Читать книгу Ein alter Mann wird älter - Günther Rühle - Страница 23
29. Oktober 2020
ОглавлениеIch hab’s gerade noch geschafft, es fängt an zu regnen, ich war mit der umstürzenden Frage beschäftigt, was besser, richtiger ist: immer die 1200 Schritte zählen oder was ganz anderes denken. Noch kann ich sagen, es kommt auf die Tagesform an. Die Erfahrung habe ich erlebt. Aber irgendwann wird man, werde ich stürzen und um Hilfe rufen und was dann? »Carpe diem« hätte ich beinah geschrieben, und schwupp hörte ich wieder die froh springende und schwingende Stimme, die Gedichte von Horaz ins Zimmer sprach. Ich hatte eine alte, wieder ausgegrabene Schallplatte aufgelegt, habe ja immer noch das stammelnde Latein aus der Lateinstunde im Ohr, aber das hier war lebendig, wie auf einem römischen Gelage. Ich war plötzlich im alten Rom. Ich verstand nichts, aber erlebte eine römische Viertelstunde, wie gestern, als ich Heidegger hörte, langsam jedes Wort setzend (Bodenständigkeit, Atomzeitalter), wie ein Prediger, jedes Wort aus dem Satz genießend. Letzte Woche überraschte mich Thomas Mann. Er sprach seine Erzählung »Herr und Hund« zum Teil ganz aufgeregt, als läse einer die gefährlichste Passage aus »Sherlock Holmes«. Er steckte die ganze Aufregung in den Vortrag. Ich hielt ihn immer, weil er so lange Sätze schrieb, für einen denkenden Redner. Hier verschwand das sicher feinsinnig Erdachte in einem ganz fremden Ton. Ich habe mir einen ganzen Stapel solcher Schallplatten aus dem Schrank holen lassen, Josef Pieper, Elisabeth Langgässer, von Stefan Andres »Wir sind Utopia«. Und sechs Platten von Gert Westphal. Er war ein edler Sprecher, es war seine eigentliche Karriere. Ich kannte ihn als Schauspieler aus Bremen. Gepflegte Form der fünfziger Jahre, traf wieder auf ihn im Zürcher Schauspielhaus. War dort höchst beliebt, bis 1970 Peter Stein kam. Es muss ihm damals, wie vielen anderen, das Theater zusammengebrochen sein. Als er meine Kritiken las, schrieb er an die Herausgeber der F.A.Z. über den neuigkeitssüchtigen Herrn g. r. Es wirkte – die F.A.Z. hatte eine teilweise sehr konservative Mannschaft – lange nach. Ich bin gespannt, wie lange ich das Stimmen-Museum aus den fünfziger Jahren aushalte. Man treibt in die Zeit wieder, der man entkommen ist, besser: aus der man sich herausgearbeitet hat.