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Rolf Schwob

Heimspielsamstag

M

it der Regionalbahn 70 bis zur Haltestelle »Sportfeld« fahren, bei Bubi noch schön einen zischen, kleines Stückchen durch den Wald und dann rein, Stehplatz versteht sich, gleich neben den ganz harten Fans im G-Block. So verliefen früher die Heimspielsamstage, als sein Vater jung und er noch gar nicht auf der Welt war. So hat es der Alte ihm erzählt, jedes Mal, wenn sie auf dem Weg raus ins Stadion waren. Heute sieht sich Rüdiger auf dem Bahnsteig um, sucht in den Gesichtern der alten Männer nach etwas, das er wiedererkennen könnte, findet aber nichts. Die anderen Fans sind so alt wie er oder jünger, Kinder natürlich auch und viel mehr Frauen als damals, hübsche noch dazu, sie tragen Trikots mit Spielernamen und haben sich die langen Haare zu wippenden Pferdeschwänzen zusammengebunden.

Rüdiger nimmt einen Schluck aus der Dose, das Bier ist lauwarm und schmeckt abgestanden, obwohl er den Verschluss eben erst geknackt hat. Die S-Bahn fährt ein, Türen gleiten auf und er wird von der Menge auf dem Bahnsteig fast ohne eigenes Zutun ins Abteil geschoben. Die RB 70 fährt auch heute noch regelmäßig, aber die S7 fährt öfter, die Haltestelle »Sportfeld« wurde in »Stadion« umbenannt und »Bubis Bahnhof« schon vor Jahren dichtgemacht. Das alles nötigt Rüdiger nur ein Achselzucken ab, aber dass man das Waldstadion nach dem Umbau in Commerzbank-Arena umgetauft hat, daran kann und will er sich nicht gewöhnen.

Die Bahn setzt sich mit einem Ruck in Bewegung und Rüdiger muss sich kurzzeitig an den Schultern seines Vordermannes festhalten, in der linken Hand hält er immer noch die Dose mit dem Billigbier. Augen zu und durch, sagt er sich und trinkt die Plörre in einem Zug aus. Die Sonne scheint durch die Fenster, als die S-Bahn über den Main setzt. Draußen sind es 20, 21, vielleicht sogar 22 Grad, windstill und kaum eine Wolke am Himmel – bestes Stadionwetter, würde der Alte jetzt sagen, aber für den war eigentlich jedes Wetter bestes Stadionwetter.

Einmal waren sie vollkommen durchnässt von einem Spiel nach Hause gekommen und seine Mutter hatte sich furchtbar aufgeregt. Der Junge hole sich noch den Tod wegen dem Scheiß, schrie sie, woraufhin sein Vater sie packte und gegen die Wand im Flur drückte, und er, der kleine Rüdiger, stand dabei und dachte erst noch, es sei alles nur Spaß, aber dann sah er die Angst in den Augen seiner Mutter und fing an zu weinen. »Jungs heulen nicht!«, hatte ihn der Alte angebrüllt, von der Mutter abgelassen und war aus der Wohnung gestürmt, nur um später am Abend selbst als besoffenes, heulendes Elend zurückzukommen.

Rüdiger zerdrückt die leere Dose zwischen seinen Fingern, knetet das Weißblech, bis es Risse bekommt. Auf dem Bahnsteig in Niederrad stehen ein paar Schalker in königsblauen Trikots und trauen sich nicht, in die S-Bahn mit den lärmenden Frankfurtern einzusteigen. Als die Bahn wieder abfährt, recken sie die Mittelfinger. »Verdammte Feiglinge!«, brüllt einer mit Adler-Tattoo auf dem Hals und schlägt mit der flachen Hand gegen die Scheibe.

Nächster Halt: Stadion. Gedränge, Geschubse, Gegröle, die Polizisten am Wegesrand halten die Hunde zurück. Rüdiger steuert auf einen der kleinen Getränkestände zu, die von der Palette runter verkaufen. Es riecht nach verschüttetem Bier, Bratwurst und Schweiß. Die Dose ist nicht richtig gekühlt, der Schaum quillt sofort aus der Öffnung, Rüdiger trinkt ab.

Er war sieben, als sein Vater ihn zum ersten Mal von seinem Stadionbier nippen ließ. Damals juckte das hier draußen keine Sau. Das Bier schmeckte gallig und bitter und stieg ihm gleich zu Kopf, so dass er immer nur kleine Schlucke davon trank, wenn sein Vater ihm wieder mal lachend davon anbot, aber es war auch ein großartiges Gefühl mit der Bierdose in der Hand neben dem Vater zum Stadion zu laufen, über das Spiel zu reden und ehrfürchtige Blicke auf die Jeansjackenträger zu werfen, die den Adler auf dem Rücken und den G-Block-Schriftzug auf den Schultern trugen. Noch vor der Einlasskontrolle kaufte sein Vater Nachschub, aber Gottseidank nur für sich selbst, und später auf dem Heimweg steckte er ihm einen Wrigleys-Kaugummi zu, damit es zu Hause mit Mutter nicht wieder Ärger gab.

