Читать книгу Hauptkommissar Theobald Weinzäpfli und die vergifteten Weggen von Meggen - Günter Struchen - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеDer Motor sprang nicht wieder an. Dafür wurde die Rauchsäule, die aus der Motorhaube aufstieg, grösser und grösser. Der Poschifahrer liess seinen Unmut am Lenkrad aus, aber das änderte nichts am Umstand, dass dieses Gefährt so schnell nicht wieder in die Gänge kommen würde. Die Berner Polizisten verstanden das sofort. Sie liessen den Fahrer töipelen und traten hinaus in den zauberhaften Frühlingsmorgen. Der Letzte, der das Poschi etwas ungelenk und mit leicht gekrümmter Haltung verliess, war Hauptkommissar Theobald Weinzäpfli. Er war es nicht gewohnt, im Bus oder Automobil zu fahren, sondern bevorzugte üblicherweise das Reisen auf seinem Pony – einem Tier, das er einst geschenkt bekommen und dem er den Namen Cinderella gegeben hatte. In diesem Augenblick, als er ins Sonnenlicht trat, wurde ihm bewusst, dass Cinderella, auch wenn sie um einiges langsamer war als ihre motorisierten Rivalen, den Vorteil besass, dass sich bei ihr kein Schräubchen lockern konnte. Oder zumindest kein wortwörtlich gemeintes. Weinzäpfli kicherte in sich hinein.
«Nicht New York, aber Meggen. Immerhin», hörte er die gleiche Stimme wie schon zuvor proleten und die üblichen Verdächtigen grölten drauflos. Die Tschugger waren zu gut drauf, um sich wegen einer Panne die Laune verderben zu lassen. Ein Grund für diese unbeschwerte Stimmung war wohl auch, dass sie auf der Hinfahrt bereits ordentlich gegüügelet und sich einen soliden Stüber angetrunken hatten.
Sie waren noch keine fünf Minuten an der frischen Luft, da kam ein Mann die Strasse hochgerannt, der im Nu die Aufmerksamkeit aller erlangte, weil er, einmal oben auf der Anhöhe angelangt, damit begann, im Zickzack in der Gegend herumzuhuschen. Und zwar in etwa so planlos wie eine Kaulquappe im Schnapsglas. Nur bedeutend ausdauernder. Die Berner Polizisten stellten ihre Gespräche ein und folgten dem Mann mit ihren Blicken. Ab und zu blieb dieser vor einem Büschli, einer Hecke oder einem Gstrüpp stehen, grübelte beidhändig darin herum, schien aber nicht zu finden, wonach er suchte, und rannte dann wie pickt zum nächsten Gebüsch, bei dem sich das Prozedere wiederholte. Unter den Polizisten, die das Spektakel mitverfolgten, war auch Inspektor Gottfried Chummer, Weinzäpflis rechte Hand. Während Weinzäpfli fast allen erdenklichen Abstrusitäten des menschlichen Verhaltens mit Toleranz begegnete, passte Chummer das, was er sah, überhaupt nicht. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, was dieser Mann da genau tat. Und das machte ihn fertig. Chummer studierte ihn von Kopf bis Fuss. Der Läufer war Mitte sechzig, hatte schütteres, blondes Haar, dicke Brillengläser, die seine Augen zu kleinen Stecknadelköpfchen schrumpfen liessen, war braun gebrannt wie ein Wildheuer und spindeldürr. Er trug ein Stirnband, lange Kniesocken und seine kurzen Hosen waren so weit hochgezogen, dass der Püntel in seinem Umriss angedeutet wurde, was Chummer dazu veranlasste, die zwar scharf beobachtenden, aber dennoch anständigen Blicke im oberen Körpersegment ruhen zu lassen. Der Fremde nahm keine Kenntnis von den Gestrandeten oder dem Poschi, das immerhin mitten auf der Strasse stand und den Himmel über Meggen allmählich mit schwarzem Qualm überdeckte. Doch als er gerade zum wiederholten Mal quer über die Strasse zum nächsten Gebüsch rannte, erschallte auf einmal eine laute Trillerpfeife. Einer der Polizisten stellte sich dem wirren Läufer mit erhobener Hand in den Weg und schrie: «Stopp! Hören Sie nullkommaplötzlich damit auf, Sie sturmes Beieli. Ich habe auch schon sonst Kopfschmerzen. Ihnen zuzusehen, gibt mir den Rest.»
Die genervte Stimme gehörte dem Krähenbühl Jacky. Der Fremde blieb sofort stehen. Er blickte verdattert zum Verkehrspolizisten. Dann schaute er mit seinen kleinen Äuglein von einem Gesicht zum nächsten, so als ob ihm der Polizistentrupp eben erst aufgefallen wäre. Weinzäpfli trat neben Krähenbühl und sprach in wesentlich freundlicherem Ton: «Darf ich Sie fragen, was genau Sie tun?»
Die Antwort kam postwendend.
«Ich bin ein Orientierungsläufer!»
Weinzäpfli war zwar ein formidabler Ermittler, wies aber teilweise klaffende Lücken in der Allgemeinbildung auf, weshalb er auch mit diesem Begriff nicht viel anzufangen wusste. Er blickte fragend zu Chummer hinüber.
«Eine sportliche Disziplin», klärte ihn dieser auf. Weinzäpfli hob die Augenbrauen.
«Oh, interessant … Und was tut man da so?»
