Читать книгу Ein alter Mann wird älter - Günther Rühle - Страница 11
18. Oktober 2020
ОглавлениеIch treibe in eine Landschaft voller Nebel. Er wird von Morgen zu Morgen dichter. Ich habe schon ein eigenes Mess-System. Wie viele der kleineren Fliesen im Bad sehe ich noch. Ich verliere die Kontrolle über die Zeit. Die Uhren im Haus versinken im Nebel. Noch reicht es für die Stufen der Treppe. Wie lange noch? Ich lebe immer mehr von den eingeübten Wegen, Schritten. Ich messe Räume und Entfernungen immer mehr aus Einübung und Wohlgefühl. Gestern Abend war ich fast verzweifelt, kam mit der Kassette von dem Lautsprecherturm von Braun, dem Renommierstück von vor vierzig Jahren, nicht mehr zurecht. Die Dinge, die wir machen, haben eine andere Lebenszeit als wir selbst. Schreibt man deswegen Bücher, um sich über seine Zeit hinaus zu erhalten? Meine Absicht war das nie. Ich lebte aus der gegenwärtigen Lust am Schreiben, aus der täglichen Forderung. Wenn es in der Redaktion mal knallte, sagte ich im stillen Trotz oft: »Ich werde euch alle überleben«. Das war Übermut, nun ist es so, und man will raus aus diesem Leben. Das Fallenlassen ist auch ein schönes Gefühl. Leise Wonne im Übergang: anderswohin. Dann rebelliert der Rest des Lebenswillens. Plötzlich singt man laut ins leere Haus, in dem die Vergangenheit stillsteht:
»Heidewitzka, Herr Kapitän« — oder noch jugendlich frecher: »Heidewitzka, mein Mann ist krank, er liegt besoffen unterm Kleiderschrank.«7 Man erschrickt vor sich selbst. Wie sagt Goethe: »Das Alter macht nicht kindisch, wie man spricht. Es findet uns nur noch als wahre Kinder.«8 So oder so ähnlich. Ich kann es nicht mehr nachschlagen. Man kann nur noch in seinem Kopf lesen, Bücher gehen nicht mehr. Adieu Zitatenhort von vier Generationen. Google weiß es wohl, aber selbst da ist jetzt alles im Nebel.