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Martina Weyreter

Das Luftschloss

D

en Schlüssel habe ich noch. Mit ihm kam ich nicht nur in mein Büro, sondern auch in die Teeküche und in das Geschäftszimmer. Ich hatte ihn an meinem ersten Arbeitstag im Uni-Turm bekommen und hätte ihn wieder abgeben müssen.

Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal hier ankam, mit dem Zug nach Frankfurt zum Vorstellungsgespräch, in ein feines Kostüm gezwängt, bewaffnet mit einer Adresse und einer Raumnummer. Nach einigen Schritten stand ich vor diesem grauen Ungetüm und wusste, der gesuchte Raum lag im 33. Stock. Ich hatte keine Wahl, als den Aufzug zu nehmen – in einer fensterlosen, graffitibeschmierten Kabine eingeschlossen zu sein. Wie lange die Fahrt bis in diese Höhen wohl dauern würde? Ein großes Schild über den Aufzugtüren belehrte mich, dass ohnehin nur bestimmte Stockwerke angefahren würden, und das, so müsse ein jeder wissen, genau seit dem 21.3.91. Dabei lebten wir längst im neuen Jahrtausend.

Die Aufzugtür schloss sich hinter mir, klinkenlos, kein Entkommen, und mit einem Ruck ging es nach oben. Der Kloß in meinem Hals wurde nicht kleiner, während ich die Stockwerksanzeige beobachtete: Hinter den vielen Zahlen leuchtete jeweils ein Licht, aber es bewegte sich nicht kontinuierlich nach oben wie die Kabine selbst. Nein, das Licht spielte Ping-Pong, hinauf, hinunter, fröhlich und ohne erkennbares System. Wenn ich je da oben ankomme, schwor ich mir, und vielleicht sogar heil wieder runter, werde ich vor nichts mehr Angst haben.

Das Vorstellungsgespräch verlief dagegen außerordentlich gut. Von nun an würde ich also jeden Tag in einem dieser Aufzüge fahren, lange Zeit noch starr und mit klammem Blick auf die Zahlen. Doch, von nun an war ich verliebt. Verliebt in die Aussicht von ganz oben über die Frankfurter Skyline, die ich jeden Tag gratis bekam. Ich thronte jetzt wie in einem Hochsitz über der großen Stadt. Die Seminarräume zeigten alle nach Norden, boten exklusiven Feldberg-Blick; die Büros lagen hingegen zur Südseite ausgerichtet, ich konnte von morgens bis abends das geschäftige Treiben unten auf dem Messegelände beobachten. Die Plakate wechselten ständig, aber fortwährend schossen die Fontänen der Springbrunnen in der Ludwig-Erhard-Anlage ihr Wasser in die Höhe und vor dem Messeturm schwang der Hammermann gemächlich sein Werkzeug zu dem lebhaften Wimmelbild auf der Straße.

An klaren Tagen konnte ich – hinter dem einzigen Hochhaus von Langen, das irgendwie auf halber Strecke im Weg stand – den Odenwald sehen. Bei Nebel hingegen blickte man auf eine weiße Wand, die unmittelbar vor dem Fenster aufgebaut zu sein schien, nicht greifbar und undurchdringlich. Gewitter waren von hier oben ein atemberaubendes Schauspiel. Nahte die dunklere Jahreszeit, dann fror der Weiher in der Anlage zu und am Messe-Torhaus ging der Weihnachtsbaum an – eine Lichterkette auf der Fassade des Gebäudes schmückte dieses weithin sichtbar.

Das Beste war aber die Einfahrt zur Tiefgarage unter der Festhalle. Wer mit dem Auto von der Senckenberganlage oder der Theodor-Heuss-Allee kommend Richtung Hauptbahnhof wollte und sich ohne Überholwunsch bescheiden ganz rechts hielt, der geriet vor der Festhalle irgendwann auf eine Spur, die in eine Tiefgarage führte. Da wollte aber fast nie jemand wirklich hin, und so hielten die Autofahrer verwirrt an, noch bevor sie ins Dunkle abtauchten, und legten zaghaft den Rückwärtsgang ein. Man konnte Wetten darauf abschließen: Der Nächste fällt drauf rein, der Übernächste zieht noch rechtzeitig nach links, ach, und da fährt einer rückwärts, während von hinten schon ein Weiterer in die Falle geht. Zwölf Jahre lang wurde ich dieses Schauspiels nicht müde. Doch, gearbeitet habe ich im Büro auch hin und wieder.

