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2.1 Professionstheoretische Verbindungslinien und Differenzen
ОглавлениеSoziale Arbeit befasst sich mit der »Bearbeitung gesellschaftlich und professionell als relevant angesehener Problemlagen« (Klüsche, 1999, S. 44) und verweist damit im Gegensatz zu Medizin und Psychologie auf einen parteilichen, sozialpolitisch ethischen Auftrag (vgl. hier und im Folgenden, falls nicht anders genannt, Gahleitner & Pauls, 2010). Dies bedingt unterschiedliche Professionalisierungslinien und Institutionalisierungsmodalitäten (Gildemeister & Robert, 2005, S. 1908). In den aktuell voranschreitenden gesellschaftlichen Exklusions- und Fragmentierungsprozessen benötigen Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die mit Menschen in biopsychosozialen Notlagen arbeiten, daher Konzepte der Bewältigungsunterstützung, mit denen sie Anschluss an die biografischen Erfahrungen einschließlich der lebensweltlichen Bedingungen ihrer AdressatInnen finden (Keupp, 1991). Seit der Einrichtung des Psychotherapeutengesetzes (1998) hat die aus dem Gesundheitswesen finanzierte Psychotherapie an diese Entwicklung mehr und mehr den Anschluss verloren. Die aufwendige zugehende und netzwerkintensive Arbeit ist in den Kassenverträgen nicht vorgesehen und in der ambulanten Psychotherapiepraxis kaum zu leisten (Gahleitner, Borg-Laufs & Zurhorst, 2008).
Folgt man empirischen Befunden, ist der Bedarf an genau diesem doppelt fokussierten Angebot (Geißler-Piltz, Mühlum & Pauls, 2005) jedoch steigend und kann ohne eine hinreichende Förderung der individuellen Lebenslage mit ihren psychosozialen Faktoren ebenso wenig beantwortet werden wie durch eine zu enge Fokussierung auf psychophysische Aspekte (Pauls, 2011/2013). Psychosoziale Praxis muss daher – in einem gekonnten interdisziplinären und interprofessionellen Konzert – in der Lage sein, beide Aspekte miteinander zu verknüpfen. In diesem Zusammenhang hat Soziale Arbeit die Aufgabe, neben anderen wichtigen Kompetenzen auch therapeutische bzw. therapeutisch beratende Qualitäten in den Hilfeprozess einzubringen (Pauls & Reicherts, 2014). Diese Kompetenz – im Sinne einer »socially sensitive therapy« (Milne, 1999, S. 110) – verortet Soziale Arbeit als souveräne Disziplin im Sozial- und Gesundheitswesen, ohne ihren professionellen Auftrag »beruflich geleisteter Solidarität mit Menschen … in sozialen Notlagen« (DBSH, 1997, S. 1) zu verraten.
Die Notwendigkeit, sich Kenntnisse über psychotherapeutische Konzepte anzueignen, um in psychosozialen Feldern der Berufspraxis gewappnet zu sein, wird aktuell immer wieder in Seminaren mit Studierenden Sozialer Arbeit und im Fachdiskurs erörtert. Allerdings gibt es hier nach dem Bruch durch die nationalsozialistische Diskreditierung einer therapeutisch orientierten (Psycho-)Sozialen Arbeit (und der jüdischen ProtagonistInnen wie Salomon, Wronsky, Kronfeld) einen weiteren geschichtlichen Bruch, der das Verhältnis der Sozialen Arbeit zu den medizinischen und psychologischen Disziplinen und Professionen in Deutschland bis heute beeinträchtigt. Insbesondere in den 1970er-Jahren übten SozialwissenschaftlerInnen Kritik an sog. pathologisierenden Konzeptionen und Praktiken. Damit wurde auch in Deutschland – in der Folge der 68er-Bewegung – eine Kontroverse innerhalb der Sozialen Arbeit ausgetragen, die Goldstein (1980) bei den Debatten um die Etablierung der Clinical Social Work in den USA mit den Begriffen »people helper« versus »societal changer« (S. 173) beschrieben hatte. Im Zentrum der Kritik standen die »Individualisierung sozialer Problemlagen« (Galuske & Müller, 2005, S. 500) und die darin implizierte »Pathologisierung der Klienten« (ebd.; vgl. auch Meinhold, 2005).
