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Anette John

Orange Peel!

M

anchmal standen die verbannten Erinnerungen wieder vor Lunas Tür. Bezüglich der Tages- und Nachtzeit hatten sie keine bestimmten Vorlieben. Ihnen war es gleichgültig, ob es Mitternacht war und sie ihr den ersehnten Schlaf raubten. Ebenso scherte es sie nicht im Geringsten, ob sie gerade erst aufgestanden war und sich vor der Arbeit ein ernstgemeintes Lächeln ins Gesicht geschminkt hatte. Immer zerrten die Erinnerungen all diese anstrengenden Gefühle im Schlepptau mit: Traurigkeit, Schmerz, Wut, Angst und sogar die grün und blau geschlagene, enttäuschte Liebe, obwohl diese nun wirklich nicht bei dieser schrecklichsten aller Partys dabei sein wollte.

Wenn Luna die ungebetenen Gäste wieder vor der Tür ihrer Wohnung lärmen hörte, verdrehte sie die Augen. Lief das Radio, schaltete sie es aus. Wenn das Licht an war, löschte sie es. Sie schlich auf Zehenspitzen zur Tür, lauschte und drehte so vorsichtig und geräuschlos wie möglich den Schlüssel im Schloss um. »Ihr kommt mir nicht ins Haus«, dachte sie entschlossen. Aber die polternden Geister hatten ihre Mittel und Wege einzudringen. Zur Not hämmerten sie stundenlang lautstark gegen die Tür (oder war es Lunas Kopf?). Wenn das nicht half, traten sie die Tür einfach ein. Seltsam, dass die Nachbarn das nie mitbekamen. Zumindest hatte noch nie einer die Polizei gerufen wegen Hausfriedensbruch in der Nachbarswohnung – oder nannte man das Erinnerungsfriedensbruch?

Wenn die Erinnerungen erst einmal in die Wohnung eingedrungen waren, verbreiteten sie unerbittlich Chaos – wie an diesem bestimmten Dienstagabend. Sie warfen alles um und schrien vergnügt: »Randale!« Die Gefühle schlichen lustlos hinter ihnen her und zuckten die Schultern. »Wir wollten gar nicht kommen, aber du weißt ja, je größer der Widerstand, desto hartnäckiger die Erinnerungen«, sagten sie entschuldigend. Grässliche kleine Gremlins, dachte Luna, als eine der schlimmsten Erinnerungen an der Küchenlampe hin und her schwang und ihr die Zunge herausstreckte. Lästig waren sie, lästiger als ein fieser Wespenschwarm. Und sie stachen ebenso unerbittlich zu.

Die Erinnerungen fuhren diesmal schwere Geschütze auf. Sie rührten in einem großen Topf den giftigen Gedankenstrudelpunsch an. Denn sie fanden, er gehörte zu jeder schrecklichen Party dazu. Sie rührten und rührten und in Lunas Kopf strudelte und strudelte es, immer schön im Kreis herum. Sie wusste, dass sie jetzt schnell handeln musste, sonst würde alles eskalieren. »Gefühle!«, rief sie, »Ich bin die Herrin im Haus und ich entscheide! Wir gehen aus – und ich weiß auch schon wohin. Sollen die Erinnerungsbiester machen, was sie wollen.«

Luna und ihre Gefühle öffneten die Tür und verließen die Wohnung hastig. Schnellen Schrittes eilten sie zur U-Bahn. Sie stiegen am Willy-Brand-Platz aus und liefen hinaus in die lauwarme Spätsommernacht. Die Liebe schaute hinauf zu den glänzenden Fassaden der Hochhäuser, die Dunkelheit war bereits angebrochen, und Straßenlaternen verbreiteten ein gemütliches gelbes Licht in der Stadt. Aus den Lautsprechern am Eingang zur Oper Frankfurt tönte eine emotionale Arie. Ein altes Pärchen hatte es sich davor auf Klappstühlen mit zwei Gläsern Wein bequem gemacht. Die Liebe bemerkte das und musste unwillkürlich lächeln, und Luna somit auch. Sie bekam rote Wangen, denn sie fühlte sich umarmt von der Stadt. Fest, jedoch nicht erdrückend fest. Die Stadt ließ sie atmen, aufatmen, durchatmen, in ihrem Tempo ihren Weg gehen und dafür war sie sehr dankbar. Mit der Stadt im Blick ging Luna etwas aufrechter, ganz so, als wäre doch noch nicht alles verloren.

