Читать книгу Ein alter Mann wird älter - Günther Rühle - Страница 16
21. Oktober 2020
ОглавлениеIch war wieder auf der Strecke. Das sind die hundertfünfzig Meter vor meinem Haus nach links, leicht ansteigend, und zurück sind dreihundert. Wenn ich das viermal »auf drei Beinen« mache, habe ich gut tausend Meter, 1200 Schritte. Abends mache ich das mit Dumitru. Im Karree gehen ist eben mein Bewegungsraum. Allein wage ich’s nicht mehr. Wie entdeckten wir die Wege durch den Wald, als wir vor vierzig Jahren hierherzogen, liefen in die Taunusfelder, zwei, drei Stunden. In den Ferien im Schwarzwald einmal sogar sieben Stunden, oben in Saig, wo Benno Reifenberg, Friedrich Sieburg und der skurril wunderbare Herbert Küsel nach dem Krieg die anspruchsvolle Die Gegenwart machten, die später in der F.A.Z. aufging, weil deren Gründer Erich Welter unbedingt Sieburg einkaufen wollte. Die Weite der Wege bezeichnet noch die jeweilige Lebenskraft. Wie lange ging ich noch über das Viereck oben am waldnahen Sportplatz. Ich habe da Kraft geholt, Gedanken, Einsichten gefischt in die Geschichte. Wege schrumpften fast auf null, wie die Arbeit am Band. Der Weitblick von einst reicht noch für fünf geparkte Autos am Straßenrand.
Als ich also vorhin von der »Strecke« heimkam, dachte ich an den gestrigen Fernsehbericht über Magellan, den Seefahrer, der sich durch die wilden Wasser am Ende von Südamerika, wo die beiden Meere zusammenstoßen, durchbiss. Ich war mal da unten im Süden Chiles, Vortrag Goethe-Institut, über das neue deutsche Theater, es war in der Spitzenzeit von Peter Steins »Groß und klein« und »Orestie«. In Chile. Welche Strecke. In der Wand meiner Bücher vor mir steht Stefan Zweigs Biographie über Magellan. Wollte ich immer lesen. Ich habe so viel Ungelesenes mitzunehmen, wenn ich ins Jenseits abreisen muss. Ich trauere jetzt schon um meine Bibliothek. Sie enthält so viel Vergangenheit. Von Kin Ping Meh und Homer und Anaximander an und mit Hebbel, Ibsen, Strindberg ist es noch nicht zu Ende. Alles gesammelt, geordnet für den Ruhestand, der erst jetzt von den Augen erzwungen wird. Schleefs Tagebücher waren das letzte Satz- und Schmerzgebirge, das ich durchkletterte. Was war das letzte, was die Augen lasen? Nochmal »Frau Jenny Treibel« von Fontane. Auf dem Nachttisch liegt seit fünf Jahren Handkes »Tage und Werke«. Das Lesezeichen sagt nach zweieinhalb Seiten, hier könntest du weiterlesen. Es liegt nicht nur am Können. Wenn früher, als ich noch geselliger sein konnte, Besucher kamen, war immer die erste Frage: »Haben Sie das alles gelesen?« Ich sagte dann oft mit ernstestem Ton: »Natürlich nicht. Ich vertraue auf Osmose.« Das war nicht nur ein Scherz. Es gibt sowas. Man lebt mit Büchern zusammen und hat oft das Gefühl, ich weiß, was da drinsteht, obwohl man vieles noch nicht einmal durchblätterte. Anscheinend bin ich ein Sammler. Es gibt einen Bildungstrieb, der sich durch Sammeln befriedigt. Vielleicht bin ich so einer. Vierzig Bände Strindberg, die ganze lange Gelbe Reihe. Sicher bin ich so einer. Sicher hat mich auch das Theater der schönen und gelehrten Literatur entzogen. Als ich die Theaterintendanz in Frankfurt begann, da war ich noch jung, erst 61, und hatte mich in dem vornehmen Club in der Siesmayerstraße einzuführen in die Frankfurter Gesellschaft. Vortrag, Diskussion. Es wurde bald sehr belebt, denn Fassbinders »Der Müll, die Stadt und der Tod« war angekündigt. Ich wurde des Antisemitismus verdächtigt. Ein Satz hält sich in meiner Erinnerung. Er kam von Frankfurts zu rühmendem Buchhändler Cobet. Er war ein fast übergelehrter Mann. Er konnte sich nicht enthalten zu konstatieren, ich sei »partiell dumm«. Ich konnte ihm nicht widersprechen. Mich hat ein Leben lang das Verlangen nach mehr an Tun und Wissen, nicht nach Geld getrieben. Mich treiben die Defizite. Ich sah vor mir immer zu begehende Strecken. Ich denke an Magellan. Die meine beträgt jetzt viermal dreihundert Meter, zweimal täglich. So nimmt man auch Tabletten.