Eine fatale Folge dieser bedeutsamen »kritischen« Wende der Sozialen Arbeit (Thole, 2005) bestand jedoch darin, dass das disziplinär entstandene Vakuum in der Praxis der Fallarbeit von vielen SozialarbeiterInnen durch psychotherapeutische Fortbildungen inkl. eines Identitätswechsels dorthin gefüllt wurde (Geißler-Piltz et al., 2005). Nach Ohling (2015) war eine wichtige Ursache dieser Entwicklungen die in Deutschland tradierte »Identitätskrise« der Profession Soziale Arbeit. Die »direct practice« (Goldstein, 1980, S. 175) der »people helper« (ebd., S. 180), die in den 1970er-Jahren in den USA ein spezifisches sozialarbeiterisches Profil in der Clinical Social Work fand, entwickelte sich in Deutschland zunächst nicht selten weiter von den Aufgaben der Sozialen Arbeit weg, nicht – wie gefordert – zu den Kernproblemen benachteiligter Lebenslagen und sozialer Teilhabe im Kontext psychischer Störungen und Erkrankungen hin (Gahleitner, 2006). Mit dem Entstehen der Klinischen Sozialarbeit in Deutschland seit Mitte der 1990er-Jahre wurde der Arbeit an der sozialen Dimension menschlichen Seins sowie der Arbeit am Verhalten und an den Verhältnissen eine neue (teil)disziplinäre Bleibe geboten, sodass klinisch-therapeutisch arbeitende SozialarbeiterInnen nicht mehr durch eine psychotherapeutische Weiterbildung notwendigerweise die soziale gegen die psychische Dimension austauschen mussten. Ohling (2015) zeigt das bereichernde Potenzial einer solcherart orientierten Sozialarbeit exemplarisch im Kontext von Gesundheitsarbeit, Suchtkrankenhilfe, aufsuchender Familientherapie oder multisystemischer Familientherapie.
Mit der Einführung des Psychotherapeutengesetzes (1998) wurde zudem das Verständnis von Psychotherapie als verordnungsfähige Kassenleistung auf die individuum- und störungszentrierte ärztliche und psychologische Psychotherapie eingegrenzt (Großmaß, 2004), obwohl laut Gutachten zur Lage der Psychotherapie (Meyer, Richter, Grawe, Graf von der Schulenburg & Schulte, 1991) in Deutschland für die Bundesregierung festgehalten worden war, dass ca. ein Drittel der Psychotherapien mit Erwachsenen durch SozialpädagogInnen bzw. SozialarbeiterInnen durchgeführt wurden (in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie waren beinahe 90 Prozent der »PsychagogInnen« aus dieser Berufsgruppe). Als fatal für die Zusammenführung der beiden professionellen Stränge erweist sich die Tatsache, dass nach dem Psychotherapeutengesetz Tätigkeiten, »die die Aufarbeitung und Überwindung sozialer Konflikte oder sonstige Zwecke außerhalb der Heilkunde zum Gegenstand haben« (PsychThG, § 1 Abs. 3; Deutscher Bundestag, 1998), nicht zur Ausübung von heilkundlicher Psychotherapie gehören. Das Verhältnis zwischen Psychotherapie und Sozialarbeit in Deutschland ist von diesem Sachverhalt stark geprägt (vgl. zu diesem Diskurs u. a. Heekerens, 2016; Enders & Heekerens, 1994; Johach, 1993; Galuske & Müller, 2005; Gildemeister & Robert, 2005; Müller, 1995; Dörr, 2002; Eyferth & Neumann-Mehring, 1978; Pfannendörfer, 1991). Von sozialpädagogischer Seite werden dabei insbesondere die Abkehr von benachteiligten KlientInnengruppen, eine Verengung von komplexen soziopsychischen Problemdefinitionen und Hilfeformen sowie eine Vernachlässigung reflexiver Kritik in Bezug auf Machtverhältnisse befürchtet (vgl. zusammenfassend Müller, 1995). Bei genauerer Betrachtung finden sich jedoch viele Hinweise für gegenteilige Entwicklungen: Ohne die Präsenz der Sozialen Arbeit in therapeutischen Handlungsfeldern gäbe es eine beachtlich große KlientInnengruppe, die gar nicht oder nicht in der notwendigen Komplexität und methodischen Breite adäquat versorgt würde (vgl. u. a. Gahleitner, Borg-Laufs & Zurhorst, 2008; Köppel, 2005; Rauchfleisch, 1996/2004; Pauls, 2011/2013; Rutz & Pauls, 2017).