«Ich absolviere einen Orientierungslauf im Rigiwald. Im Moment suche ich einen Posten.»
Mit dieser Antwort konnte der Hauptkommissar wiederum nichts anfangen. Stattdessen schaltete sich nun Chummer ein: «Sie befinden sich hier aber nicht im Rigiwald, den es übrigens gar nicht gibt, sondern stehen auf der anderen Seite des Sees, in Meggen.»
Der Orientierungsläufer wirkte erstaunt.
«Jäso? Das erklärt so manches.»
Chummer wusste nicht, ob es sich um einen Scherz handelte. Die Miene des Fremden war schwer zu deuten. Er fixierte ihn grimmig und zeigte ans andere Seeufer, wo die Rigi in den Himmel ragte.
«Aber Sie sehen sie schon, dort drüben, die Rigi?»
Der Fremde folgte dem Finger ans andere Seeufer und auf seinem Gesicht konnte man aufrichtiges Erstaunen ablesen. Er nickte in Gedanken versunken.
«In der Tat, da steht sie.»
Es folgten einige Blickwechsel. Man wartete auf eine Erklärung. Der Orientierungsläufer schien sich allerdings nicht erklären zu wollen.
«Sie befinden sich auf einem Orientierungslauf im Rigiwald, suchen nun aber die Büsche in Meggen nach einem Posten ab, obwohl sich hier weit und breit kein Wald befindet?», fasste Chummer die Gegebenheiten zusammen, genervt ob so viel und so stark konzentriertem Schwachsinn.
«Ich habe nie gesagt, ich sei ein guter Orientierungsläufer», konterte der Läufer.
«Das hat er wirklich nicht gesagt!», bestätigte Weinzäpfli.
«Das habe ich nie gesagt», wiederholte der Orientierungsläufer ein weiteres Mal, dankbar für die unerwartete Schützenhilfe. Chummer hatte schon reichlich Erfahrungen gemacht mit den grotesken Verbrüderungen, die sein Chef manchmal einging. Deshalb zog er gerade noch rechtzeitig die Notleine, hob die Hand und verzog sich auf einen Spaziergang durch Meggen. Die übrigen Polizisten, die die Geschehnisse aufmerksam mitverfolgt hatten, sahen sich plötzlich mit einer delikaten Entscheidung konfrontiert: Sollten sie hier bleiben und den zwar kuriosen, aber auch unterhaltsamen Dialog ihres Chefs mit dem OL-Läufer weiterverfolgen oder stattdessen mit dem Stellvertreter Chummer mitgehen, der vielleicht eine Beiz fände, in die man einkehren könnte? Für beide Optionen gab es gute Gründe. Wie auf Kommando teilte sich die Menge und eine Gruppe bestehend aus zehn Männern folgte Chummer. Die Übrigen näherten sich, wie wenn es sich um ein Bekenntnis handelte, ihrem Chef und formten einen Halbkreis um ihn herum. Zu ihnen gehörten auch die zwei langjährigsten und treusten Begleiter Weinzäpflis: der arbeitslose Theaterdirektor Chlöisu Friedli, der sich schon vor vielen Jahren notgedrungen zum Tschugger hatte ausbilden lassen, und sein stark übergewichtiger, dafür aber an Worten karger Kollege Franz Linder. Weinzäpfli bemerkte nichts davon. Seine Aufmerksamkeit galt dem OL-Läufer.
«Ich würde gerne mit Ihnen mitlaufen! Nehmen Sie mich mit?», meinte er auf einmal. Der OL-Läufer schlug entzückt die Hände zusammen.
«Sehr gerne sogar, können Sie Karten lesen?»
Er kramte eine Landkarte aus seiner Westentasche, versuchte sie auseinanderzufalten, scheiterte dabei und zerriss sie auf der Höhe von Quinto und Airolo. Dann hielt er ihm das Gnuusch hin, wie wenn er sich Erleichterung verschaffen wollte.
«Nicht annähernd», gab Weinzäpfli zu. Der OL-Läufer gluckste vor Freude und warf die Karte in hohem Bogen über seine Schulter weg. Sie blieb mitten auf der Strasse liegen, unmittelbar neben einer alten Zeitung.
«Folgen Sie mir!», schrie der Orientierungsläufer. «Nächster Halt Rigiwald!»
Und die zwei zogen davon, so orientierungslos wie Brieftauben im Hornissenschwarm. Bald schon waren sie aus dem Blickfeld der verbliebenen Polizisten verschwunden, die das Ganze in einer Mischung aus Belustigung und Entsetzen mitverfolgt hatten und nun im Kollektiv die Grinde schüttelten. Man kannte Weinzäpfli, und doch vermochte er einen immer wieder aufs Neue zu verwundern.
«Ich habe die ernsthafte Befürchtung, dass wir die zwei nie mehr wiedersehen», sprach Friedli im Scherz. Linder machte ein paar Schritte auf die liegen gebliebene Karte zu, ging in die Knie, sodass sein beeindruckender Wanst erbebte, hielt kurz inne und hob dann aber stattdessen die alte Zeitung hoch.
«24. März 1959», stand auf dem vergilbten Papier, direkt unter dem Signet der Zeitung, die «Freier Schweizer» hiess. Linder hievte sich wieder in die Höhe und las die Schlagzeile. Seine Stirn runzelte sich. Etwas stimmte in diesem Ort nicht. Linder war sich sicher. Er faltete die Zeitung wieder zusammen und versorgte sie in seiner Westentasche.