Vorbei am Englischen Theater bog sie in die Kaiserstraße ein und betrat schließlich den Hinterhof mit der Nummer 39. Ein riesiger lila Krake, über den Eingang des Orange Peel hingemalt, grüßte sie unauffällig. Sie zahlte den Eintritt und stieg die Treppe mit all den Gefühlen hinauf, die nur für sie sichtbar waren. Im Treppenhaus hing ein kleines Poster mit der Aufschrift »Hieeer!« und Luna fügte in Gedanken hinzu: … fiese Erinnerungen verboten.

Leise drang bereits die Musik durch die Tür, denn die Tommie Harris & Friends-Band hatte schon angefangen zu spielen. Blues, Funk und Soul standen auf dem Programm. Zunächst spielte nur die Band eine Stunde lang, danach konnte jeder, der gerne sang oder ein Instrument spielte, gemeinsam mit ihr auf der Bühne auftreten und selbst etwas beisteuern. Luna hatte im Inneren der Orangenschale schon viele wunderbare Abende erlebt. Dieser Ort gehörte zu den ganz wenigen in Frankfurt, wo unter der Woche Livemusik gespielt wurde, und sie wusste das sehr zu schätzen.

Sie betrat den schummrigen, nur mit wenigen bunten Spotlights erhellten Raum. Sie holte sich eine Weißweinschorle und reichte sie der Angst: »Hier, trink, entspann dich.« Die Angst nahm einen Schluck und schien etwas weniger schnell zu atmen. Die Traurigkeit und die Wut stellten sich in die Ecke und übernahmen die Rolle der stillen Beobachter.

Luna schaute sich um. Sie bemerkte den älteren Herren, der immer da war und bereits angefangen hatte, eine heiße Sohle aufs Parkett zu legen. Luna beobachtete ihn gern, denn sie wurde dabei Zeugin einer Transformation. Es war, als würde aus dem alten Mann sein jüngeres Ich heraustanzen. Und manchmal, wenn sie ebenfalls begann gedankenverloren ihre Hüften zu wiegen, sich von der Musik davontragen ließ, sprang er tänzelnd um sie herum und lächelte ihr verschwörerisch zu. Sie hatten bisher nie miteinander gesprochen, und doch waren sie wie zwei Mitglieder eines Geheimclubs, den eine gemeinsame Leidenschaft einte: die betörende Musik, die sie nicht still sitzen ließ. Da waren auch andere Stammgäste: Die korpulente Dame, die so leichtfüßig tanzte wie eine Ballerina. Die jungen Frauen, die ihre Schuhe ausgezogen hatten und ausgelassen herumsprangen. Der Mann, der zwar keinen Rhythmus im Blut hatte und immer zu einem anderen Song zu tanzen schien als dem, der gerade gespielt wurde, dies aber mit seinem begeisterten Gesichtsausdruck wettmachte. Luna war froh, hier zu sein.

Sie warf der Liebe, auf deren Gesicht sich eine gewisse Verzückung abzeichnete, einen Seitenblick zu. »Darf ich bitten?«, sagte sie, schloss die Augen und ließ sich von der Musik treiben. Sie vergaß die Zeit, vergaß alles, was passiert war, und als sie die Augen kurz öffnete, fiel ihr auf, dass die Liebe es ihr gleichtat und das Veilchen um ihr Auge nun viel blasser aussah.

Luna wusste nicht, wie lange sie sich bereits auf der Tanzfläche befand, als sie plötzlich jemand an der Schulter berührte. Es war eine junge Frau, die sie freundlich ansprach:

»Entschuldige, ich habe dich hier schon öfter gesehen und ich muss dir einfach mal sagen, wie schön ich dich finde.«

Keine Ironie, kein Kalkül. Lunas Gefühle umarmten diese Fremde spontan, diese Krankenschwester, die ihnen ganz selbst- und grundlos eine süße Medizin verabreicht hatte.

»Danke«, sagten sie im Chor, »du hast mir den Tag gerettet.«

Luna tanzte noch einige Stunden weiter – mal allein, mal mit der Unbekannten, mal mit ihren Gefühlen, die nun ganz entspannt wirkten. Danach fuhr sie beschwingt mit der Bahn nach Hause.

Sie küsste die Gefühle für den Moment zum Abschied. Dann betrat sie die stille Wohnung, die verwüstet war, allerdings auch verlassen. Sie entdeckte, dass der wirbelnde, dickflüssige Gedankenstrudelpunsch sich in klares Wasser verwandelt hatte. Er konnte sie nicht mehr schrecken. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel, auf dem draufstand: »Du hast uns die Party verdorben. Wir kommen wieder.« Aber nicht heute, dachte Luna. Sie schlief ein, ganz ruhig, lächelnd, mit dem süßen Duft von Orangen in der Nase.

Frankfurter Einladung 2

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