Rüdiger leert die Dose und reiht sich vor der Kontrolle ein, wird abgetastet, hält sein Ticket unter den Scanner und ist drin. Den alten offenen Stehblock gibt es natürlich nicht mehr, es gibt auch keine Sitzbänke mehr und teilüberdachte Tribünen. Dafür gibt es immer mehr Drumherum: Musik, Gewinnspiele und hinter der Haupttribüne Fressstände und Kinderbelustigung wie auf dem Rummelplatz. Einfach nur Fußball, das traut sich heute keiner mehr, denkt Rüdiger und nimmt seinen Platz im Block hinter dem Gästetor ein, mit freiem Blick auf die gegenüberliegende Fankurve.

Einmal, gegen die Bayern oder Gladbach, er weiß es nicht mehr genau, stand er im Stehblock vor seinem Vater auf einer der Stangen und konnte trotzdem nichts sehen, weil der Block rammelvoll war, und da hat ihn der Alte einfach auf die Schultern genommen und das Gemeckere der Typen hinter ihm so lange stoisch ignoriert, bis sie nichts mehr sagten. Rüdiger weiß nicht mehr wie das Spiel damals ausgegangen ist, aber in seiner Erinnerung saß er beide Halbzeiten lang auf den Schultern des Vaters, der ihm seine tellergroßen Hände auf die Oberschenkel gelegt hatte, damit er beim Torjubel nicht herunterfallen konnte.

Der Stadionsprecher gibt die Mannschaftaufstellung der Gäste durch, der Schalker Fanblock applaudiert, die Kurve gegenüber pfeift. Rüdiger sitzt neben zwei älteren Männern, die sich Sitzkissen mitgebracht haben und sich schwerfällig mit allen anderen erheben, als die Eintracht-Hymne Im Herzen von Europa erklingt: »Eintracht vom Main, nur du sollst heute siegen …«

In die Fankurve auf der gegenüberliegenden Seite kommt Bewegung, Fahnen werden geschwenkt und Schals in die Höhe gehalten. Dann die Aufstellung der Eintracht.

Der Stadionsprecher ruft: »Mit der Nummer 14: Alex …«

Und das ganze Stadion brüllt: »Meier Fußballgott!«

»Naja …«, grummelt einer der beiden Alten, »der Meier ist ja schon gut, aber …«

»Grabowski, Hölzenbein …«, assistiert der andere und dann nicken beide und werden still.

Yeboah, denkt Rüdiger, Anthony Yeboah, das war der absolute Lieblingsspieler seines Vaters. Ausgerechnet Yeboah, wo der Alte doch sonst immer behauptete, die Neger hätten hier bei uns in Deutschland nix verloren. Unter der Woche wollte er abends nur seine Ruhe, da existierte Rüdiger gar nicht für ihn. Außer er hatte was verbockt und musste sich eine Ohrfeige abholen. In Ausnahmefällen gab es auch mal eine Mark für eine gute Note oder für das Straßenkehren. Wenn er abends im Bett lag, hörte er den Fernseher aus dem Wohnzimmer, schlief ein und wurde später wieder wach, weil seine Eltern sich lautstark stritten, dann zog er sich die Decke über den Kopf und steckte sich die Finger in die Ohren.

Meist denkt Rüdiger an seinen Vater, wie man an einen Toten denkt, nur hier im Stadion wird er wieder lebendig und lauert ihm an allen Ecken und Enden auf. Manchmal stellt er sich vor wie es wäre, ihn nach all den Jahren hier zu treffen. Wahrscheinlich würde er dieselben alten Heldengeschichten erzählen, vom Waldstadion, dem Europapokal, den Besäufnissen, den Zeiten im Stehblock und natürlich kein Wort über das Verlieren, was eigentlich zu besprechen wäre. Rüdiger ballt die Hände zu Fäusten und versucht, sich seinen Vater als alten Mann vorzustellen: immer noch groß und breit, aber fett und ohne Haare auf dem Kopf. Manchmal meint er während des Spiels aus der Menge im Block heraus ganz deutlich seine Stimme zu hören: »Gib ab!«, »Geh ran!«, »Fuß davor!« oder einfach nur: »Junge, Junge, Junge …«

Er war acht Jahre alt und saß mit seinem schwarzweißgestreiften Schal im Treppenhaus. Aus der Nachbarwohnung hörte er aufgeregte Stimmen aus dem Radio, die Bundesligakonferenz lief, die Eintracht spielte zu Hause gegen Köln. Der Alte war seit einer Woche weg. Rüdiger war sich so sicher gewesen, dass er heute, am Heimspielsamstag zurückkommen würde, immerhin ging es gegen Köln. Jedes Mal, wenn unten die Tür geöffnet wurde und jemand die Treppe heraufkam, stand er auf, und jedes Mal, wenn einer der Nachbarn sich lächelnd an ihm vorbeigeschoben hatte, setzte er sich enttäuscht wieder hin. Irgendwann war seine Mutter aus der Wohnung gekommen und hatte gesagt: »Jetzt komm schon rein.«

Es gibt diesen einen Moment. Diesen Moment kurz vor dem Anpfiff, wenn die Musik abgeschaltet wird, der Sprecher schweigt und der Schiri mit den Spielern am Mittelkreis steht. Dieser Moment, in dem es für den Bruchteil einer Sekunde ganz still wird im Stadion, so als würden fünfzigtausend Menschen gleichzeitig die Luft anhalten, dann zieht sich etwas klein und hart und schmerzhaft zusammen in Rüdigers Brust, und jedes Mal, bevor er meint es nicht mehr aushalten zu können, ertönt der erlösende Pfiff.

Frankfurter Einladung 2

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