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20. Oktober 2020 Die Kerr-Ausgabe

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Man lebt in Zusammenhängen, die man erst später begreift. Ich habe von Alfred Kerr nicht das Kritikenschreiben erlernt. Ich kann auch aus vielen seiner Kritiken die Aufführungen nicht mehr erkennen, auf die er sich bezieht. Mich traf seine Sprache, die bewusste Form von Kritik, das Absolute, selbständige Gegenüber, diese sich selbst setzende Kompetenz, die sich in hoher, leidenschaftlicher Rationalität bestätigte, die Sinnliches auf den Begriff brachte. Die Kunst der Verkürzung, die Zuspitzung in der Pointe, die einen traf wie ein Blitz. Also das Besondere, Einmalige, das niemand anderes konnte. Die Sprache, die sich als Sprache, als der geschärfte Gedanke zur Wirkung brachte und in den Theaterkritiken die äußerste Konzentration vorwies als Schärfe eines lebendigen, souveränen Intellekts.

Noch etwas anderes. In der Beschäftigung mit der Literatur des deutschen Exils, mit der Wiederherstellung und der Abbildung der Literatur, fühlte ich eine Zäsur, sah ich die Lücke. Die Lücke hieß Kerr. Er war nicht vergessen, mit seinen Kritiken in der Erinnerung auch richtig positioniert, aber die Breite seiner Wirkung war nicht mehr präsent. Die Weite seiner Interessen, seiner Themen, seiner Bedeutung war neu zu erschließen.

Wir brauchten die Neubesichtigung von Kerr, seiner Arbeit, seiner Person, seiner tragischen Geschichte. Eine neue Ausgabe sollte das alles sichtbar machen. Die Suche begann. Wer will das? Die kühne Gerda, die den blauen Mantel immer so theatralisch über ihre Schulter warf, in der Hertziana in Rom geschult, im Verlag S. Fischer bekannt geworden, hatte in Zürich eine eigene Literarische Agentur begründet. Zu ihr brachte ich Kerr: »Such einen Verlag!« Von vielen Gängen kam sie mit einem »Nein« zurück. Rowohlt, Suhrkamp, Hanser waren dabei. Kerr? In Berlin hatten sie unvermutet keine Bedenken. Es war noch vier Jahre vor der Wende, in West-Berlin plante man noch für den Westen. Der Tagesspiegel hatte eine Stiftung, die Geld hatte. Aus dem Geld sollte ein Verlag werden, Argon hieß er. Berlin, Zwanziger Jahre. Dahin, in diese Nische kam Kerr. Es war ein Anfang. Es war ein Glück mit Enttäuschungen, Zerwürfnissen und dem Schrumpfen meiner Hochachtung vor deutschen Professoren. Herr Poll war schon in einem vorbereitenden Gespräch mit einem Professor für eine Kerr-Ausgabe.9 Wir teilten die Arbeit. Als die ersten Bände erschienen, waren die neuen Bände voll von einst schon gedruckten Texten. Die Anmerkungen hatten etwa diese Qualität: »Goethe, Wolfgang, deutscher Dichter, lebte in Weimar«, so ungefähr. Das war der Anfang aller Trennungen. Die gehören in die Verlagsgeschichte. Ich wollte nur berichten, dass es doch schwierig war, wieder darzulegen, dass Kerr mehr war als ein Erinnerungswert. Die Ausgabe der Kerr-Schriften wuchs auf acht Bände. Doch schließlich bei S. Fischer. Weil Argon in der Wende Pleite ging und im Fischernetz landete. (Ich musste Reich-Ranicki zu Hilfe rufen.) Kerr, der S. Fischers Gründer einst tüchtig genährt hatte, hatte eine bösartige, auch lyrische Grummelei mit Thomas Mann. Mann war der neue Hausheilige bei S. Fischer. Aber es klappte.

Ich sehe mit Wehmut auf die acht Bände drüben im Regal. Die Kerr-Geschichte ist damit nicht zu Ende.10 Ich berichte, wenn ich wieder eine Erfrischung brauche.

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