien über dreihundert Mitarbeitende beschäftigt, die Glasi sei von daher mit der Geschichte unzähliger Menschen verbunden. Geführt werde sie von der Familie Siegwart, die sich bereits über Generationen der Herstellung von Glas widme. Fluch und Segen sei sie, die alte Glasi, so Sidler.

Er kam nicht dazu, die angedeutete Ambivalenz zu begründen, denn just in diesem Moment kündete ein lauter Gong den Schichtwechsel an. Eine Gruppe bulliger Männer in schmutziger Kleidung, geknickter Haltung und mit leerem Blick verliess die Fabrik. Keiner der Männer sprach ein Wort. Kein einziger Gruss wurde ausgetauscht. Sie gingen wie Untote zielstrebig, aber schwankend nach Hause, wo sie essen, sich betrinken und einem kurzen komatösen Schlaf übergeben würden, ehe für sie alles wieder von Neuem losginge. Die Mühle drehte ihre Flügel, einzig am Sonntag stand sie still. Noch war das Wort der Kirche genügend laut, um nicht im Getöse unterzugehen, das die freie Marktwirtschaft veranstaltete. Irgendeinmal aber – das war selbst dem erlauchtesten aller Pfarrherren bewusst – käme der Moment, in dem der freie Markt Gott gewaltsam vom Thron stiesse und weder der Sonntag noch die Feiertage vom Diktat des Kapitals verschont blieben.

Der letzte Mann, der durch das Portal der Fabrik geschritten kam, unterschied sich von den übrigen. Er hatte den Rucksack leger über die Schulter gehängt und pfiff ein leises Lied vor sich hin. Selbst wenn auch er den Eindruck erweckte, als habe er in der Transformation vom Menschen zur Ware die kritische Grenze bald erreicht, war er offenbar nicht oder noch nicht gewillt, sich das auch einzugestehen. Seine Augen waren lebendig, auf dem müden Gesicht hielt sich hartnäckig ein schelmisches Lächeln.

«Gegrüsst, Pünteli-Sidler, was ist denn mit Ihrer Nase geschehen?»

«Salü, Hampi, fragen Sie besser nicht nach, es ist kompliziert. Mein Beruf ist nicht ungefährlich.»

«Jack, der Freigeist, wieder einmal?»

Sidler verzog das Gesicht.

«Es waren Jacks Fäuste, die den Schaden anrichteten, aber eigentlich ist es vielmehr die Welt, die mir zu schaffen macht.»

Daraufhin lachten die beiden.

«Wie laufen die Recherchen? Gibt es eine spannende Geschichte, die unsereins erst kommende Woche erfahren dürfte?», wollte der Arbeiter wissen, nachdem das Gelächter verebbt war. Sidler tat so, als würde er hinter vorgehaltener Hand sprechen und chüschelete: «Würde ich es Ihnen sagen, wäre ich morgen tot.»

Und wieder verfielen die beiden in ein herzhaftes Gelächter. Friedli konnte sich nicht zurückhalten. Er liess sich anstecken und lachte mit. Erst jetzt wurde dem Sidler bewusst, dass er die zwei noch gar nicht miteinander bekannt gemacht hatte.

«Verzeihen Sie, wie unhöflich von mir. Hampi, das ist Chlöisu Friedli von der Kantonspolizei Bern. Seine Wache ist gerade auf Maibummel im Rigiland. Friedli, das ist der Gössi Hans-Peter, ehemaliger Wagner und Leiternbauer unseres Dorfes, mittlerweile einer der langjährigen Mitarbeiter in der Glashütte.»

«Bis zu fünfzig Seigel hatten meine Leitern, stellen Sie sich das mal vor. Und pro Seigel berechnete ich dem Kunden drei Franken. Es gab Jahre, da stellte ich bis zu dreissig Leitern her», prahlte Gössi und Friedli nickte anerkennend. Ihn befiel Mitleid. Wie musste sich ein stolzer Leiternbauer nur fühlen, der auf einmal in einer Fabrik langweilige Fliessbandarbeit verrichtete? Welch eine Demütigung war es für einen Wagnermeister, nur noch ein austauschbarer Arbeiter zu sein. Der Gössi Hans-Peter gähnte, streckte seine Glieder und hob die Hand zum Gruss: «Ich wünsche Ihnen noch einen hilben Hinecht, ich hau mich aufs Ohr. Ich habe die Frühschicht.»

Mit diesen Worten schlurfte er davon. Auch wenn er bald schon aus dem Blickfeld verschwunden war, blieb das Mitleid bei Friedli.

«Fluch und Segen … sagte ich doch schon …», sprach Sidler, wie wenn er erahnt hätte, welchen Gedanken Friedli nachhing.

Hauptkommissar Theobald Weinzäpfli und die vergifteten Weggen von Meggen

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