Читать книгу Ein alter Mann wird älter - Günther Rühle - Страница 13

20. Oktober 2020

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Es ist nun sicher: Der Umbau beginnt. Ich komme von der wunderbaren Augenärztin zurück, der zwei hochrenommierte Fachkollegen ihre Diagnose bestätigt haben. Richte dich ein in dem beschädigten Zustand. Trockene Makula, keine Hoffnung für das linke Auge. Dreimal die gleiche Diagnose, das muss reichen. Es hilft weiter nur die Brille mit der Kamera, die die Texte, die ich lesen will, fotografiert, in Sprache umsetzt und mündlich berichtet, was sie liest, und ich das hören kann, was ich mit den Fingern benannt habe. »Sie müssen das tüchtig üben.« Üben und sogar tüchtig. Noch ein Apparat und einer ganz neuer Art. Blinde Studenten sollen damit sogar das Examen geschafft haben.

Es fing vor fast 50 Jahren an. Statt der Zähne: Implantat. Dann die Brillen, drei Stück, für Ferne, Nähe und den Computer. Dann musste das Herz gestützt werden. Zwei Stents und ein Herzschrittmacher. Jetzt also dieser Apparat. Sehe hörend, wohin du nicht siehst. Denn man muss den Kopf etwas schräg halten, mit dem rechten Auge knapp am zu lesenden Text vorbeigucken, damit die Kamera, die dein Auge ist, lesen kann. Werde ich die Geduld haben, ich kämpfe seit Jahren schon mit den Einstellungen auf dem Computer. Das Angebot ist reichlich, der Irrtum unausweichlich. Man kann sich schon einen künftigen Menschen vorstellen, der aus lauter Ersatzteilen besteht. Mit eigenen Olympischen Spielen. Mich schauderte interessiert; wenn ich die Anfänge bei den Paralympics noch sehen könnte. Die Brille, die mir zuwächst, ist nichts fürs Fernsehen. Es bleibt mir eine akustische Erregungsstation. Meine Zukunft wird sichtbar im Verschwinden des Sichtbaren.

Eben brachte die Post das neue Buch von Bernd Feuchtner über »Die Oper des 20. Jahrhunderts in 100 Meisterwerken« – munter, freundlich und höchste Kompetenz bewahrend. 1992 habe ich ihn als Musikkritiker an den Tagesspiegel geholt. Da begann seine Karriere. Ein zarter, freundlicher, gescheiter, empfindsamer Mann. Das wollte, sollte, könnte ich lesen. Ich habe großen Nachholbedarf in Sachen Oper. Aber mit 96 bleibt das Meiste beim Wollen. Es gibt eine merkwürdige Lust zu denken: »Ich könnte« – auch wenn man nicht kann. Möglichkeiten sind der Saft der Hoffnung. Und die Hoffnung eine andere Art des Atmens.

Ein alter Mann wird älter

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