Читать книгу Kleine Geschichte der antiken Komödie - Gregor Maurach - Страница 20
„Dyskolos“ („Der Unangenehme“)
ОглавлениеIm Jahre 316 errang Menander mit diesem Stück an den Lenäen74 den ersten Preis. In ihm geht es darum, dass ein junger Städter, Sostratos, „gestern“ Athen verlassen und die wilden Landschaften im Norden aufgesucht hatte, um zu jagen. Im Dorf Phyle angekommen, hatte er die schöne Tochter eines dort ansässigen, ebenso armen wie menschenfeindlichen Bauern Knemon erblickt und sich sofort in sie verliebt (v. 50ff.). Nun ist er am nächsten Tage, also „heute“, gleich frühmorgens wieder dorthin gegangen, diesmal in Begleitung eines Freundes. Leider hatte er zuvor den Fehler begangen, taktlos nur einen Unfreien, einen Diener zu Knemon zu schicken, um Kontakt aufzunehmen (75). Der jagt den Unliebsamen grob davon, und so kommt der Diener zu Beginn des Stückes in Panik auf die Bühne gerannt und verbreitet Schrecken vor dem Toben des alten Bauern. Auch der Freund, eben noch hatte er sich sehr gewandt gegeben, gerät in Angst: Angesichts des blitzartigen Entschlusses seines Freundes, das Mädchen sofort zu heiraten, und angesichts eines solchen Schwiegervaters, zieht er es vor zu verschwinden (129ff.): eine der feinen, kleinen Demaskierungen Menanders; immerhin war derlei bei Aristophanes vorgebildet. Laut über die Belästigung vor sich hin schimpfend kommt nun Knemon daher – er war gut zwei Kilometer hinter dem Sklaven hergerannt! – und geht, als er dann auch noch von Sostratos, der standfest am Ort geblieben war, angesprochen wird, unwirsch brummend in sein Haus.
Kurz darauf kommt aus eben diesem Hause die Tochter. Sie ist verzweifelt, denn eine Dienerin hat den Wassereimer in den Brunnen fallen lassen (190f.). Sie will daher aus dem benachbarten Nymphen-Heiligtum das nötige Wasser holen, denn sonst werde der Vater die unachtsame Dienerin gewiss „zu Tode prügeln“ (195) – so sorgt sich die Tochter, eine Freie, um die Dienerin, eine Sklavin. Dies macht sie sympathisch und auch ihr Zögern, denn sie will, falls im Heiligtum eine Zeremonie stattfindet, nicht mit ihrem Wasserholen stören (198). Diese Verzögerung eröffnet Sostratos, der sie hingerissen75 betrachtet, eine Gelegenheit, ihr höflich zur Hand zu gehen. Sie gibt ihm ängstlich das Gefäß, hat nur eines im Sinne, nämlich das Wasser, wohingegen er sie entzückt beobachtet: „Welch feiner Anstand in diesem Landmädchen!“ (201f.). Er ist ihr unrettbar verfallen, wie er selber feststellt (202f.). Sostratos holt das Wasser, sie ruft ihn zu ihrer Tür und geht; er ruft ihr ein „Alles Gute!“ und „Sorg’ für den Vater!“ nach, dann ist er allein mit seinen Gedanken. Die Umstände erweisen sich als nicht eben günstig für seinen Heiratsplan.
In dem jungen Manne mischt sich Verliebtheit, blitzschneller Entschluss und Bangigkeit zugleich, dazu die Bereitschaft, von sich selber abzusehen, wenn er, ohne von sich etwas zu sagen, ihr „Alles Gute“ wünscht und sie sich um den Vater kümmern heißt, statt zu versuchen, von sich selber zu reden.
Rasch bereit, ohne viel zu überlegen, ist Sostratos auch in der nächsten Szene: Als der Stiefbruder des Mädchens, Gorgias, der neben Knemon wohnt, den Verliebten, den er zunächst für einen üblen Schürzenjäger hält (289ff.), fortzuschaffen sucht, dann aber, durch ein Gespräch eines Besseren belehrt (315ff.), ihm abrät, sich dem Vater zu nähern (338ff.; 348ff.), da meint der Sklave des Stiefbruders, der Alte würde nur mit jemandem sprechen, der selber ackere (367f.). Und sofort ist Sostratos bereit, eine Hacke zur Hand zu nehmen und sich aufs Feld zu begeben, auch wenn das Gerät „zwei Zentner wiegt“ (390 f.), wie dem Städter vorkommt. So bleibt er sich, das heißt dem Grundmuster seines Verhaltens und dem schnellen Entschluss, auch hier treu.
Ganz anders als dieser differenzierte Charakter ist die simple Art des Küchensklaven, der mit Sostratos’ Mutter und dem Mietkoch beim Pan-Heiligtum nahe Knemons Haus zu einem Opferschmause angekommen ist und nun feststellen muss, dass ein Kochtopf vergessen wurde. Er, ein Großmaul, klopft ungestüm an Knemons Tür, schreit, will einen Topf borgen (vgl. Plaut. Rud. 133ff.), allerhand Beleidigungen ausstoßend, man solle unverzüglich öffnen (459ff.), redet frech mit dem Hausherrn, zieht dann aber, von Knemon angefahren, rasch ab (476ff.). Simpel auch der Koch selber, der es mit feiner Redekunst besser machen will (487ff.), aber, vom wilden Alten weidlich durchgebläut, ebenfalls abziehen muss (515). Das sind die von Aristophanes her wohlbekannten kleinen Entlarvungen und Abfuhren; das ist ein Zwischenspiel etwas gröberer Art, als Gegenstück zu dem feinen Spiel zwischen Sostratos und dem Mädchen, geschrieben für den etwas derberen Geschmack, wie Blume (1998, 89) treffend urteilt.
