Читать книгу Hauptkommissar Theobald Weinzäpfli und die vergifteten Weggen von Meggen - Günter Struchen - Страница 13

Kapitel 9

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Weinzäpflis Offenbarung sorgte für Panik unter den Kriminalbeamten. Wie auf Kommando begannen von Rotz, Brändli und Zgraggen damit, durcheinanderzureden, die Hände zu verwerfen und willkürlich ihre Plätze zu tauschen, sodass keiner den anderen verstand und sich dem Betrachter ein turmzubabylonisches Spektakel darbot. Von Rotz rubbelte sich dabei derart intensiv die Stirn trocken, dass es zu befürchten galt, er würde irgendeinmal sogar Haut und Schädel wegrubbeln und an einen Ort gelangen, an dem jegliches Rubbeln schwerwiegende Folgen hätte. Brändli schnaubte derweil im Sekundentakt verächtlich vor sich hin und Zgraggen zerdrückte fast das Kruzifix in seiner Hand. Weinzäpfli wusste, dass in solch chaotischen Situationen jedes vernünftige Wort fehl am Platz war. Er liess den Herrschaften Zeit. Zeit, damit sich die Vernunft von alleine wieder den Weg durch alle äffischen Triebe hin zum Lenkrad freiboxen konnte; denn interessanterweise verhielt es sich bei Menschen konträr zum Universum: Während im Universum das Chaos allmählich die Ordnung besiegte, legte sich in der Gefühlslage von Menschen jegliches Chaos früher oder später und machte Platz für Ruhe und Ordnung.

Er wandte sich von den zu Hühnern gewordenen Herrschaften ab und schaute die Anhöhe hinunter auf die Landstriche, die er von diesem Standort aus überblickte und denen er wegen der Kriminalpolizisten und der Leiche keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Vor ihm breiteten sich mit Blumen und Kräutern gespickte Wiesen aus, durch die sich ein Bächlein schlängelte. Unten auf einer Strasse, die der Böschung entlang nach Norden führte, waren die drei Dienstwagen der Kriminalpolizisten parkiert. Dahinter, gleich ennet der Strasse, stand ein heruntergekommenes Gebäude, um welches sich jede Menge Schrott ansammelte. Der Anblick irritierte Weinzäpfli, ohne dass er zunächst verstand, warum. Er musterte die Hütte eine Weile, dann wurde ihm klar, was ihn stutzig gemacht hatte. Das Gebäude sah zwar schäbig aus und erweckte nicht den Eindruck, als ob jemand dort wohnte. Allerdings war der Schrott rund um das Haus auffällig ordentlich sortiert. Auf jedem der vielen Schrotthaufen lag immer nur ein bestimmter Typ Material. Ansonsten gab es in dieser Gegend mit Ausnahme einiger Schöpfli keine anderen Häuser. Die Wiesen erstreckten sich bis zu jenem grossen See, der sich armbrustförmig in verschiedene Täler erstreckte und in dessen nördlicher Bucht Küssnacht lag. Plötzlich zupfte ihn jemand am Ärmel. Weinzäpfli drehte sich um und schaute durch flaschenbodendicke Brillengläser in die schlauen, kugelförmigen Äuglein des OL-Läufers. Dieser deutete stumm zur Seite. Die Kriminalpolizisten hatten sich erneut nahe an ihren Grenzsteinen postiert, wie wenn sie damit unterstreichen wollten, dass sie im Falle der Fälle nun erst recht nichts mit der Sache zu tun haben wollten.

«Sie sagen also, hier habe sich ein Mord zugetragen?», fragte Hauptmann von Rotz mit kritischem Unterton in der Stimme.

«Woher wissen Sie das? Was haben Sie für Beweise?», doppelte Zgraggen um einiges forscher nach.

«Sie sagen, Sie seien Polizist, dann zeigen Sie doch bitte Ihren Ausweis!», mischte sich auch der Dritte im Bunde, der Brändli Joseph, definitiv unhöflich ein.

Weinzäpfli betrachtete sie abwechslungsweise. Drei Fragen aufs Mal, Kollege Chummer hätte sich geärgert. Damit konnte man ihn auf die Palme bringen. Weil Weinzäpfli nicht sofort antwortete, meldete sich der OL-Läufer an seiner Stelle zu Wort: «Ich weiss zwar nicht, ob er wirklich ein Hauptkommissar ist, und zwar vor allem deshalb nicht, weil ich nicht weiss, was ein Hauptkommissar sein soll, aber ich kann zumindest bestätigen, dass er in einem Bus voller Polizisten mitreiste. Ich sah es mit meinen eigenen Maulwurfsaugen.»

Nahezu zeitgleich schwenkten alle Blicke in die Richtung des schrulligen Mannes, der zusammen mit Weinzäpfli aus dem Wald gestürchlet war.

«Und wer sind Sie? Auch ein Polizist? Bernerisch tönen Sie mir auf alle Fälle nicht. Sie baslern», herrschte ihn Zgraggen an.

«Das ist …», begann Weinzäpfli, unterbrach sich selbst und sagte zum OL-Läufer: «Ich kenne Ihren Namen gar nicht.»

