Читать книгу Ein alter Mann wird älter - Günther Rühle - Страница 6
ОглавлениеMein merkwürdiges Tagebuch
Ein Prolog
I
Auf einmal machte es RUMS. Da merkte ich, ich wurde doch 96. Bis dahin sagte ich immer zum Scherz: »Na ja, ich bin ja auch erst 96«, wenn einer sagte: »Sie sind ja ganz schön fit.« Als wäre man ein Bestaun-Objekt. Jetzt war der Punkt. Die abgestellte Baumaschine am Kreisel hatte unten noch Kanten, die ich nicht sah, jetzt war unten der Riss im Schweller. Teuerste Stelle. Der Entschluss muss in mir gewartet haben. Nie mehr Autofahren. Schluss nach 66 Jahren. Ich wurde ein Taxist. Ein gutes halbes Jahr saß ich fortan im Taxi hinten rechts, wo immer die Direktoren sitzen. Es war ein ganz neues Fahrgefühl. Herrlich. Manche Fahrer, ob kroatisch, tschetschenisch, machten einem die Tür noch auf beim Aussteigen. Man konnte noch in die Stadt, an den Geldautomaten, im Supermarkt einkaufen. Auswählen. Man war nicht im Ruhestand. Noch immer nicht.
Als Journalist muss man nicht in den Ruhestand, solang einem noch was einfällt und man noch schreiben kann, sogar noch Lust dazu hat und merkt, dass man gar nicht aufhören will und kann mit dem Schreiben. Man denkt erst beim Schreiben. Ich konnte noch schreiben. Den ganzen Tag. Ich war in eine Arbeit geraten, die noch lange nicht aufhören wollte und sollte. Ich bin ins Theater geraten, ich weiß nicht, wie. Das Warum beschäftigt mich jetzt, da ich stillgestellt bin. Ich las damals, blätternd in alten Theaterkritiken von 1897, und plötzlich funkte es. Ich hatte den Beruf eigentlich schon hinter mir, war sogar aus Berlin zurück. Da, als ich einen Bericht, von wem war der nur, las, wie der alte Fontane mit Paul Schlenther in die erste Aufführung der »Gespenster« ging, 1897. Eine Stunde später setzte ich mich an die Tasten und schrieb drauflos. Der Text eröffnete dann vier Jahre danach mein »Theater in Deutschland«, fast tausend Seiten, die sich fortsetzten und deren Ende noch nicht abzusehen war, als es RUMS machte. Da war ich sicher, der dritte Band könnte noch fertig werden.1
Das eben erhielt mich froh, zufrieden, ich gehörte nicht zu denen, die nach dem Ausscheiden aus dem Beruf in ein Loch fallen und ihre Ehefrauen mit ihrer Langeweile quälen. Bei uns war es eher umgekehrt. Als meine Frau, die unvergessbare Margret, mit 67 aufhören musste, jungen Menschen in der Schule gutes Deutsch und richtiges Englisch beizubringen, dankte sie mir eines Tages, dass ich sie beschäftigte, aus den inzwischen in Breslau aufgefundenen Kerr-Briefen ein druckfertiges Manuskript zu tippen.2
Ich muss einhalten. Wenn man so unfreiwillig in einen Ruhestand getrieben wird wie ich eben, wachsen und wuchern in einem längst vergessene und verdrängte, auch vertriebene Kräuter und Unkräuter der Erinnerung wieder hoch. Die Zeit baut sich zurück, die man doch verlassen hatte.
Der Rums mit dem Auto war nicht das einzige Zeichen, dass es Zeit werde, in ein neues Lebensalter einzutreten. Sich einzugestehen, dass man doch inzwischen gealtert sei. Sich als alter Mann zu begreifen. Ruhe geben. Das Alleinsein stürzt über viele zusammen, erdrückend. Über Vereinsamte stürzt sich Einsamkeit. Wie viele Anrufe kommen jetzt: »Ich will nur deine Stimme hören« – Illusion des Zusammenseins. Anrufe sind die Verkehrsmittel des Alterns.
Was hier an Buchstaben so dahinfließt, ist auf gut Glück ertippt. Ich kann den Text nicht mehr lesen. Es wird sich jemand finden, der die falschen Buchstaben rauskehrt und das Passende zusammenführt. Damit sind wir am Punkt meines Alterns. Das Schwinden der Sehkraft ist wie ein Raub. Fort sind alles Gold und Silber. Wer füttert fortan dich – fortan? Jetzt?
II
Ich hoffe, gefüttert zu werden bleibt mir erspart. Damit beginnt der Verfall. Man ist außer Kraft gesetzt.
Mich rüttelt immer schmerzend die Vorstellung, dass Walter Jens, auch Joachim Kaiser, in ihrer Demenz gefüttert werden mussten. Das waren doch souveräne, autarke, selbstbewusste Menschen, wachen Geistes, belebenden Denkens, bannenden Sprechens. Außer Dienst Gestellte zu Lebzeiten, der hohe Geist verloschen, ohne den Körper mitzunehmen. Man ist dann wohl eine lebende Hülle.