Sostratos erscheint nun bald wieder, kreuzlahm (525f.) von der Arbeit und doch wie magisch hingezogen zur Tür der Geliebten, nachdem Knemon sich nicht hat blicken lassen, und er, vom Stiefbruder des Mädchens aufgefordert, das Schuften nur zu gern und schnell abbrach. In seinem monologischen Bericht spricht er dies „schnell“ nicht ohne Selbstironie aus (540) – Selbstironie: ein gegenüber Aristophanes neuer Ton in der Komödie. Rasch ist auch erneut sein Entschluss, den verständnisvollen Stiefbruder samt seinem Diener freundschaftlich zum Opferschmause seiner Familie einzuladen, dies allerdings nicht ohne Hintergedanken an möglichen späteren Nutzen (562). Auch dem eigenen Diener, der bisher leer ausgegangen war, lässt er „menschenfreundlich“ (573) etwas zukommen.
Da aber wird er vom Wehgeheul der alten Sklavin Knemons unterbrochen: Sie hat bei dem Versuch, den Wassereimer aus dem Brunnenschacht mittels einer Hacke herauszuholen, diese nun ebenfalls in den Brunnen fallen lassen, und Knemon wütet, will selber hinabsteigen und sich dabei nicht helfen lassen. Und doch klagt er nun auf einmal darüber, dass er allein und nur auf sich gestellt sei, so in 597, was auf die spätere Verhaltensänderung vorbereitet. Er versucht’s und – fällt hinein. Die Alte ruft um Hilfe, der vorhin so hart angelassene Koch hört’s und rät, obendrein noch einen Felsen auf den Widerwärtigen zu werfen (631), er lacht den Greis dort unten aus. Was für den herzlosen Kerl ein Rachefest ist, das wird für Sostratos, während der herbeigerufene, früher von Knemon lieblos behandelte Stiefbruder den Alten mit einiger Beihilfe des Verliebten rettet (669ff.), zu einem Liebesfest („süße Augenblicke“): Er trug wenig zur Rettung bei, ließ sogar das Halteseil ein paar Male los (681ff.), denn er betrachtete wie trunken die verzweifelte Tochter, tröstete sie, war „goldig“ (675) zu ihr wie eine Amme: Verliebte können sich halt nur schwer auf Reales konzentrieren. Hier kam also nicht seine Fähigkeit zu raschem Zupacken zum Tragen, sondern sein Hang zum Tagträumen wie damals in v. 191f. („O Vater Zeus, Apollo Paian, Ihr lieben Dioskuren!“).
Knemon hat, als er vom Stiefbruder selbstlos gerettet wurde, seinen Fehler der Selbstisolierung in einem tragisch klingenden „Jetzt erkenne ich“ begriffen,76 er hatte nicht den bösen Zufall, der irgendwann jeden heimsucht, in Rechnung gestellt (715 ff.) und auch die menschenfreundliche Hilfe des Nachbarn nicht; nun hat sie ihn gerührt. Schwer geschunden und das Ende nicht mehr ferne spürend, vermacht er die Hälfte seines Besitzes dem Gorgias, der Tochter die andere als Mitgift. Dann findet er einige Worte der Rechtfertigung für sein zurückgezogenes Leben; gute Worte sind es (743ff.), beherzigt, würden sie viel Verkehrtes verhindern, aber diese Art zu denken, will er niemandem mehr aufzwingen (747). Kaum ist die Frage der Mitgift geregelt, da präsentiert ihm der Erbe auch schon den Schwiegersohn: Sostratos habe mit Hand angelegt bei seiner Rettung, und als der Alte den Jüngling gebräunt (754) sieht und vom Erben hört, dass auch der junge Mann farme, gibt er (so wird es in einer Textlücke gestanden haben) sein Jawort, und der Stiefbruder spricht die Verlobungsformel unter allerhand anerkennenden Redensarten. Sostratos wehrt das Lob gar nicht ab, verspricht vielmehr, nicht ohne einiges Selbstlob, noch Besseres (771) und bittet nun, überglücklich, seinen neuen Freund, seine Schwester zur Frau zu nehmen; endlich stimmt auch sein Vater, nun auch zum Opferschmaus eingetroffen, trotz anfänglicher finanzieller Bedenken (der Bräutigam ist arm), gerne zu. Sostratos, der eben noch (771) jegliches Selbstlob verurteilt hatte, „hebt das eigene Verdienst am guten Ausgang dieses Tages über Gebühr hervor. Das ist ein feines Beispiel für Menanders subtile Ironie“ (Blume [1998] 95). Diese Ironie, die kleine Selbstüberhebung und Selbstüberschätzung (bei der Landarbeit) verhindert, dass Sostratos allzu golden erscheint. Mit einer furiosen Rüpelszene (Koch und Sklave des Sostratos zerren den lahmen Knemon aus seinem Haus und zwingen ihn, am Fest- und Verlobungsmahl teilzunehmen) endet dieses Stück.