Der Angesprochene gluckste erheitert.

«Ich bin der Markus, aber meine Freunde nennen mich Kusi, Küse, Kusic oder manchmal auch Eveline.»

Die Polizisten betrachteten den Orientierungsläufer mit den vielfältigen Übernamen ungläubig.

«Weshalb denn Kusic? Das verstehe ich nicht», wollte Weinzäpfli wissen und der OL-Läufer erklärte: «Meine Freunde sagen, ich hätte die Gesichtszüge eines Jugoslawen, weshalb sie sich einen Spass daraus machen, meinen Vornamen zu slawisieren.»

«Nicht annähernd …», konstatierte von Rotz umgehend.

«Und warum denn Eveline in Gottes Namen?», fragte Zgraggen. Auf diese Frage konnte der OL-Läufer keine Antwort mehr geben, denn Dr. med. dent. Joseph Brändli hatte endgültig genug. Er verliess sein Territorium, trat direkt an Weinzäpfli heran, fixierte ihn mit scharfem Blick und stellte ein zweites Mal die einzige Frage, die in diesem Moment relevant war.

«Woher wollen Sie wissen, dass wir es hier mit einem Mord und nicht mit einem Unfall zu tun haben?»

Weinzäpflis Gesicht verriet, dass er nachdachte. Wer ihn kannte, wusste, dass nun nicht nachvollziehbare Prozesse in Gang gesetzt wurden, die weit unter der Bewusstseinsschwelle abliefen und die in ihrer Mechanik die gesamte menschliche Evolutionsgeschichte beinhalteten. Er wartete einige Momente, liess die Gedanken naadisnaa in seinen Geist sickern und sprach sie dann mit lauter Stimme aus: «Unfälle sind das, was das Wort bereits besagt. Un-Fälle, Nicht-Fälle, Fälle, die keine sind. Fälle, die nichts erzählen, sondern lediglich natürliche Umstände resümieren. Unfälle sind Gegebenheiten, die nichts sind als blosse Zufälligkeiten, abgeschlossene Kapitel, zwar häufig bedauernswert, aber letztlich nicht würdig, dass man sich ihretwegen den Kopf zerbricht. Das hier …» Weinzäpfli blickte auf die Wiese. «Das hier hat nichts von einem Unfall. Die Leiche erzählt eine Geschichte, wobei es nicht natürliche Umstände sind, von denen sie berichtet. Es steckt mehr dahinter … etwas, das dem Fall Sinnhaftigkeit verleiht und ihn über die blosse Existenz eines Un-Falles erhebt. Diese Leiche ist ein Mysterium, das verstanden werden will.» Der Reihe nach zeigte Weinzäpfli auf die Polizisten: «Und Sie hat das Schicksal zusammengeführt …» Er brach den Satz ab und korrigierte: «Uns hat das Schicksal zusammengeführt, dieses Mysterium zu deuten, denn das sind wir Kriminalpolizisten letztlich, liebe Kollegen, Deuter.»

Von Rotz, Zgraggen und Brändli zuckten zusammen, als der Berner «uns» sagte und mit diesem unscheinbaren Wort einen Bund aus ihnen machte. In ihren Gesichtern erblickte Weinzäpfli eine Mischung aus Skepsis, Abneigung, Furcht, aber auch eine Portion Neugierde. Alle Ingredienzien in unterschiedlicher Intensität allerdings. Brändli liess nicht locker.

«Sie können aber keine Beweise dafür nennen, was Sie da behaupten?»

Weinzäpfli schüttelte den Kopf.

«Nein, das kann ich nicht», gestand er und führte aus: «Ich kann keinen Beweis dafür erbringen, dass wir es tatsächlich mit einem Mord zu tun haben, da haben Sie recht. Aber ich kann einen Beweis dafür erbringen, dass es eine Geschichte ist, die hier erzählt wird. Und keine zufällige Gegebenheit.»

Kommentarlos führte er die Karawane durch das hohe Gras zum Arm der Leiche, der im Territorium des Zuger Kollegen lag. Die Spannung stieg, die Kriminalbeamten tauschten besorgte Blicke. Hatten sie etwas übersehen, was diesem seltsamen Fremden aufgefallen war, der von sich behauptete, ein Hauptkommissar zu sein, obwohl es diesen Rang in der Schweiz gar nicht gab?

«Der Lokomotivführer berichtete, der Zug habe die Person etwa um neun Uhr dreissig überrollt, nicht wahr?», fragte Weinzäpfli.

«Das ist korrekt», bestätigte von Rotz sofort. Mit einer flinken Handbewegung löste Weinzäpfli die flach gedrückte Alpina-Uhr vom Handgelenk, ergriff das Lederband und hielt den anderen das Zifferblatt unter die Nase. Die Uhr war zwar defekt, die Zeiger auf dem Zifferblatt aber noch gut erkennbar. Und im Moment, in dem die Kriminalpolizisten die Zeiger sahen, klappten ihnen im Kollektiv die Unterkiefer in die Tiefe. Die Zeiger der Alpina standen auf Viertel nach drei Uhr.

Hauptkommissar Theobald Weinzäpfli und die vergifteten Weggen von Meggen

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