Wenn man jetzt eine halbe Stunde vor dem Haus auf und ab geht, man sagt noch immer »Spaziergang«, obwohl es keiner ist. Drüben im Wald, ja; aber hier flaniert man auf der Sicherheitsroute vor den Häusern der Nachbarn, die einen noch freundlicher grüßen und immer dieselbe Frage stellen: »Wie geht’s?« – obwohl sie doch sehen, wie es einem geht, Schritt für Schritt, und mit Stock. Zweimal am Tag 1299 Schritte, das ist zweimal ums Karree. Vor einem halben Jahr hat man die Schritte noch gezählt – Zählen ist eine Einübung ins Altern –, jetzt weiß man, wie viele es sind bis zu dieser oder jener Ecke. Und wie viele bis zur Haustür.
Die Krise, die mit dem Fällen der Birke vor unserem Haus, meinem Sturz, dem Tod von Monika Schoeller3 begann, scheint überwunden. Sie enthielt Wandlungen. Es stiegen die Gefühle des Alterns, das Verlangsamen der Bewegungen. Den Spaziergang zum Sportplatz musste ich aufgeben, der halbstündige Weg durchs Dorf wird mühsamer, zwingt zum Stehenbleiben, gestützt auf Onkel Heinis Stock. Im Haus ist die Bewegung normal, fühle ich mich jünger, aber das Bewusstsein der Jahre trifft mich immer wie ein Hammer. Ich weiß, ich lebe in glücklichen Umständen, schmerzlos, noch wachen Geistes, voller, wenn auch gedämpfter Arbeitskraft, finanziell sorgenlos.
Auch die Not, die mit dem Enden des Autofahrens kam, die Unbeweglichkeit, sich zu versorgen, ist gelöst. Delia und Dumitru sind wie liebende Verwandte, kamen vorhin im strömenden Regen mit den Lebensmitteln, die ich brauchte, weil Rewe wegen der Corona-Angst nicht liefert, kamen stolz und mit Freude.
Der Wechsel des Kardiologen hat sich gelohnt, Schüßler scheint alles in den Griff zu bekommen, ein neues Hörgerät haben wir bestellt, das alte wurde trefflich wiederhergestellt. So höre ich fast im Überfluss, nur die Augen verlassen mich. Die Ärztin in Kronberg sagt, keine Behandlung möglich, die Makula trocken. Ich hoffe, ich verliere das Sehen nicht. Das Lesen ist mühsam und wird von Tag zu Tag schwerer. Heute Peymanns Biographie, zwei Seiten eine ganze Stunde (gut, zu klein gedruckt), aber die Welt ist mir wie hinter Milchglas. Selbst mit Brille kann ich manche Überschrift in der Zeitung nicht mehr lesen. Brauche Vergrößerung in allem, auch im Willen zum Leben, damit die Anfechtungen, das Verlangen nach Schluss, wieder wegkommen.
Neunzig Jahre brauchte es, bis ich ein Verhältnis zu mir selbst bekam. Ich interessierte mich nie für mich, nur insofern: Was kannst du, was steckt in dir = das Rühlesche Leistungsprinzip. Jetzt fühlt man sich, horcht in sich, erlebt die merkwürdigsten Dinge.
III
Schon seit längerem merke ich, dass in mir eine merkwürdige Phantasie sitzt. Ich schlafe fest, erwache und sehe Personen im Zimmer, körperlich, neben mir, über mir, die sich nach drei, vier, fünf Sekunden auflösen. Wie Besucher. Vorhin schlafe ich vor dem Fernseher ein, bei einer Sendung über Mata Hari. Ich erwache, es kniet eine Art Zwerg vor mir und reicht mir etwas zu. Neulich, ich saß im Arbeitszimmer, im Sessel – Margrets letztes Geburtstagsgeschenk –, schlief, erwachte, hinter mir ein Geräusch, es löste sich eine große Person in langem weißen Mantel, kommt hinter meinem Rücken hervor, geht zur Tür, löst sich dort auf. Was war das? Ein Schutzengel? Vorgestern, ich erwache morgens, es ist schon hell, an der Decke des Schlafzimmers ein schwarzes, wohlgefügtes, mit Blumen umwundenes Kreuz. Zehn Sekunden etwa. Was ist das alles? Morgen muss ich über die »Iphigenie« von Peymann schreiben.
IV
Die Krise war der Anfang des Endes. Ich sehe fast nichts mehr, musste vorige Woche alle Pläne für Vollendung TGIII4 aufgeben. Mit dem Verlag ist sicher, dass er das Buch machen will. Hermann Beil5 und Stephan Dörschel6 wollen weitermachen – großes Glück. Diese Zeilen werden geschrieben, bevor ich, auch nach langem Suchen, wo und wie, keine Mails mehr schreiben kann. Schlussbrief an Beil und Dörschel, ich weiß nicht, was noch wird. Ich torkle durchs Haus. Kann keine Uhr mehr lesen. Ich suche schon eine Stunde auf meinem Computer das Schlussstück zu TGIII. Das Denkmal, Steins »Faust«. Ich habe es wohl weggelöscht. Das war das Letzte, was ich noch konnte vor zwölf Tagen, dann dreimal umgeschrieben. Das Leben müsste längst weg sein, es ist eine Quälerei. Die Kräfte schwinden, man wackelt beim Gehen, erkennt nur noch die Konturen, Bewegung bald nur noch aus Erinnerung. Ich male mir alle möglichen Sorten von Suizid aus.