Dabei habe ich vom ersten Tag an gewusst, dass wir umziehen würden. Mein Mentor führte mich zu einem Fenster auf dem Gang, das nach Osten zeigte, und wies mit dem Finger vielsagend in Richtung IG-Farben-Haus. Regelmäßig entschwand er zu Planungs-Meetings, die unserer neuen, noch nicht erbauten, Behausung auf dem anderen Campus Gestalt verleihen sollten. Trotzdem schaute ich in den folgenden Jahren nie nach Osten, nie auf die Baustelle, die es dort gegeben haben muss.

Als die Zeit des Umzugs nahte, ging ich nach der Arbeit oft durch das Gebäude und machte Erinnerungsfotos. Nicht von der Art, wie sie später in so vielen Büchern und Zeitungsberichten erschienen sind. Vielmehr wurden es Bilder von verwaisten Büropflanzen, dem Vertrocknen preisgegeben, von elektrischen Schreibmaschinen, die keiner mehr brauchte, von stehen gelassen-en Röhrenbildschirmen und Bergen alter Videokassetten, Tonbändern und Computerdisketten, die auf dem Gang ein Hindernis bildeten.

In diesen letzten Wochen geschah es auch ein letztes Mal – beileibe nicht das erste Mal –, dass ich im Aufzug stecken blieb, zusammen mit einer Gruppe heiterer Studierender, von denen einige gar nicht mehr so fröhlich waren, als sie die Lage erkannten. Jetzt war ich es, die die Ruhe behielt und andere beruhigte, die auf den weißen Notrufknopf drückte und der Stimme aus dem Lautsprecher fast mit Stolz verkündete: Wir stecken fest. Die Portiers kamen zu mehreren herbeigeilt, kurbelten die Aufzugtür auf, ließen einen Stuhl in die Kabine hinabsinken, über den wir hinausklettern konnten. Denn wir hingen, wie sich herausstellte, etwa einen Meter unter dem 21. Stock. Meine Kolleginnen beneideten mich später um dieses letzte Aufzugserlebnis.

Bei der letzten Weihnachtsfeier im Turm erschien ein Professor meines Instituts als Turmgeist verkleidet. Erst da fragten wir uns zum ersten Mal: Hat der alte Betonklotz wirklich so etwas wie einen Geist? Eine Seele?

Bei der Feier wurde auch ein Quiz veranstaltet und auf die Frage, welchem architektonischen Stil der Turm angehöre, rief ich spontan »Brutalismus!« Heute freue ich mich, wenn ich irgendwo so einen alten Betonkasten sehe, der noch steht und dieses Sixties-Retro-Gefühl weiterleben lässt. Eine eigene Art von Schönheit, auch wenn nur ich sie wahrnehme.

In die entgegengesetzte Richtung habe ich nach dem Umzug oft gestarrt, vom nagelneuen Campus Westend Richtung Westen auf den Turm, an dem noch ein Jahr lang herumoperiert wurde, bevor er fiel. Danach sah ich nur das Loch in der Skyline, sah das, was nicht mehr da war.

Den Schlüssel habe ich noch. Als könnte ich jederzeit zurück. Ich stelle mir vor, dass da, wo jetzt nur noch Luft ist, mein Büro war. Dass das Loch, in das mein Schlüssel hineinpasst, irgendwo hoch oben schwebt, ich aber nie mehr da herankomme. Ein Luftschloss eben. Die Trauerfeiern unter den Kollegen – immer am 2. Februar – wurden nach zwei Jahren stillschweigend eingestellt. Der Turmgeist blieb.

Frankfurter Einladung 2

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