Читать книгу Ein alter Mann wird älter - Günther Rühle - Страница 17
23. Oktober 2020
ОглавлениеKurz nach zwei heut Nacht hat mich wieder die Wut gepackt: kein Wecker hat das bisher vermocht. Der jetzt zum fünften Mal. Freilich nicht kurz nacheinander, mit einwöchigen Ruhepausen dazwischen, also anscheinend kalkuliert. Dieser Wecker hat anscheinend einen Wecker drin, der ihn weckt. Es ist der sechste, den ich in den letzten fünf Jahren erhalten habe. Der erste war ein ganz graziles Ding, aber eines Nachts, unverstellt, plötzlich so laut, dass ich ihn im Erwachungsschreck vom Nachttisch warf, sodass seine zarte Glashülle zerbrach und der große Zeiger ausklinkte. Dann bekam ich einen Wecker alter Art, großes Zifferblatt, zwei Silberglocken auf den runden Schultern mit einem Schlegel dazwischen; wenn der losraste, musste man raus. Das nächste Modell war ein geschmeidig formschönes Produkt mit leuchtenden Ziffern. Er musste mich nur einmal wecken, ehe die Leuchtleiste brach. Dann als Ersatz ein Kunststück der Technik. Schwarz mit vielen Tasten, schwenkbarem Leuchtstrahl, der an der Zimmerdecke in Rot die Uhrzeit anzeigte. Man musste sich also nicht mehr drehen, halb aufstehen. Eine Erfindung außergewöhnlicher Art. Ich musste ihn, ohne sein Weckwerk benutzt zu haben, ersetzen, weil ich die Zahlen an der Decke nicht lesen konnte. Das war das erste sichere Zeichen, dass meine damals noch nicht ahnbare, jetzige Augennot begann. Man brachte mir den fünften. Schon bei der ersten Ansicht waren die Zahlen zu klein. Als sich so die Schwierigkeiten der Beschaffung und Nutzung von Weckern erwiesen hatten, haftet jetzt nachts leuchtend auf der ausgeschalteten Heizung im Schlafzimmer die ultimative Uhr, die sozusagen heimlich, also in sich, eine Nachtbeleuchtung enthält. Die Zahlen, die die Zeit bedeuten, jede zwölf Zentimeter groß, sind weit sichtbar noch hinter dem leeren Bett, dem von Margret einst.
Wir alle haben in uns eine innere Uhr. Man kann schätzen, erfühlen, wie weit der Tag, die Arbeitszeit rum ist, wann die immer goldgekämmte Judith Rakers ihre Abendnachrichten beginnt. Wenn die Zeiten der inneren und der äußeren Uhr identisch sind, gibt es Glücksgefühle, wie gut, wie treffsicher es funktioniert hat. Man fühlt sich einen Augenblick als Herr der Zeit. Man, ich empfinde das auch schmunzelnd einverständlich, wenn der Wecker mir wohlgesinnt ist oder gar kokettiert, wenn er gerade die gleichen, sofort aufeinander folgenden drei oder vier Zahlen präsentiert. 12:34 Uhr zum Beispiel gibt es einmal am Tag. Das beim Aufstehen zu treffen ist schwierig, aber kommt vor, Glücksmomente. Ich spiele nachts gern mit diesen Zahlen. Aber der grimmige Zorn von heute Nacht kam daher, dass um 2:40 Uhr der Wecker 03:40 Uhr anzeigte. Wollte der mich ärgern, auf den Arm nehmen? Da kommt man auf die grundlegende Frage: Braucht man mit 96 noch einen Wecker? Muss man noch zum Flughafen, Bahnhof, Taxi? Zur Frühkonferenz um acht? Ach so, gestern Abend sagte meine Rumänin, bevor sie ging: »Nehmen Sie morgen früh die neuen Tropfen, stellen Sie sich den Wecker.«