Will man es auf den Punkt bringen, könnte man sagen, Psychotherapie als »bewusster, geplanter, interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen … mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens« (Strotzka, 1975, S. 4) hat Symptomminimalisierung und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit zum Ziel. Soziale Arbeit befasst sich mit der »Bearbeitung gesellschaftlich und professionell als relevant angesehener Problemlagen« (Klüsche, 1999, S. 44) und verweist damit in Abgrenzung zu Medizin und Psychologie auf einen ethisch fundierten sozialpolitischen Auftrag. Gemeinsam ist diesen beiden Professionen eine »qualitative Differenz zu ›naturwüchsigem‹ sozialen Handeln« (Gildemeister & Robert, 2005, S. 1906). In der Sozialen Arbeit wird jedoch über das Erleben und Verhalten hinaus Verhalten in sozialen Verhältnissen adressiert (»person-in-environment«), soziale Integration und soziale Teilhabe sind das primäre Ziel. Eine (klinisch profilierte) Soziale Arbeit kann keinesfalls ausschließlich »objektive Problemverstrickungen« (ebd., S. 1904) bearbeiten, um die im Verlauf der Biografie internalisierten Folgen sozialer Probleme zu lösen (vgl. insbesondere Sommerfeld, Dällenbach, Rüegger & Hollenstein, 2016).
Im Abgrenzungsdiskurs der Sozialen Arbeit von psychotherapeutisch geprägten Konzepten und Kompetenzen (Galuske, 1998) ist allerdings nicht selten verloren gegangen, dass auch in der Psychologie, insbesondere der Gemeindepsychologie (vgl. u. a. Keupp, 1987, 1991; Kardorff, 1985) und Sozialpsychiatrie (Dörner & Plog, 1978), ein wesentlich umfassenderes Verständnis von Psychotherapie als Gesundheitsarbeit unter Einbezug des sozialen Kontextes existiert, das der Sozialen Arbeit in klinischen Handlungsfeldern sehr nahe steht (Pauls, 2011/2013). Hey (2000) kommentiert: »Psychotherapeutische Methoden basieren … auf systematisierten Formen personaler Interaktion bzw. Kommunikation, die sich hinsichtlich ihrer Grundkonzeptionen nicht für irgendeine Berufsgruppe monopolisieren lassen« (S. 186).2 In den USA wurde eine Reihe zielgruppen- und arbeitsfeldspezifischer Ansätze aus sozialarbeiterischer Sicht unter Einbezug psychotherapeutischer Schulen erarbeitet (vgl. u. a. Dorfman, 1996; Turner, 1997). »Case Work« als einzelfallbezogene Beratung, Begleitung und Unterstützung in prekären Lebenslagen wurde ursprünglich aus der Psychoanalyse heraus entwickelt (Dörr, 2002, 2005; Neuffer, 1990).
Auch Dorfman (1996) stellte sich diesem Spannungsverhältnis ausdrücklich und prägte in den USA den Begriff der »psychotherapy plus« (S. 41). Dieses »plus« ist definiert durch die Vielzahl von Aufgaben der SozialarbeiterInnen, die – im Unterschied zu anderen Professionen – vermitteln, unterstützen, Ressourcen erschließen, erziehen, koordinieren, beraten und den Beratungs-/Behandlungsprozess erforschen und auswerten. Damit schloss sie an die Tradition »sozialer Diagnose« und »sozialer Therapie« der Pionierinnen Richmonds (1917, 1922) und Salomons (1926/2002) an. Eine Vielzahl von Beratungsstellen fußt auf und arbeitet aus dieser Perspektive mit psychotherapeutisch geprägten Ansätzen, Methoden und Techniken, die inzwischen auch in Deutschland für eine Reihe von Arbeitsfeldern und Zielgruppen der Sozialen Arbeit ausdifferenziert wurden (vgl. u. a. Pauls, Stockmann & Reicherts, 2014; Pauls, 2011/2013; Schaub, 2008; Schwendter, 2000; Herausgabebände »Klinische Sozialarbeit« von Dörr, 2002; Gahleitner & Hahn, 2008; Ortmann & Röh, 2008; Zeitschrift »Klinische Sozialarbeit – Zeitschrift für psychosoziale Praxis und Forschung« 2005 ff.). Professionelle Beziehungsarbeit, Gesprächsführung, Beratung, Soziotherapie und Krisenintervention sind ohne diese Wissensbestände gar nicht denkbar. Aus dieser Perspektive kann von der Psychotherapie sogar als »Spezialfall sozialer Beratung« (Crefeld, 2002, S. 32) gesprochen werden, bzw. klinisch orientierte Sozialarbeit könnte aus dieser Perspektive mit ihrer gelungenen Interdependenz von Psychodynamik und Soziodynamik (Schulze, 2006) als Dach für soziale Beratung und Therapie dienen (Crefeld, 2002; Dörr, 2002; Kling-Kirchner, 2000).